Über Hass

Jessica B. begann ihre Montagmorgensitzung, indem sie mir vom Wochenende erzählte. Sie hatte die vierjährige Tochter bei ihren Eltern abgegeben und war mit Paul, ihrem Mann, nach Cambridge gefahren, um sich für ein Bauprojekt zu bewerben. Paul hatte vorgeschlagen, über Nacht zu bleiben, und ihr Klient, ein University College, hatte ihnen ein Zimmer in einem historischen Gebäude gebucht: »Mittelalterlich, Fachwerk, dazu dieser phantastische Kamin«, erzählte Jessica. »Es war urgemütlich.«

Die Bewerbung war erfolgreich, und Paul wollte feiern. Er bestellte ein romantisches Dinner und zündete ein Feuer an. Jessica nahm ein Bad, und als sie ins Zimmer zurückkam, trug Paul den Kaschmirpullover, den sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. »Er sah so niedlich aus. Wir aßen zu Abend und kuschelten vor dem Kamin. Ich wusste, Paul wollte Sex, aber mir war einfach nicht danach. Ich habe mir gewünscht, mir wäre nach Sex, aber so war es eben nicht. Und er hat sich nicht geärgert – er ist wirklich ein ganz Süßer.«

Irgendwas an dem Wort »Süßer« störte mich. »Hören Sie, welche Wörter Sie benutzen?«, fragte ich. »›Niedlich‹, ›kuscheln‹, ›Süßer‹ – so beschreibt man ein Kind, aber doch keinen Mann, der Sex will.«

»Ich nenne Paul nun mal meinen ›Süßen‹ – soll ich mir einen anderen Kosenamen für ihn aussuchen?«

Nein, erwiderte ich, sie solle durchaus ihre eigenen Wörter benutzen, nur fand ich, ihre Wortwahl deutete an, dass sie Paul entsexualisiere.

Mag sein, antwortete sie. Letzte Woche hatte sie auf dem Parkplatz vom Supermarkt einen Mann gesehen, in den sie während ihrer Studienzeit verknallt gewesen war. Sie gingen nie zusammen aus, und Jessica kannte ihn nicht mal besonders gut, aber da stand er und half zwei kleinen Kindern aus dem Wagen. Er war großgewachsen, hatte eine athletische Figur, und als Jessica ihn mit den Kindern sah, fand sie ihn sogar attraktiver als früher. Seit diesem Augenblick auf dem Parkplatz malte sie sich aus, wie es wäre, mit ihm eine Affäre zu haben. Sie verstummte.

Sie hatte mir früher bereits erzählt, dass Paul regelmäßig in den Fitnessclub ging und sehr auf seine Figur achtete – sie hielt ihn für ziemlich attraktiv, auch wenn sie selbst sich nicht zu ihm hingezogen fühlte. Ich sagte: »Ich versuche zu verstehen, wieso Paul niedlich ist, ein Süßer – und der Mann auf dem Parkplatz ist ›groß und athletisch‹.«

Sie konnte es nicht erklären. Jessica erinnerte sich daran, Paul vor einigen Wochen vom Flughafen Heathrow abgeholt zu haben. Er war zwei Tage auf einer Baustelle gewesen, und sie hatte ihn vermisst. Im Taxi nach Hause zog sie ihn an sich, um ihn zu küssen, aber als er ihren Kuss erwiderte, hörte sie sich Paul sagen, dass er sich anschnallen sollte. »So bin ich«, sagte Jessica. »Ich habe dichtgemacht.«

Sie erinnerte sich an ihren ersten gemeinsamen Abend. Eine Taxifahrt von einem Restaurant in West-End zu Pauls Wohnung – »Wir konnten gar nicht aufhören, uns zu befummeln.« Mit ihm auszugehen, machte sie aber auch nervös, in gewisser Hinsicht war es die sorgenvollste Zeit ihres Lebens. Es gab Tage, da war sie davon überzeugt, dass Paul eine Frau suchte, die viel sexier und erfolgreicher war als sie. Wartete er nur darauf, dass eine Bessere auftauchte? Sie hatte diese Unsicherheit gehasst.

Beim Zuhören dachte ich an unsere erste Begegnung. Jessica war mehrere Monate zuvor von ihrem Hausarzt an mich überwiesen worden. Er teilte mir mit, dass es sie offenbar überfordere, die Arbeit, ihre Familie und die Pflege der Eltern unter einen Hut zu bringen. Während dieses ersten Treffens hatte Jessica gesagt, sie verstünde nicht, warum ihre Ehe so kalt geworden sei; sie hatte kaum noch Sex mit Paul.

Ihr Problem war nicht ungewöhnlich; Psychoanalytiker diskutieren seit hundert Jahren darüber. Nach Angstgefühlen nannte Freud es an zweiter Stelle als mögliche Ursache für das Leid seiner Patienten. »Wo sie lieben, begehren sie nicht, und wo sie begehren, können sie nicht lieben«, schrieb er. Für dieses Dilemma gibt es viele Gründe und ebenso viele Lösungen. Jessica verhielt sich wie die Patienten, die Freud beschrieb, nur wusste ich nach drei Monaten Analyse immer noch nicht, warum. Der Versuch, mit ihr darüber zu reden, schien nicht zu fruchten. Ich fand, wir kamen nicht weiter.

Da ich mich sträubte, meine Gedanken zu wiederholen und Bekanntes erneut durchzukauen, schwieg ich, bis sie am Ende der Sitzung nach ihrem Mantel griff und ging.

Es war ungewöhnlich, dass Jessica am nächsten Tag nicht zu ihrer Stunde kam. Sie hinterließ auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht, der zufolge sie die ganze Woche nicht kommen konnte; beim nächsten Treffen wollte sie die Gründe erklären.

Am folgenden Montag kam sie zu spät. Der Auftrag in Cambridge war doch noch geplatzt. Sie sagte, sie sei die ganze Woche so beschäftigt gewesen, dass sie keine Zeit gefunden hätte, darüber nachzudenken oder zu den Sitzungen zu kommen. Sie hatte mit dem Auftrag auch finanziell fest gerechnet. Für die Firma war es ein großes Projekt. Sie hielt ihre Entwürfe für die besten. »Ich war einfach so deprimiert«, erklärte sie.

»Wieso haben Sie mich nicht angerufen, wenn Sie so deprimiert waren?«

»Ich habe ja nicht gewusst, dass ich Ihnen fehle«, sagte sie und lachte. »Haben Ihre anderen Patienten Ihnen nicht genügend Probleme mitgebracht?«

Während ich ihr zuhörte, kam mir der Gedanke, dass sie den Eindruck erwecken wollte, sie sei die fleißige Mutter und ich wie ihr Gatte ein weiteres, forderndes Kind. Ich sagte ihr das und erinnerte sie daran, was sie mir einmal mit offensichtlichem Stolz erzählt hatte, dass sich nämlich über die Jahre ihr Gewicht kaum verändert habe; sie habe ihren Appetit im Griff. Sie gestand mir auch, dass sie sich ein bisschen überlegen fühlte, wenn sie nicht aß, vor allem dann, wenn die anderen richtig zulangten.

»So bin ich nun mal«, antwortete sie. »Wollen Sie, dass ich wie die meisten Menschen aus lauter Frust anfange zu essen?«

Ich sagte, ich erzähle ihr das im Hinblick auf unser Gespräch über Sex in der Woche zuvor, da ich mich fragte, ob es ihr half, sich auch ein bisschen überlegen zu fühlen, wenn sie ihren sexuellen Hunger ignorierte.

Meine Frage verärgerte Jessica. Sie ging, ohne sich zu verabschieden.

Am nächsten Tag kehrte sie zurück und erklärte, an dem, was ich gesagt hatte, möge ja etwas dran sein, nur erkläre es nicht, warum sie und Paul keinen Sex mehr hätten.

Ich fragte sie, was geschehen war – ob etwas Bestimmtes vorgefallen sei, das sie und Paul auseinandergebracht hatte.

Es hinge mit der Geburt ihrer Tochter Phoebe zusammen, erklärte sie. »Ich denke, das ist ganz natürlich. Ich litt an Schlafmangel, mir quoll die Milch aus der Brust, und ich fürchtete, verrückt zu werden, wenn ich auch nur noch eine Nacht nicht schlafen konnte. Sex war da das Letzte, was ich wollte.«

Sie erinnerte sich an eine bestimmte Nacht. Phoebe aß noch nichts Festes; sie musste so um die sechs Monate alt gewesen sein. Die Kleine wurde noch gestillt. Jessica versuchte, Phoebe an einen Rhythmus zu gewöhnen, damit sie die Nacht durchschlief. Sie gab ihr abends um zehn Milch und legte sie dann hin. Gegen Mitternacht begann Phoebe zu weinen. Jessica nahm an, sie müsse nur wieder in den Schlaf gewiegt werden. Paul gab sich lange Mühe, aber Phoebe wollte sich nicht wieder beruhigen. Er war davon überzeugt, dass sie mehr Milch brauchte.

Jessica und Paul bekamen sich fürchterlich in die Haare. Sie meinte, er würde ihre Bemühungen, Phoebe an einen Rhythmus zu gewöhnen, unterlaufen, würde sie nicht genügend unterstützen. Er sagte, wenn sie Phoebe nicht anlegte, wollte er abgepumpte Milch aus dem Gefrierfach holen und sie selbst füttern, was er dann auch tat. Wie sich zeigte, hatte er recht gehabt – aus irgendeinem Grund war Phoebe noch hungrig gewesen. »Ich dachte, sie würde sich wieder einkriegen, könne sich selbst beruhigen.«

Es kam noch schlimmer. Phoebe sank in tiefen Schlaf, sie gingen erneut zu Bett, und Jessica begann zu weinen. Sie wartete darauf, dass Paul sie in die Arme nahm, stattdessen drehte er ihr den Rücken zu. »Ich habe ihn gefragt, warum er mich nicht tröstet, und er hat gesagt: ›Ich finde, du solltest dich selbst beruhigen.‹ Die ganze Nacht war ich wach und auf beide wütend, auf Phoebe und auf Paul. Ich habe sie gehasst.«

Jessica seufzte. Sie erzählte, ehe sie schwanger wurde, hatte sie sich vorgestellt, sie würde stets wissen, was zu tun war. Sie hatte geglaubt, dass sie eine gute Mum sein würde, jedenfalls besser als ihre eigene Mutter, besser als die meisten ihrer Freundinnen – und dass ein Baby ihre Beziehung mit Paul festigen würde.

»Sie haben gehofft, ein Baby würde das Unglück Ihrer eigenen Kindheit aufwiegen«, sagte ich.

»Ich dachte, ich würde mit meinem Baby eine Liebe erleben, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte«, sagte sie. »Eine gemeinsame Wärme, ein Verstehen«, erwiderte sie. »Und das habe ich auch – nur habe ich nicht gewusst, dass mich ein winziges Baby so wütend machen kann.«

Jessica konnte regelrecht ausrasten, wenn Phoebe nicht schlafen wollte, oder auch einmal, als ihre Tochter im Sandkasten ein anderes Baby gebissen hatte. Phoebes Schreien fand sie besonders schlimm – »Sie hat geschrien, und jedes Mal, wenn sie schrie, war das, als wollte sie mir sagen, was ich für eine schreckliche Mutter bin. Ich habe nichts getan, habe sie nicht geschnappt und geschüttelt oder so, aber ich habe gespürt, dass ich dazu fähig wäre.« Jessica rutschte auf dem Sofa umher. »Bis mein Baby kam«, sagte sie, »habe ich mich eigentlich für einen netten Menschen gehalten.«

Manchmal, wenn sie sich schlecht fühlte, wollte sie, dass Paul ihr beistand, ihr versicherte, dass sie eine gute Mutter war. Wenn Pauls Ansichten sich aber von ihren unterschieden, konnte sie das nicht ertragen. Das fühlte sich an, als würde er sie ebenfalls kritisieren. Und im Rückblick fiel ihr auf, dass sie ihre liebevollen Gefühle für Phoebe stets rasch zurückgewonnen hatte, nicht aber die für Paul.

Ich sagte, vielleicht benutze sie Paul. Wenn Paul das Problem war, konnte sie sich weiterhin für eine gute Mutter halten und Phoebe für ein gutes Baby.

Unvermittelt setzte Jessica sich auf. Ihr war noch etwas eingefallen. Einmal hatte sie in der Küche mit einer Freundin Tee getrunken, als Paul dazu kam und sich einen Stuhl an den Tisch zog. Phoebe, die auf ihrem Schoß saß, langte nach Jessicas Tasse und warf sie auf den Boden. Sie ging kaputt. »Und ich habe Paul angeschrien und ihn einen Idioten genannt. Meine Freundin musste laut lachen. Ich war fest davon überzeugt, dass Phoebe meine Lieblingstasse zerschlagen hat, weil Paul sich zu uns an den Tisch setzte.«

»Ihr erster Impuls war es also, Paul Vorwürfe zu machen, ihn zu hassen – damit Sie Phoebe nicht hassen mussten. Es dürfte Ihnen schwerfallen, Paul zu begehren, wenn Sie es so nützlich finden, ihn zu hassen.«

Jessica barg ihr Gesicht in den Händen und gab einen Laut von sich, den ich erst nicht einzuordnen wusste. Ich hatte sie noch nie weinen hören.

Als Jessica am Ende der Stunde aufstand, um zu gehen, fiel mir wieder ein, mit welcher Ungeduld ich auf das Wort mein »Süßer« reagiert hatte. »Süßer«, damit war keine Intimität, keine Liebe gemeint, sondern mit Zucker glacierter Hass.

Bleibt nur noch eines hinzuzufügen. Einige Wochen später sah Jessica, wie Paul mit seiner Assistentin, einer klugen, hübschen Praktikantin, im Konferenzzimmer eine Kundenpräsentation vorbereitete. Bislang waren Jessica die beiden noch nie aufgefallen, aber als sie ihnen nun vom Schreibtisch aus zusah und bemerkte, wie sie sich beim Reden berührten, wie sie gemeinsam über etwas lachten, das Paul gesagt hatte, da wusste sie, wie sehr sie ihn begehrte.

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
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