Über das Ende

Meine Unterlagen zeigen, dass ich Alice P. im Juni 1988 zu einem ersten Vorgespräch traf. Sie begann die Sitzung damit, dass sie sagte: »Seit Jahren habe ich mich nicht mehr gefühlt, als wäre ich noch ich selbst. Ich weiß nicht, wie ich da rauskommen soll.« Alice P. erzählte mir ein wenig über ihre Familie. Sie und ihr Mann wollten den beiden Töchtern einen guten Start ins Leben geben, und »die Mädchen« hatten sich gut gemacht – die jüngere Tochter würde dieses Jahr ihr Medizinstudium an der Universität Oxford abschließen. Gegen Ende des Vorgesprächs beugte Alice sich auf ihrem Stuhl vor. Sie sagte, neunzehn Jahre zuvor sei Jack, ihr drittes Kind, unerwartet gestorben. Er wurde drei Monate alt. »Es war an einem Freitag – am 27. Juni 1969 – gleich nach dem Abendessen. Ich hatte Jack gestillt und ihn zum Schlafen hingelegt. Als ich zurückkam, war er tot.«

Ich hörte zu, wie Alice einen Abschnitt aus dem Buch Über die Trauer von C. S. Lewis zusammenfasste, in dem der Autor die Angst beschreibt, nach und nach die Erinnerung an seine tote Frau zu verlieren: »Wie Schneeflocken, die auf ihr Andenken fallen, bis ihr wahres Bild darunter verborgen liegt«, formulierte es Lewis. »Nur ist es so nicht für mich«, fuhr Alice fort. »Ich erinnere mich sehr genau an Jack, an den Geruch seiner Haut, sein Lächeln, an alles.«

Einen Moment lang blieb sie absolut still und sagte dann: »Vor einigen Tagen war ich in der Küche und hörte Radio, als diese schreckliche Nachricht über die Kinder kam, die bei einem Schiffsunglück umgekommen sind. Und ich dachte »Jack wird wenigstens nicht ertrinken«. So etwas denke ich ständig: Jack ist sicher vor betrunkenen Fahrern. Jack wird niemals Krebs kriegen oder einen Herzinfarkt. Mein Baby ist sicher. Das ist verrückt. Ich sollte so etwas nicht denken.«

Vor sechs Monaten bat Edmund K. mich um ein Gespräch. Mit neunundzwanzig Jahren war Edmund bereits Direktor einer internationalen Hilfsorganisation. In den vergangenen fünf Jahren hatte er über dreißig Länder bereist und die Hilfsmaßnahmen in Afghanistan, Sudan und im Irak geleitet. Seit seinem neunzehnten Lebensjahr, in dem sein Vater Selbstmord beging, nahm er Antidepressiva. »Ich sollte diese Tabletten nicht nehmen müssen«, sagte er. »Aber jedes Mal, wenn ich sie absetze, werde ich wieder, wie ich mit neunzehn war – wütend auf meinen Dad, weil der sich umgebracht hat. Das ist so blöd. Ich hätte damit schon vor Jahren abgeschlossen haben sollen.«

Alice P. und Edmund K. trauern auf je eigene Weise. Beiden gemeinsam aber ist Folgendes: Sie leiden stärker, weil sie kein Ende finden können.

Sie leiden stärker, weil von ihnen erwartet wird, Fortschritte zu machen und bestimmte Trauerstadien zu durchlaufen. Und wenn sie das nicht schaffen, glauben sie, dass sie etwas falsch machen, vielmehr, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Sie leiden doppelt – erst an der Trauer, dann an der Tyrannei des Sollens: »Ich sollte so etwas nicht denken.« »Ich sollte nicht mehr so wütend sein.« »Ich hätte damit längst abgeschlossen haben sollen« und so weiter. Da bleibt nur wenig Raum für emotionales Erkunden oder Verstehen. So zu leben führt zu Selbsthass, Verzweiflung und Depression.

Die Vorstellung von einem Abschluss – ein Ende der Trauer zu finden – geht vermutlich auf die Arbeit von Elisabeth Kübler-Ross zurück. In den sechziger Jahren benannte sie fünf psychologische Stadien in der Erfahrung sterbenskranker Patienten, deren letzten sie »die Zustimmung« genannt hat. Vor etwa fünfundzwanzig Jahren begannen Kübler-Ross und viele Trauerberater mit Hilfe eben dieser fünf Stadien, die Erfahrung der Sterbenden, aber auch der Trauernden zu beschreiben.

Ich bin schon seit langem der Ansicht, dass Kübler-Ross sich irrte. Die »psychologischen Stadien« des Sterbens und Trauerns sind ganz andere. Für den Menschen, der stirbt, gibt es ein Ende, nicht aber für jenen, der trauert. Der Trauernde lebt weiter, und solange er lebt, besteht immer auch die Möglichkeit, dass er wieder Trauer empfindet.

Jeder von uns trauert auf eigene Weise, doch lassen der anfängliche Schock und die vom Tod ausgelöste Angst mit der Zeit meist nach. Durch Trauerarbeit fühlen wir uns allmählich besser, auch wenn ein Rest Kummer bleibt. Feiertage und Jahrestage sind da bekanntlich besonders heikel. Trauer kann nachlassen, um dann ohne Vorwarnung wiederzukehren. Der Verlust eines Kindes, der Verlust durch einen Selbstmord – diese, aber auch andere Verluste können anhaltenden Kummer verursachen; und sie tun dies auch.

Dennoch neigt die Branche der Trauerberater dazu, ein Ende der Trauer zu versprechen. »Trauerliteratur« – ein florierendes Sub-Genre der »Genesungsliteratur« – offerierte in letzter Zeit folgende Titel: Wenn die Trauer kommt: Hilfreiche Familienmitglieder lösen Probleme um Tod, Sterben und Verlust; Die Stufen der Trauer: die Stufen des Umlernens, Umorientierens und der inneren Erneuerung nach einem Sterbefall sowie Das Trauerhandbuch. Letzteres wird bei Amazon mit folgenden Worten empfohlen: »Ein Begleiter für den Trauerfall; dies ist der beste Text für alle meine Teilnehmer. Einfach wunderbar!« heißt es in einem Kommentar, und dann: »Ein Buch für jeden Trauerfall!« Man ahnt, worauf es hinausläuft: Die Trauer ist etwas, das sich richten lässt. Man kann sich davon erholen. Ein Ende, ein Abschluss ist möglich.

Meiner Erfahrung nach ist solch ein Abschluss eine außergewöhnlich beharrliche Trauerphantasie. Laut dieser Fiktion können wir lieben, verlieren, leiden und dann irgendwas tun, um unsere Trauer auf immer zu beenden. Wir wollen glauben, dass ein solcher Abschluss möglich ist, da die Trauer uns – selbst Jahre nach dem Verlust – ziemlich überraschen und durcheinanderbringen kann.

Am Freitag, dem 15. November 2008, fegte ein Buschfeuer über die Hügel und durch die Canyons von Montecito in Kalifornien, verletzte mehr als zwei Dutzend Menschen und zerstörte zweihundertzehn Häuser. Eines dieser Häuser gehörte meiner Schwester. Sie und ihr Mann blieben unverletzt, doch bis auf die Kleider auf dem Leib hatten sie alles verloren.

Als wir einen Monat nach dem Feuer miteinander telefonierten, erzählte meine Schwester, wie die Betroffenen zusammenhielten – so etwa boten Restaurants freie Mahlzeiten für jene an, die ihr Hab und Gut durch das Feuer verloren hatten. Sie beschrieb, wie man Bundeshilfe beantragen konnte, beschrieb, welche Kredite zur Verfügung gestellt wurden und wie sehr ihr ein Regierungsbeamter beim Ausfüllen der Formulare geholfen hatte.

Ich sagte meiner Schwester, wie sehr ich ihren Pragmatismus bewunderte, ihre Fähigkeit, sich zusammenzureißen und die Probleme anzugehen.

Da gestand sie mir, dass sie bei einer Spiritistin gewesen sei, was mich überraschte. Mehr noch aber überraschte mich meine eigene Reaktion. Als sie nämlich erzählte, sie hätte mit unserer Mutter geredet – die vor über zwanzig Jahren starb –, hörte ich mich mit tränenvoller Stimme fragen: »Und was hat Mom gesagt?«

Nachdem wir unser Gespräch beendet hatten, kam mir der Gedanke, dass wir uns an Spiritisten wenden, wenn wir unsere Toten brauchen und die Endgültigkeit des Todes nicht akzeptieren können. Wir wollen glauben, dass ein Spiritist unsere Toten zurück in die Welt der Lebenden holen kann. Und ein völliges Ende der Trauer ist ebenso illusorisch – es ist die falsche Hoffnung, wir könnten unsere lebendige Trauer abtöten.

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
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