Wenn man seine Brieftasche verliert

Daniel K. begann vor kurzem seine Analysestunde mit folgender Geschichte:

Als er am Nachmittag zuvor daheim gewesen war, hatte sein Büroleiter angerufen, um gute Neuigkeiten mitzuteilen – mit seinem Entwurf für ein Museum in Chengdu, China, hatte Daniel eine größere Ausschreibung gewonnen. Er war in der engeren Auswahl der jüngste und unbekannteste Architekt gewesen, weshalb er nicht mit einem Erfolg gerechnet hatte. »Wir werden eine Menge Spaß haben und viel Geld verdienen«, sagte sein Büroleiter. Daniel war begeistert – er spürte, dies war der Durchbruch für seine kleine Firma, auf den er so lange gewartet hatte –, und gleich machte er mit seiner Frau aus, dass sie in einem Restaurant in West End feiern wollten.

Er beschloss, die U-Bahn zu nehmen. »Nachdem ich mich gesetzt hatte, holte ich meine Brieftasche heraus und steckte die Fahrkarte ein. Dann – und das verstehe ich einfach nicht – legte ich die Brieftasche auf den Platz neben mir. Ich dachte noch: ›Ist nicht gerade klug, sie dahin zu legen. Du wirst sie sicher vergessen.‹ An der ersten Haltestelle merkte ich dann, dass ich im falschen Zug saß, und hastete hinaus. Als die Türen zugingen, fiel mir die Brieftasche wieder ein. Aber es war zu spät – ich hatte sie auf dem Sitz liegenlassen. Ich rannte zu einem Bahnangestellten, und er rief in der nächsten Station an, aber meine Brieftasche war verschwunden. Ich fühlte mich grauenhaft – wirklich grauenhaft.«

Daniel schwieg einen Moment. »Ich ließ meine Kreditkarten sperren, eilte zum Restaurant, kam zu spät, und natürlich musste meine Frau zahlen. Der Verlust der Brieftasche hatte mir gründlich die Laune verdorben – ich fühlte mich entsetzlich. Und ich war auch noch selbst schuld – nur warum hatte ich es getan?«

Er fuhr fort. »Als wir das Restaurant verließen, erhielt ich eine SMS: ›Hab Ihre Brieftasche. Rufen Sie mich an, damit ich sie Ihnen zurückgeben kann.‹ Man sollte doch meinen, jetzt wäre ich erleichtert gewesen, oder? Die Brieftasche war gefunden worden, alles war wieder in Ordnung. Bloß fühlte ich mich kein bisschen erleichtert. Ich glaube, ich habe mich sogar noch schlechter als vorher gefühlt. Ich war völlig fertig und dachte, die Freude über den Gewinn der Ausschreibung habe ich mir gründlich verdorben.

Vor dem Restaurant tat ich dann wieder etwas Verrücktes. Kaum hatte ich die SMS gelesen, ertappte ich mich dabei, wie ich in all meinen Taschen nachsah, ob ich die Brieftasche nicht doch finden konnte. Ich wusste, dass jemand anderes sie hatte, trotzdem konnte ich nicht aufhören, danach zu suchen.«

Während ich Daniel zuhörte, fiel mir auf – Sie haben es sicher auch bemerkt –, wie für ihn Verlust auf Verlust folgt. Er verliert die Brieftasche, doch erst, nachdem er den richtigen Weg verloren hat (er war in den falschen Zug eingestiegen). Er verliert den gesunden Menschenverstand (legt die Brieftasche auf den Sitz, statt sie einzustecken). Er verliert den Abend (die Gelegenheit, mit seiner Frau zu feiern), und als die Brieftasche wiedergefunden wird, vergisst er es (verliert das Wissen darum) und ertappt sich dabei, in allen Taschen danach zu suchen. Sein größter Verlust allerdings war emotionaler Natur – im Verlauf des Tages verliert er das Glücksgefühl, das seinen Erfolg eigentlich begleiten sollte. In wenigen Stunden wurde aus dem Gewinner jemand, der sich als Verlierer fühlte.

»Der Erfolg hat schon viele Menschen ruiniert«, soll Benjamin Franklin einmal gesagt haben. Da ist was Wahres dran, nur vergaß er zu erwähnen, dass wir meist selbst an diesem Ruin schuld sind.

In dem amerikanischen Romancier William Styron hatte dieses Problem geradezu Gestalt angenommen. Er beschreibt in seinen Memoiren Darkness Visible, wie er aus New York nach Paris kam, um den angesehenen Prix mondial Cino Del Duca entgegenzunehmen, einen jährlich an herausragende Wissenschaftler oder Künstler verliehenen Preis. Vier Monate vor der Preisverleihung begann es, mit Styron bergab zu gehen, seit dem Tag nämlich, an dem man ihm mitgeteilt hatte, dass ihm der Preis zugesprochen worden war. »Hätte ich meine geistige Verfassung damals vorhersehen können, hätte ich den Preis überhaupt nicht angenommen«, schrieb er. Sein Tag des Triumphes wurde zu einem Albtraum – »Trübsinn ergriff mich, ein Gefühl der Angst und Entfremdung, vor allem aber eine lähmende Furcht«.

Styron kam zwar zur Preisverleihung, ließ dann aber Madame Del Duca, seine Gönnerin, unvermittelt wissen, er habe beschlossen, das ihm zu Ehren geplante Bankett – ein Teil der Festivitäten, der seit Monaten feststand – ausfallen zu lassen, weil er sich mit einem Freund treffen wollte. Verblüfft von ihrer Reaktion und entsetzt über sein eigenes Verhalten, entschuldigte er sich bei Madames Assistentin. »Ich bin krank«, sagte er, »ich habe ein problème psychiatrique.« Letztlich blieb Styron dann doch zum Bankett, nur um während des Festessens festzustellen, dass er sowohl den Scheck über die fünfundzwanzigtausend Dollar Preisgeld wie auch sein emotionales Gleichgewicht verloren hatte. Von innerer Pein geplagt, vermochte er weder zu sprechen noch etwas zu sich zu nehmen; sein Erfolg trieb ihn an den Rand des Selbstmordes.

Psychoanalytikern ist Styrons Problem nicht unbekannt: Es gibt viele Männer und Frauen, die hart arbeiten, um ein Ziel zu erreichen und erfolgreich zu sein, um dann urplötzlich und auf katastrophale Weise zusammenzubrechen. Nur was sind das für unbewusste Kräfte, die bewirken, dass wir uns selbst – manchmal auf fast unmerkliche Weise – sabotieren, sobald wir einen Erfolg errungen haben?

Vorab sei gesagt, dass wir zu scheitern drohen, wenn wir nicht begreifen, dass jeder Gewinn auch einen Verlust bedeutet.

Vor drei Jahren hatte ich einen Patienten namens Adam R., einen Lehrer, der sich über die Maßen freute und gleich darauf gefährlich depressiv reagierte, als man ihn zum Direktor einer bekannten Schule ernannte – eine Stelle, die er sich schon immer gewünscht hatte, die es aber mit sich brachte, dass er in eine andere Stadt ziehen musste. Bei unserer ersten Begegnung erzählte er mir von seiner Vergangenheit – ähnlich bedrückt hatte er sich nach dem Kauf der ersten Wohnung und nach seiner Hochzeit gefühlt. »Ich will ja Direktor werden«, sagte er, »aber ich habe nie daran gedacht, wie schwer mir der Umzug fällt. Mein ganzes Leben habe ich hier verbracht.« Wie so viele von uns hat es Adam völlig überrascht, welchen Verlust ein Gewinn manchmal nach sich zieht.

Durch unsere gemeinsame Arbeit fanden Adam und ich heraus, dass ihn nicht allein der Umzug deprimierte. Unbewusst war er davon überzeugt, dass er mit jeder Leistung dem Vater etwas wegnahm. »Es gefällt mir nicht, gerade dann Direktor zu werden, wenn mein Vater in den Ruhestand geht«, sagte Adam. Ich wies ihn darauf hin, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hatte. »Weiß ich ja«, erwiderte er, »aber ich finde es trotzdem irgendwie aggressiv. Zum ersten Mal in meinem Leben verdiene ich mehr als mein Vater.«

In Daniels Fall galt seine, wie auch meine, erste Vermutung spontan dem Verdacht, dass der Verlust der Brieftasche auf einen ähnlichen Hang verwies, den eigenen Erfolg zunichtemachen zu wollen. Außerdem sorgte er sich ebenfalls darum, welche Auswirkungen sein Erfolg auf andere Menschen haben mochte. »Mir wurde ganz flau im Magen, als der Büroleiter sagte: ›Wir werden eine Menge Spaß haben und viel Geld verdienen.‹ Ich kam mir wie ein Hochstapler vor. Bin ich wirklich besser als die übrigen neun Architekten der engeren Auswahl? Das glaube ich nicht, und Sie werden es auch nicht glauben«, erzählte er.

Daniel fürchtete die Verachtung seiner Kollegen. Der verlustreiche Abend bot ihm vermutlich eine Möglichkeit, sich wieder als Außenseiter zu fühlen, so als wollte er den Kollegen sagen: »Ich habe keinen Spaß, und ich habe mein Geld verloren – kein Grund also, mich zu beneiden.« Er hatte nicht bloß einer von mehreren Mitbewerbern sein wollen, aber letztlich schien ihm das vertrauter und sicherer, als der Gewinner zu sein.

Nur warum hatte er noch nach seiner Brieftasche gesucht, als er bereits wusste, dass sie gefunden worden war?

Die Arbeit an dem Projekt, für das mein Patient die Ausschreibung gewonnen hatte, würde es natürlich erfordern, dass er viel Zeit in Chengdu verbrachte, doch hasste er es, nicht zu Hause zu wohnen. Die Woche, die er zu Gesprächen nach China geflogen war, sei grässlich gewesen, sagte er. Das Hotel fand er »düster und deprimierend«. Und während seines Aufenthalts dort stellte er fest, dass er nur schlafen konnte, wenn ein Licht brannte. Während er mir davon erzählte, sah ich vor meinem inneren Auge einen kleinen Jungen, der ein Nachtlicht anknipst, nicht, weil er dann besser zu seinen Eltern findet, sondern weil er fürchtet, sie könnten ihn im Dunkeln vergessen – ihn verlieren.

»›Die Höhlen von Krock‹«, sagte er plötzlich und meinte damit eine Geschichte von Dr. Seuss, vor der er sich als Kind gefürchtet hatte. Er zitierte eine Stelle: »Und du hast ja so ein riesen-, riesengroßes Glück, dass du keine Socke bist, die versehentlich in den Höhlen von Krock vergessen wurde! Dank dem Himmel für all das, was du nicht bist! Danke ihm dafür, dass du nicht was bist, das irgendwer vergessen hat.«

Konnte es sein, dass ihn diese kleine Geste – die Taschen nach einer Brieftasche abklopfen, von der er wusste, dass sie verschwunden war – von einem anderen, furchterregenderen Gedanken abgelenkt hatte, nämlich dass er kurz davor stand, sich selbst zu verlieren? Vielleicht war die Suche nach der Brieftasche seine Art, ihm diese bestimmte Befürchtung zu nehmen. Besser, man hat etwas verloren, als dass man etwas oder jemand ist, der vergessen wurde.

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
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