19

 

Stille herrschte im Tal der Throne.

Es war, als hielten alle Anwesenden den Atem an, als habe der Ort nur deshalb eine jahrhundertealte Geschichte, damit sie in diesem Augenblick des Wartens innehalten konnte.

„Nein“, sagte Wills Stimme. „Das glaube ich nicht.“

Die Stille war nun gebrochen, und das ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Jef wandte sich seinem Bruder zu.

„Nein“, wiederholte Will. „So empfindest du nicht. Ich kenne dich.“

„Doch, Will.“ Jefs Stimme schmerzte ihn in der Kehle. „Es ist Jahre her, daß du mich gesehen hast. Der einzige Teil der menschlichen Rasse, für den ich Verwendung hatte, waren unser Vater und unsere Mutter. Du hättest auch dazugehört, aber du warst so lange weg. Als Vater und Mutter starben, war niemand mehr übrig.“

Will rührte sich nicht. Er stand da und sah Jef ins Gesicht. Seine Stimme blieb sich völlig gleich.

„Denke nach“, forderte er den jüngeren Bruder auf. „Du sagst, du findest keinen Grund, warum die menschliche Rasse leben sollte? Kein Teil? Kein einziger? Niemand?“

„Ich meine nicht …“ Jef zögerte.

Es war nicht so, daß er Zweifel in das setzte, was er jetzt empfand und seit dem Tod seiner Eltern empfunden hatte. Aber Wills unablässiges Fragen rief in ihm eine Furcht hervor, er hätte irgendwie etwas übersehen, etwas vergessen. Er blickte ringsum und sah Jarji.

Sie beobachtete ihn gedankenvoll, aber so, als habe das, was sie beschäftigte, nichts mit der Frage zu tun, auf die Jef eine Antwort geben mußte. Er blickte sie an und erinnerte sich an ihre erste Begegnung, als sie mit untergeschlagenen Beinen ihm gegenüber am Feuer gesessen hatte, die Armbrust vor sich auf den Boden gelegt.

Diese Erinnerung brachte ihm plötzlich noch etwas anderes ins Gedächtnis zurück. Wieder fiel ihm ein, wie er oben auf der Landetreppen des Raumschiffes gestanden hatte und der Raumhafen von Everon-Stadt vor ihm lag. Er war voller Bitterkeit gegen die Kolonisten gewesen, mit denen zusammen er gereist war. Jetzt spürte er es wieder genauso wie damals, aber zum ersten Mal erkannte er, daß unter dieser Bitterkeit sein Kindheitstraum vergraben gewesen war, alle Leute hier draußen auf der Welt würden von seiner Art sein, so, wie er Will und seine Eltern in Erinnerung hatte.

Jetzt, wo er die Wahrheit kennengelernt hatte, wurde ihm klar, daß dieser Traum sogar das Zusammentreffen mit den Gästen bei Armages Diner, seine Auseinandersetzung mit Chavel, dem Tierarzt, und seine Enttäuschung über Martin, der Will in Verkleidung gewesen war, überlebt hatte, und er war wieder lebendig geworden, als er Jarji kennenlernte. Trotz ihrer Stachligkeit gehörte sie genau zu der Art von Menschen, die er auf Everon zu finden gehofft hatte.

Jetzt sah er sein Leben in einem anderen Licht. Will hatte ihn immer besser gekannt als er sich selbst. Er hatte seine Hoffnung, Menschen zu finden, zu denen er gehören konnte, nie begraben. Er hatte sich nur selbst vorgemacht, er sei gern allein und brauchte keinen anderen.

Er hielt Jarji seine Hand hin, und sie ergriff sie. Die Berührung ihrer Finger schickte so etwas wie chemisch erzeugte Hitze durch seinen Körper.

„Du hast recht“, sagte er zu Will. „Ich glaube, im Grunde hasse ich niemanden so sehr.“

„Es sind die Maolots, die uns hassen!“ rief Armage dazwischen.

„Nein“, widersprach Jef.

„Nein? Was meinen Sie mit ,nein’? Natürlich hassen sie uns. Das liegt in ihrer Natur!“

„Nein“, versicherte Jef ihm. „Nicht in ihrer Natur. Es liegt daran, wie wir sind. Sehen Sie.“

Jef wies mit seiner freien Hand auf das Jimi, das sich jetzt Yvis Suchi an die Seite schmiegte. Sein Kopf lag auf dem Ellenbogen der Frau, als wolle das Jimi die Wärme seines eigenen kleinen Körpers in den erstarrten Körper der Menschenfrau senden.

„Einige von ihnen lieben sogar“, sagte Jef. „Das Problem ist, daß Liebe nicht genügt. Ihnen nicht, und was das betrifft, auch uns nicht.“

„Ich spreche über die verdammten Maolots!“ fuhr Armage auf.

„Maolots!“ Zorn wallte in Jef hoch. „Was ist los mit euch allen hier? Versteht ihr nicht, daß ihr es hier nicht mit den Maolots zu tun habt, sondern mit Everon? Mit dem ganzen Leben auf diesem Planeten, von den Maolots angefangen bis hinunter zu den Viren im Dreck!“

Armage starrte ihn an, ebenso Beau und die unter den anderen, die klar genug bei Bewußtsein waren, um seine Worte zu verstehen.

„Seht ihr nicht, was euch direkt vor der Nase liegt? Seht euch das Jimi an!“ forderte Jef. „Es liebt Yvis Suchi, und trotzdem hat es sie hierhergebracht. Es hatte keine andere Wahl. Könnt ihr es nicht verstehen? Alles auf Everon ist Teil eines einzigen Geschöpfes – die gesamte Ökologie bildet ein einziges Geschöpf. Die Maolots sind nur das oberste Glied der Kette – der Kopfteil. Sie können uns hören und uns antworten. Aber das ganze Geschöpf will wissen, ob es in Sicherheit mit uns leben kann, oder ob es, um sich selbst zu schützen, gezwungen ist, uns zu töten. Jedes Insekt, jede Amöbe ist an dieser Entscheidung beteiligt. Jedes dieser Wesen ist einer der wirklichen Herren von Everon!“

Sie starrten ihn an. Jef erkannte, daß sie noch nicht erfaßt hatten, was er ihnen sagte. Nur Jarji und Will zeigten ihr Verständnis – Jarji mit einem Druck ihrer Hand, der ihm deutlich ihre Zustimmung zu seinen Worten signalisierte, und Will mit einem Nicken.

„Ja“, flüsterte Will vor sich hin. „Ja.“

„Jeder, der hier lebt – der wirklich hier lebt …“ ergriff Jarji unerwartet das Wort, „weiß wie alles miteinander verwoben ist. Jeder, der in den Wäldern lebt, hat schon mehr als einmal gesehen, wie ein Beuteltier einem Galuscha oder einem Maolot ins Maul spaziert. Und auch wenn ihr das nicht gesehen habt, könnt ihr spüren, wie es ist. Die Tiere sind verbunden mit den Pflanzen und beide mit der Luft und der Erde. Alles zusammen ist ein Geschöpf. Jef hat recht!“

Beaus Gesicht war dunkel und verzerrt. Mit seiner eigenen neuen Empfänglichkeit spürte Jef den Kampf, den der große Mann mit sich selbst ausfocht. Aber Beau sagte nichts.

„Also was nun?“ fragte Armage. „Sagen Sie ihnen, was sie hören wollen, damit wir von hier verschwinden können. Wir können uns später entscheiden, was wir ihretwegen unternehmen wollen. Sagen Sie ihnen, sie können mit uns leben. Sagen Sie ihnen, wir werden Vorkehrungen treffen, daß wir mit ihnen leben können. Sagen Sie ihnen alles, was uns im Augenblick weiterhilft!“

„So einfach ist es nicht …“ begann Jef.

„Zum Teufel, warum nicht?“ brüllte Armage. „Woher sollen sie wissen, ob es die Wahrheit ist oder nicht?“

Der Zorn, den Jef kurz vorher empfunden hatte, flammte auf und ließ ihn nun völlig die Geduld verlieren. Er war kurz davor zu explodieren.

„Sie warten nicht auf Worte“, erklärte er, „verstehen Sie das nicht? Es ist etwas, das sie in uns fühlen werden, wenn wir es haben – und wenn wir es ihnen nicht zeigen können, dann sind wir verloren. Sie können, wenn sie es wollen, innerhalb der nächsten zehn Stunden die Wolken mit Sporen laden und einen Hurrikan gegen uns schicken. Sie können das Klima ändern und uns erfrieren lassen oder die Ernten auf unsern Feldern vernichten. Bis jetzt haben sie nie eine ernstliche Anstrengung gegen uns unternommen. Aber wenn sie sich dazu entscheiden, ist es aus mit uns. Sie können jedes Tier, jeden Vogel, jedes Insekt – sogar die Variformen – ausschicken, uns zu jagen und zu töten. Das ist es, was geschehen wird. Verstehen Sie doch – nicht die Maolots werden es tun; Everon wird es tun. Es wird kein Plan sein, sondern ein Reflex, ein instinktives Zurückschlagen gegen etwas, das sie zu befürchten haben. Die einzige Hoffnung ist, daß ich ihnen, was uns betrifft, ein Gefühl vermitteln kann, das diesen Reflex unnötig macht, das die Bombe entschärfen wird. Verstehen Sie das?“

Er forschte in Armages Gesicht nach einem Funken von Verständnis. Aber Armage kniff die Lippen zusammen und sah von ihm weg, hinüber zu den Felsensäulen und den wartenden Gestalten darauf.

„Dann willst du es versuchen, Jef?“ fragte Will.

Jef wandte sich ihm zu.

„Ich will es versuchen. Aber ich weiß nicht, wie.“

Will nickte.

„Was kann ich tun, um dir zu helfen?“

„Nichts“, sagte Jef. „Ich weiß nicht einmal, ob das, was sie zu sehen wünschen, wirklich in uns … in mir ist.“

„Es ist in dir“, stellte Jarji fest. Ihre Überzeugung war wie eine starke Hand, die ihn aufrecht hielt. „Es hätte sich alles gar nicht soweit entwickelt, daß sie dir Mikey gegeben haben und ihn mit dir aufwachsen ließen und dich und uns andere hierherbrachten, wenn es nicht in dir wäre. Die Frage ist nicht, ob es da ist, sondern ob du es ihnen übermitteln kannst.“

Jef nickte. Er faßte neue Zuversicht.

Sie mußte recht haben. Die Sache hätte nicht bis hierher gedeihen können, wenn von Anfang an nichts in ihm gewesen wäre. Würde es der Menschheit gänzlich an dem mangeln, was Everon zu finden wünschte, hätten sich er und jeder andere schon vor langer Zeit als das verraten, was sie wirklich waren. Und in diesem Fall hätte Mikey es schon auf der Erde gemerkt. Das wäre dann das Ende gewesen – nicht nur für ihn selbst, sondern auch für Mikey. Die Lebenskette auf Everon war ein einziges Wesen, aber das Band zwischen seinen Gliedern war eines der Zweckmäßigkeit, nicht der Zuneigung.

Es ging um das Überleben, nicht um die Zuneigung. Was hatte er selbst erst vor ein paar Minuten gesagt? Die Liebe allein genügte nicht.

Es war etwas, das über die Liebe hinausging. Es war etwas Grundlegendes …

Das Gefühl dafür entstand zum ersten Mal deutlich in ihm. Es entwickelte sich aus der Vorstellung des Bildes, wie die Lebensmasse von Everon wachsam auf die irdische Lebensmasse blickte und fragte: „Passen wir zusammen? Können wir im ökologischen Sinn miteinander verschmelzen? Können wir ein Tier sein?“

Das Everon-Leben wollte wissen, ob das Erdenleben den gleichen Gesetzen folgte wie das Everon-Leben. Dieselben Regeln und Verhaltensmuster mußten anzuwenden sein. Everon mußte in Erfahrung bringen, ob die Erde so funktionierte wie es selbst oder in entsprechender Weise verändert werden konnte. Aber alles, was Everon bisher gesehen hatte, war eine selbstzerstörerische, wahnsinnige Version der Gesetze, die es kannte, eine Version, in der sich eine einzelne Spezies gegen den Rest seiner eigenen ökologischen Kette gewandt hatte und sie zu seinem privaten Nutzen kannibalisch verschlang.

Everon wollte einen Beweis dafür haben, daß dies nur eine vorübergehende Krankheit war und kein angeborener Fehler des Erdenlebens als Ganzes. Nichts Geringeres konnte Everon – mit den Maolots als Kopf des Gesamtwesens – daran hindern, die erdgeborene ökologische Kette zu vernichten.

Wenn es zu einer solchen Zerstörung kam, so dachte Jef, dann hatte sie nichts mit Rachsucht zu tun. Viele der niedrigeren Formen des Erdlebens mochten sogar überleben und in die Everon-Kette aufgenommen werden. Aber der kranke, der menschliche Teil würde von allen Welten, auf denen er existierte, hinweggefegt werden.

Doch nicht alle Menschen waren krank. Einige waren es nicht. Und die Rasse als Ganzes war in früheren Zeiten einmal gesund gewesen.

In früheren Zeiten …

Seine Gedanken wanderten in der Zeit zurück, durch die schmutzigen Jahrhunderte bis zu der Jugend der Männer und Frauen, zum späten Paläolithikum, als die Menschen – nun keinen Menschenaffen mehr, sondern echte Menschen – noch ein gesunder, funktionierender Teil der ökologischen Kette auf der Erde gewesen waren. Die Tierzeichnungen des Magdalenien in den Höhlen von Lascaux in der Dordogne – lebensecht gemaltes laufendes Rotwild, mittels Magie und eines Gefühls der Bruderschaft mit Farbe zum Leben gebracht –, Hirsche, Pferde, Rinder …

Von ihnen über Jahrtausende bis zum Abschlachten des amerikanischen Büffels …

Explosionsartig entwickelte sich in Jefs Gehirn der Gedanke an einen möglichen Beweis. Jarjis Hand immer noch in der seinen, trat er mit zwei schnellen Schritten auf den Wisentbullen zu, legte ihm den freien Arm um den Hals und hob den zottigen Schädel, so daß er ihm in die trüben, blicklosen Augen sehen konnte.

„Wisent …“ sprach er ihn mit leiser, eindringlicher Stimme an. „Wisent, ich kenne dich. Ich kenne dich seit achttausend Jahren. Ich kenne dich jetzt. Ich kenne dich, Wisent …“

Die trüben Augen starrten in die seinen. In ihren Tiefen rührte sich etwas, das ein Erwachen sein mochte.

„Wisent“, fuhr Jef fort. „Hör mir zu, Wisent …“

Etwas, das tief aus seinem eigenen Inneren emporstieg, hatte den Befehl übernommen und riß ihn unwiderstehlich mit sich. Sein Vorstellungsbild von dem, was gewesen war, und von dem, was heute war, angefangen beim Urbeginn von Menschen und Tier, war nicht mehr nur halb geformt. Es verdichtete sich, es nahm eine feste Gestalt an, und während es das tat, entzog sich der Wisent dem Einfluß des planetaren Geistes von Everon, der sein natürliches Feuer gedämpft, ihn zum Gehorsam gezwungen und an diesen Ort getrieben hatte. Jef ließ Jarjis Hand los, damit er den wolligen Pelz des schweren Kopfes mit beiden Händen fassen konnte, und hielt ihn Auge in Auge mit sich.

„Wisent …“ – er flüsterte beinahe – „… wir sind das gleiche Ding. Unser Blut und unsere Knochen sind gleich. Hör mir zu …“

Die Augen verloren ihre Stumpfheit. Die waagerechten, geschlitzten Pupillen erwiderten Jefs Blick. Die Augen des Wisents waren braun und unschuldig, aber die Bindehaut begann sich rot zu färben, während der Bulle erwachte. Jef spürte die ersten schwachen Anzeichen eines normalen Bewußtseins, das Aufzüngeln einer reflexartigen Panik, einer Furcht, die Wut, und einer Wut, die Furcht war und die Oberfläche des tierischen Bewußtseins durchbrach.

„Wisent“, sprach Jef auf ihn ein, „ich liebe dich, Wisent, aber es muß zwischen uns mehr sein. Und so ist es auch – wir sind das gleiche Ding, du und ich. Wir sind immer das gleiche Ding gewesen. Wir können nie etwas anderes sein, weil wir beide zu etwas gehören, das uns beide hält. Du bist Seine Wisentgestalt und ich bin Seine Menschengestalt, aber für Es gibt es keinen Unterschied zwischen uns. Hörst du mich, Wisent?“

Der Wisent erwachte. Jef fühlte zwischen seinen Händen eine wachsende Anspannung, das Entstehen der Bereitschaft zu kämpfen oder zu fliehen. Der einfache Verstand, mit dem er sprach, erhob sich schnell aus den trüben Wassern der Beinahe-Bewußtlosigkeit zu dem Licht und der Klarheit von Entscheidung und Handlung. Jef fuhr mit seiner rechten Hand den Hals hinunter und spürte, daß die großen Schultermuskeln zitterten. Die kurzen, scharfen Hörner senkten sich. Im nächsten Augenblick würde der Wisent voll erwacht sein und ihn aus instinktiver Furcht heraus angreifen.

Aber in der Struktur des Everon-Lebens brauchte ein solcher Angriff nicht zu erfolgen. Es gab höhere Gesetze, die die Furcht unter Kontrolle hielten und die Reaktion verhinderten. Wenn – aber nur wenn – ein solches Gesetz mit ihm war, hatte ein Maolot es nicht nötig, einen Blattschleicher zu fangen. Der Blattschleicher würde in diesen kritischen Augenblicken, wenn das wichtigere Bedürfnis des ganzen, aus vielen Spezies bestehenden Geschöpfes den Vorrang über das Bedürfnis und den Willen des einzelnen gewann, von selbst warten, und ebenso würde ein Jimi eine Yvis Suchi zum Tal der Throne führen. Wenn es eine dementsprechende Reaktion immer noch in irdischen Körpern und Seelen gab, dann mußte Jef mit Hilfe dessen, was er von Mikey und Everon gelernt hatte, imstande sein, diesen Wisent ruhig zu halten und die natürliche Furcht beschwichtigen. „Wisent …“ flüsterte er ihm ins Ohr. „Wisent …“ Der Wisent hörte ihn und verstand ihn nicht. Die Augenlider hoben sich und zeigten ein weißliches Braun. Die elliptische Iris weitete sich, und die sie umgebende Bindehaut schwoll an und färbte sich blutrot. Tief in der Brust des Tieres schlug die Panik wie eine Trommel. Der tonnenschwere Körper schien zu wachsen und über Jef emporzuragen. Jef schloß seine eigenen Augen halb. Er schickte seinen Geist hinaus über den gegenwärtigen Augenblick, hinaus über das kurze, bekannte Stück der Geschichte seiner zweibeinigen Rasse und wanderte zurück und zurück, bis er die Zeit erreicht hatte, wo jede andere Lebensform auf seinem Heimatplaneten diese Welt ebenso besessen hatte wie er und seinesgleichen. Zurück … zurück zu der Zeit, als sie noch alle zusammen waren, Mensch und Bulle und alle, die auf den Kontinenten des späten Paläolithikums gelebt hatten und gestorben waren.

„Wir sind gleich …“ sagte er immer wieder. „Wir sind gleich …“

Lange Zeit wurde er von der Zorneswut im Geist des erwachten Wisents dahingetragen wie ein Span auf der Oberfläche eines Wasserwirbels – von ihm beherrscht, nicht ihn beherrschend. Dann begann er, zum ersten Mal die wirkliche Macht und Gegenwart der großen, allgemeingültigen Gesetze zu spüren. Es waren die Gesetze einer Lebensphysik, die sich aus der Nacht der Instinkte erhoben, um Erinnerungen wachzurufen, von denen er nicht gewußt hatte, daß sie in ihm vorhanden waren.

„Bruder Bär …“ hörte er sich selbst murmeln. „Bruder Bär, verzeihe mir. Ich töte dich, damit meine Leute leben können. Bruder Bär, großer Bär, weiser Bär – weiser und größer, als ich es bin – Bär, verzeihe mir, daß ich dich töte, damit ich lebe. Bruder Wisent, verzeihe mir. Wisent, großer Wisent, du bist stärker und mutiger, als ich es bin, aber ich muß dich unterjochen, ich muß dich beherrschen, damit meine Leute leben. Bruder Wisent, still … sei still … steh still, Bruder Wisent, damit meine Leute leben …“

… Und die großen Gesetze, die alles Leben auf der Erde zusammenbinden, die das kleine, schwache Gebäude des individuellen Willens wie starke Bänder verfestigen, griffen hinüber von jenseits der Geschichte, von jenseits aller Dinge, die der bewußte Verstand kennt, von jenseits des Konzepts der Zeit … Der Wisent wurde ruhig. Panik und Furcht nahmen ab, verschwanden, verwandelten sich in Resignation, in Bereitschaft. Die mächtigen, gewölbten Schultermuskeln verloren die Spannung, streckten sich, erschlafften.

Das Rote verblaßte im Außenring des Auges, die Iris schrumpfte, und das Bräunlich-Weiße verschwand, als die Augenlider sich wieder senkten.

Der Wisent stand still, mit Jef durch die unsichtbaren Bande des Lebens verknüpft, die schon existiert hatten, bevor die frühesten Vorfahren beider entstanden waren. Er gehorchte Gesetzen, die das Gegenstück zu den Lebensgesetzen auf Everon waren.

Langsam löste Jef seine Hände. Er hatte sie so fest im Haar zu beiden Seiten des schweren Tierkopfes verkrampft, daß es ihm Mühe bereitete, die Finger geradezubiegen. Im Tal hielt schmerzende Stille alle Menschen und Tiere in seiner Nähe gefangen, alle Beobachter auf den Abhängen, alle Anwesenden im Amphitheater.

Jef spürte, daß Jarji dicht neben ihm war. Instinktiv legte er einen Arm um sie und zog sie an sich. Die Stille hielt immer noch an.

Dann hob eine Maolot-Frau auf einer Felssäule direkt vor ihm ohne Vorankündigung den Kopf. Die mächtigen Kiefer öffneten sich, und das ohrenzerreißende Brüllen der Spezies erschütterte das Tal der Throne. Noch bevor das Echo von der gegenüberliegenden Wand zurückgeworfen wurde, erklang das Brüllen von überall. Es waren nicht die Jagdrufe, sondern es war das volle, rollende Brüllen, das, wie Jef wußte, kilometerweit zu hören war.

Jetzt brüllten alle die Maolots auf den Säulen, und der Klang, gefangengehalten von den Talwänden und zwischen ihnen hin und her geworfen, war betäubend. Mit Hilfe seiner empathischen Verbindung zu Mikey ließ Jef seinen Blick über die Säulen vor ihm wandern, ging nahe an die Maolots heran – und überall sah er in ihre geöffneten Augen. Sie hatten die Farbe von Saphiren, von Topasen, von Granatsteinen – jedes Augenpaar war anders, und in jedem stand ein Wissen und eine Weisheit, die Jef völlig entmutigt hätten, wäre ihm der Anblick zuteil geworden, bevor er selbst gelernt hatte, mit den großen Gesetzen umzugehen. Denn die Macht dieser Gesetze wurde sichtbar in den Augen der Maolots, und hätte er sie früher erblickt, dann hätte er nie den Mut gehabt, auf die Suche nach dieser alten und ehrfurchtgebietenden Kraft in sich selbst zu gehen.

Er sah Mikey mit den Augen seines Körpers an und entdeckte, daß Mikeys Augen sich endlich geöffnet hatten und daß auch in ihnen Weisheit lag. Freude überflutete ihn. Er drückte Jarji eng an sich. Will legte seine Arme um sie beide. Rings um sie starrten sich die Kolonisten – ja, sogar die Kolonisten – in atemloser Aufregung an. Sie verstanden es nicht, aber sie nahmen durch das Mark ihrer Knochen das berauschende Gefühl in sich auf, daß alles gut geworden war.

Jef rief Jarji und Will etwas zu, aber sie schüttelten beide den Kopf. Bei diesem Getöse war nichts zu verstehen. Jef rief noch einmal, nur weil es ihm Freude machte, in seinem Kopf seine eigenen Worte zu hören. Jarji und Will konnte er es später erzählen, wenn Zeit war für alle die Gespräche, die sie unbedingt führen mußten.

„Jetzt sind wir bereit!“ lauteten die Worte, die er ihnen zugerufen hatte. „Jetzt sind wir endlich bereit!“

Und Mikey drängte sich liebevoll an sie alle drei.