Lieben

Daheim

Professor James R. sah ich zum ersten Mal am Morgen von Halloween. Meine Kinder waren noch im Schlafanzug und erzählten mir, solange ich unten arbeitete, würden sie mit Mummy einen Schokoladenkuchen backen und ihn mit Zuckergussgespenstern verzieren.

Während meine Frau den Frühstückstisch abräumte und die ersten Noten meiner klavierübenden Tochter im Haus verhallten, ging ich nach unten in die Praxis und zog hinter mir die Tür zu. Ich machte Licht, stellte den Thermostat ein und legte im Wartezimmer Zeitungen aus. Es war zehn vor neun.

Als Professor R. anrief, um einen Termin auszumachen, hatte er ziemlich besorgt geklungen – mein Gefühl sagte mir, dass er nicht zu früh kommen würde, eher ziemlich pünktlich. Ich saß in meinem Sessel, las im Kalender noch einmal Name und Adresse und schloss die Augen. Es fällt mir schwer, meine Gefühle vor Beginn einer ersten Sitzung zu beschreiben – eine Mischung aus Erwartung, Neugier und einem unbestimmten Unbehagen.

Um zwei oder drei Minuten nach neun Uhr klingelte es an der Tür. Der Mann, der davorstand, war größer und kompakter, als ich es von seiner Stimme her erwartet hatte. »Mr Grosz?«

Nachdem er mir gegenüber Platz genommen hatte, fragte ich: »Wie kann ich helfen?«

Er antwortete, er sei sich nicht sicher, ob ich oder ob irgendwer es könnte, und er begann, von sich zu erzählen. Er war einundsiebzig Jahre alt und bis zu seiner Emeritierung Professor an einem großen Londoner Lehrkrankenhaus gewesen. Beruflich war es ihm gut ergangen, auch wenn er selbst dies nicht recht nachvollziehen konnte. Er sagte, weil er langsam spreche, hielte man ihn oft für klug. »Dabei bin ich gar nicht besonders intelligent.«

Er beschrieb seine seit vierundvierzig Jahren währende Ehe mit Isabel, einer Allgemeinärztin. Und er erzählte von seinen Kindern – erst zwei Mädchen, dann zwei Jungen. Die Töchter waren mittlerweile verheiratet und hatten schon selbst Kinder; die Jungen waren nicht verheiratet, hatten in ihren Berufen aber gut Fuß gefasst. »Es war ein langer Weg, manchmal beschwerlich, doch keines meiner Kinder bereitet mir ernsthafte Sorgen.«

Er schwieg und fuhr dann fort: »Mit Isabel bin ich nur ein einziges Mal bei einer Paartherapeutin gewesen, und sie hielt es für eine gute Idee, mich mit Ihnen zu verabreden. Sie sagte, Sie könnten mir bestimmt helfen, einen Therapeuten zu finden, aber ich weiß nicht, was sie Ihnen über mich erzählt hat.«

Ich sagte ihm, was die Paartherapeutin gesagt hatte – dass sie es am besten fände, wenn er einfach von sich selbst erzählte.

Ehe ich noch etwas anmerken konnte, setzte er hinzu: »Hat sie Ihnen gesagt, dass ich schwul bin?«

Es sei eine simple Geschichte, sagte er: Seit der Heirat mit Isabel hielt er seine Sexualität unter Verschluss. Vor zwei Jahren dann, kurz nach dem Tod seines Vaters, »habe ich sie wieder vorgeholt«. Er war in New York, um seine Tochter und deren Familie zu besuchen und sei in Midtown Manhattan in einer Sauna gelandet. »Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich selbst gespürt.«

Seine Beziehung mit dem Mann, den er in der Sauna kennengelernt hatte, währte nur kurz, doch hatte er seither zwei weitere Freunde gehabt. »Dass ich nicht mehr jung bin, ist ja nicht zu übersehen, also musste ich mich in Sachen Viagra erst schlaumachen. Allerdings geht es dabei nicht bloß um Sex – ich weiß, das alles ist mir sehr wichtig.«

Ich fragte ihn, ob er mir zu verstehen geben wolle, dass er nie zuvor Sex mit einem Mann gehabt hatte.

»Genau«, sagte er. Er hatte sich sein Leben lang zu Männern hingezogen gefühlt und immer gewusst, dass er schwul war, nur hatte er geglaubt, dass er nach Antritt seiner Stelle an der Universität bestimmt einen Mann kennenlernen würde, und das wäre es dann gewesen, bloß ist es dazu nie gekommen. »Es gab einige tapfere Männer, die sich offen zu ihrem Schwulsein bekannten, aber ich gehörte nicht dazu.«

Er beugte sich vor und erzählte, dass er und seine Frau zusammen Medizin studiert hatten – »sie war damals – und ist es bis heute – meine beste Freundin«. Nach dem Studienabschluss haben sie geheiratet. Ja, über die Jahre hatte er bei mehreren Gelegenheiten versucht, mit Isabel darüber zu reden, doch ist es bei Versuchen geblieben.

Vor wenigen Monaten erzählte er ihr dann von dem Mann, mit dem er sich traf. Natürlich war sie verletzt und aufgebracht, bewies aber durchaus auch Verständnis. Es folgten einige schreckliche Wochen, ehe sie sich darauf einigten, zu einer Paartherapeutin zu gehen. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte – er wollte das Leben behalten, das er sich mit Isabel aufgebaut hatte, wusste aber nicht wie. »Deswegen bin ich hier.«

An manchen Tagen war er davon überzeugt, dass sie ihr großes Haus gegen zwei kleine Häuser eintauschen sollten, eines für ihn und eines für Isabel, damit jeder sein eigenes Leben führen konnte. An anderen Tagen aber dachte er, das Problem sei grundlegender, sei ein Problem der Intimität. »Ich hegte diese grässliche Befürchtung, dass ich mich dafür entscheiden könnte, mit einem Mann zusammenzuleben, nur um dann festzustellen, dass ich mit ihm auch keine Nähe ertrug.«

Ich fragte ihn, was er damit meinte.

Er sagte, Isabel käme gut mit Leuten aus, er aber nicht. Eigentlich verstünde er auch gar nicht, wie sie es all die Jahre mit ihm ausgehalten hatte – daheim galt es als Dauerwitz, dass er am besten mit Menschen unter Narkose zurechtkomme. »Ich bin ein Tölpel. Manchen Leuten gefällt das, manchen nicht. Und ich scheine immer das Unausgesprochene zu sagen, das, woran jeder denkt, das aber niemand zu sagen wagt.«

Ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen, aber ich glaube, er hat gespürt, wie ich seine Äußerung verstand – dass er über andere Leute, nicht aber über sich selbst Unausgesprochenes sagen konnte. Sorgte er dafür, dass andere sich peinlich berührt fühlten, damit er sich eine Peinlichkeit ersparte? Noch während ich darüber nachdachte, fragte er: »Wie kann mir die Therapie helfen, diesen Konflikt zu lösen?«

Ich sagte, ich sei mir noch nicht sicher, auf welche Weise ihm eine Therapie helfen könne.

Er erwiderte, er würde gern zu einer Entscheidung kommen und entsprechend handeln, nur könne er sich jetzt nicht entschließen, was er tun solle. Niemand habe ihn je für verwirrt gehalten, doch genauso fühle er sich jetzt. Beides, bleiben und gehen, schiene ihm zu unterschiedlichen Zeitpunkten die richtige Verhaltensweise zu sein. Die Kinder wussten nicht, dass er schwul ist, und er wollte auch nicht, dass sie davon erfuhren. Er wollte nicht, dass sie ihn hassten, dass sie Schlimmstes über ihn dachten.

Ich sagte, ich verstünde ihn so, dass er jetzt nicht etwas tun wolle, was er später bereue.

Er gab mir recht. »Manchmal fühlt es sich richtig an, Isabel zu verlassen. Ich habe mich mit ihr nie völlig wie ich selbst gefühlt.« Er beschrieb einen Sonntagnachmittag, an dem er bei seinem Freund im Arm gelegen hatte. »Wir waren im Schlafzimmer und hörten eine CD. Als die Musik zu Ende ging, ließ ich nicht los, und er hat mich einfach weiter festgehalten. So lagen wir beinahe den ganzen Nachmittag da, ehe ich aufstehen wollte. Etwas Vergleichbares habe ich nie zuvor erlebt.«

»Und auf so etwas wollen Sie nicht wieder verzichten.«

»Eben – ich glaube nicht einmal, dass ich darauf verzichten könnte.«

»Warum jetzt?«, fragte ich.

Er sagte, er sei sich nicht sicher. Vielleicht hätte es mit der Lebensphase zu tun, in der Isabel und er sich jetzt befänden. Seit dem Medizinstudium hatte er sich vor allem um andere Menschen gesorgt. Erst seien Isabels Eltern, dann seine Eltern krank geworden, einer nach dem anderen, hätten ihre Hilfe gebraucht und seien gestorben: Brustkrebs, Darmkrebs, Herzversagen, Bauchspeicheldrüsenkrebs. Seine älteste Tochter hatte eine schwierige Kindheit gehabt – sie war Legasthenikerin, kam mit ihren Lehrern nicht zurecht und wurde wegen Ladendiebstahls angezeigt. Doch all das gehörte nun der Vergangenheit an – seine Eltern waren tot, den Kindern ging es gut. »Es mag egoistisch klingen, aber jetzt möchte ich spüren, dass mich jemand liebt und nicht, dass man sich nur pflichtbewusst um mich kümmert.«

Wir schwiegen einige Minuten.

»Es mag schrecklich klingen, aber ich war froh, als mein Vater starb, dieser entsetzliche Mensch.« Als praktischer Arzt und Stadtratsmitglied genoss er ein hohes Ansehen, doch war ein Zusammenleben mit ihm schlicht unmöglich. Er gehörte zu den professionellen Gutmenschen, und alle Welt fand ihn wundervoll, dabei neigte er zu plötzlichen Wutausbrüchen. »Er fing sich schnell wieder, aber innerlich habe ich danach noch ewig gezittert. Wir spürten es meist, wenn sich die nächste Explosion anbahnte, bloß gab es keine Möglichkeit, ihn zu besänftigen.«

Schlimmer war jedoch etwas anderes – wie solle er es nennen? – das fehlende Interesse seines Vaters an ihm. »In meiner Erinnerung ist er meist abwesend – ich weiß noch, dass er zur Praxis ging, ehe ich zur Schule aufbrach. Und es war offensichtlich, dass ich irgendwie zu viel für ihn war. Ich dachte immer, er könne es kaum abwarten, endlich von mir fortzukommen.«

Während er redete, rief ich mir seine Erinnerung ins Gedächtnis, seine Freude darüber, von einem Mann gehalten zu werden – der Freund reglos, ruhig in seinen Armen – und so lange gehalten zu werden, wie er nur wollte. Ich fragte ihn, ob es auch deshalb ein so mächtiges Glücksgefühl gewesen sei, von einem Mann gehalten zu werden, weil es die Ablehnung und den Schmerz linderte, die er durch den Vater erfahren hatte.

»Mir war, als hätte mein Vater in mich hineingesehen und nicht gemocht, was er dort sah. An jenem Nachmittag aber habe ich Gegenteiliges empfunden – ich habe mich gefühlt, als wäre ich daheim angekommen.«

Wir schwiegen beide einen Moment, dann sagte er: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Geschichte allzu alltäglich ist – es dürfte kaum besonders viele Menschen geben, die zu Ihnen kommen und wie ich, in meinem Alter, noch einmal die Richtung wechseln. Aber so ist es nun mal.« Er machte eine kleine Geste, kehrte die Handflächen nach oben. »So ist es nun mal.«

Lange Zeit saßen wir da und sagten kein Wort. Ich dachte an die Reise seiner Ehe, sah sie vor mir wie eine Reihe von Fotografien, ihn und seine Frau im Medizinstudium, ihre Hochzeit, die Geburt der Kinder, der Tod ihrer Eltern und die gemeinsamen Jahre. Ich sah den jährlichen Kreislauf von Geburtstagspartys und Urlauben. Ich stellte mir Professor R. und seine Frau als Studenten vor – so vieles, was sie damals nicht wussten, so vieles, das sie nicht vorhersehen konnten.

Und dann, vielleicht wegen gedämpfter Laute, die von oben herunterdrangen, Klavier oder Stimmengewirr, musste ich an meine Frau und an meine Kinder denken und stellte mir eine ähnliche Abfolge von Fotografien aus unserem Leben vor – unsere Geburten, unsere Tode. Was erwartete uns?

Professor R. seufzte, und ich fragte ihn, woran er in der Stille gedacht habe.

»Ich dachte, wenn meine Frau so mit mir leben kann, wie ich bin, dann möchte ich mit ihr zusammenbleiben, aber auch weiterhin meinen Freund sehen. Falls sie das kann, dann ist es das, was ich möchte.«

Wir hörten kurz danach auf, und wie vereinbart überwies ich Professor R. an einen Psychotherapeuten, dessen Arbeit ich bewunderte und dessen Praxis in der Nähe von Professor R.s Haus lag. Ich habe ihn seither nicht mehr gesehen, musste aber immer mal wieder an unser Gespräch denken – ich weiß nicht genau, warum.

Zwei Jahre später saß ich in einem Café, wartete auf meine Frau und blätterte in einer auf dem Tisch liegengebliebenen Ausgabe der Times, als ich unter den Todesanzeigen Professor R.s Namen mit Foto entdeckte. Seine herausragende berufliche Karriere wurde beschrieben sowie Trauerbekundungen von Freunden und Kollegen angeführt; der Nachruf schloss mit den Worten, dass seine Frau bei ihm war, als er starb, friedlich und daheim.

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
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