Veränderung

Wie die Angst vor Verlust dazu führt, dass wir alles verlieren

Als das erste Flugzeug in den Nordturm des World Trade Centers stürzte, befand sich Marissa Panigrosso im neunundzwanzigsten Stock des Südturms und unterhielt sich mit zwei Kolleginnen. Sie hörte die Explosion nicht nur, sie spürte sie auch. Als würde eine Ofenklappe geöffnet, schlug ihr ein Schwall heißer Luft ins Gesicht. Eine Woge der Angst raste durchs Büro. Marissa Panigrosso nahm sich nicht einmal die Zeit, den Computer auszuschalten oder ihre Handtasche zu holen. Sie lief zum nächsten Notausgang und verließ das Gebäude.

Die zwei Frauen, mit denen sie sich unterhielt – auch die Kollegin, mit der sie ihren Arbeitsplatz teilte – rührten sich nicht vom Fleck. »Ich weiß noch, dass ich nach draußen lief, aber sie kamen mir einfach nicht nach«, erklärte Marissa später in einem Interview des American National Public Radio. »Ich sah meine Kollegin telefonieren. Und die andere Frau – genau das Gleiche. Sie saß mir schräg gegenüber, redete in den Apparat und wollte nicht gehen.«

Tatsächlich haben viele Menschen in Marissa Panigrossos Büro den Feueralarm ignoriert, auch das, was sie knapp vierzig Meter entfernt im Nordturm sahen. Einige eilten zu einem Meeting. Eine Freundin von Marissa, eine Frau namens Tamitha Freeman, kehrte um, nachdem sie bereits mehrere Stockwerke nach unten gelaufen war. »Tamitha rief: ›Ich kann nicht ohne die Bilder von meinem Baby gehen‹; sie hat es nicht mehr nach draußen geschafft.« Die beiden Frauen, die blieben und telefonierten, und die Leute, die zu einem Meeting eilten, sie alle verloren ihr Leben.

In Marissa Panigrossos Büro, aber auch in vielen anderen Büros im World Trade Center, gerieten die Leute nicht in Panik und stürzten auch nicht nach draußen. »Ich fand das ziemlich seltsam«, erzählte Marissa. »Ich fragte meine Freundin: ›Warum bleiben die denn alle?‹«

Was Marissa seltsam fand, ist eigentlich die Regel. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Menschen keineswegs sofort reagieren, wenn ein Feueralarm ausgelöst wird. Sie unterhalten sich weiter und versuchen herauszufinden, was eigentlich los ist. Sie bleiben.

Das dürfte jeder kennen, der schon einmal an einem Probealarm teilgenommen hat. Statt das Gebäude zu verlassen, warten wir ab. Wir warten auf weitere Hinweise – auf Rauchgeruch oder auf einen Rat von einer Person, der wir vertrauen. Allerdings gibt es auch Anzeichen dafür, dass wir uns trotz zusätzlicher Informationen nicht von der Stelle rühren. 1985 starben sechsundfünfzig Menschen, als ein Feuer auf der Zuschauertribüne des Valley Parade Fußballstadions in Bradford ausbrach. Die genaue Analyse der Fernsehbilder ergab später, dass die Fans nicht sofort reagierten und weiter dem Spiel, aber auch dem Feuer zusahen, statt zu den Ausgängen zu laufen. Und immer wieder haben Untersuchungen ergeben, dass wir alten Gewohnheiten folgen, wenn wir uns endlich rühren. Wir misstrauen Notausgängen. Fast immer versuchen wir, den Raum durch dieselbe Tür zu verlassen, durch die wir ihn betreten haben. Forensische Ermittlungen nach einem Brand im berühmten Beverly Hills Supper Club ergaben, dass viele Gäste vorm Verlassen des Restaurants noch bezahlen wollten und in der Warteschlange gestorben sind.

Nach fünfundzwanzig Jahren als Psychoanalytiker kann ich nicht behaupten, dass mich das überrascht. Wir sperren uns gegen Veränderung. Eine kleine Veränderung, selbst eine, die fraglos in unserem besten Interesse wäre, finden wir beängstigender, als eine gefährliche Situation zu ignorieren.

Mit Nachdruck klammern wir uns an unsere Sicht der Dinge, an das Bekannte. Wir wollen wissen, auf welche neue Geschichte wir uns einlassen, ehe wir die alte beenden. Und wir nehmen keinen Ausgang, wenn wir nicht wissen, wohin er führt, auch dann nicht – dann vielleicht erst recht nicht –, wenn es sich um einen Notfall handelt. Dies gilt, setze ich eilends hinzu, gleichermaßen für Patienten wie für Analytiker.

Seit ich Marissa Panigrossos Geschichte gehört habe, muss ich oft an sie denken. Ich male mir aus, in ihrem Büro zu sein, sehe den Computerbildschirm, die hohen Fenster und nehme die morgendlichen Gerüche wahr, Parfüm und Kaffee, und dann – der erste Absturz. Ich sehe Marissa zum Ausgang laufen, ihre Kolleginnen aber bleiben. Tamitha Freeman geht, kehrt jedoch ein paar Minuten später zurück, um die Babybilder zu holen. Und ich sehe mich selbst – im Südturm – und frage mich, was hätte ich getan?

Ich möchte glauben, dass ich mit Marissa Panigrosso gegangen wäre, bin mir aber nicht so sicher. Vielleicht hätte ich gedacht: »Das Schlimmste ist vorbei.« Oder ich hätte mir vorgestellt, wie lächerlich es sein würde, wenn ich am nächsten Tag zurückkäme und alle hätten weitergearbeitet. Vielleicht hätte auch irgendwer gesagt: »Hey, geh nicht. Das Flugzeug ist in den Nordturm gestürzt, da muss der Südturm doch jetzt der sicherste Ort in ganz New York sein« – und ich wäre geblieben.

Angesichts von Veränderung zögern wir, da jede Veränderung Verlust bedeutet. Wenn wir einen gewissen Verlust allerdings nicht akzeptieren – wie etwa Tamithas Babyfotos –, dann können wir alles verlieren.

Man denke an den vierunddreißigjährigen Mark A., der gerade eine Geschwulst an seinen Hoden entdeckt hat, aber erst nach dem Griechenlandurlaub zum Arzt gehen will. Statt also den Termin wahrzunehmen, den ihm seine Frau besorgt hat, macht er ein paar Erledigungen und kauft Sonnenschutzcreme und bei Baby-Gap ein paar T-Shirts für die Kinder. »Das wird schon nichts Schlimmes sein«, sagt er. »Ich kümmere mich drum, sobald ich zurückkomme.« Oder da ist die sechsunddreißigjährige Juliet B., seit sieben Jahren mit einem Mann verlobt, der regelmäßig Affären hat, zu Prostituierten geht und sich gegenüber Klienten und Kollegen wie ein »Tyrann« aufführt. »Ich kann ihn nicht verlassen«, sagt sie. »Wo sollte ich denn hin? Was sollte ich tun?«

Für Mark A. und Juliet B. ertönt die Feuersirene. Beide haben Probleme mit ihrer Situation, beide wollen Veränderung, warum säßen sie sonst beim Psychoanalytiker? Aber sie bleiben und warten – nur worauf?

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
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