16

 

Jef erwachte. Er war noch nie so erschöpft gewesen. Endlich ganz munter geworden, konnte er sich nicht mehr klar an die Ereignisse nach dem Augenblick erinnern, als er auf so lächerliche Weise selbstzufrieden entdeckt hatte, daß er die Beherrschung verlieren konnte wie jeder andere auch. Danach gab es für ihn nichts anderes mehr als ein dunkles Tal des tiefen Schlafes, unterbrochen nur durch ein paar kurze, undeutliche Perioden, in denen er aus Gründen der Notwendigkeit erwacht war und man ihm aus seinem Schlafsack und wieder hinein geholfen hatte. Aber das waren insgesamt nur Minuten gewesen.

Inzwischen war Zeit vergangen – mindestens ein Tag und noch eine Nacht –, und die Welt rings um ihn hatte geduldig gewartet. Martin und Jarji hatten sich um das Lager gekümmert und ihn gelegentlich dazu gebracht, irgendeine Suppe oder ein heißes Getränk zu schlucken, das aus Everon-Kräutern bereitet war. Mikey hatte am Feuer gelegen, als halte er Wache, die Tatzen überkreuzt, den Hals aufgerichtet und den blinden Kopf Jef zugewandt. Wann immer Jef wach genug wurde, um es zur Kenntnis zu nehmen, hatte er ihn in dieser Haltung gesehen. Es war gerade so, als habe das ganze Universum um Jef eine Pause gemacht und darauf gewartet, daß er aufwachte und seinen Platz darin wieder einnahm.

Er war noch nie so erschöpft gewesen. Ihm war, als hätten sich seine Knochen aufgelöst und eine große Leere sei an die Stelle seiner normalen inneren Organe getreten. Er war so schwach wie ein frischgeschlüpfter Sperling. Und doch … jetzt, da dies alles hinter ihm lag, fühlte er sich im Frieden, fühlte sich bereichert. Das Gefühl wärmte ihn, beinahe so, als habe er sich mit Wissen wie mit einer guten Mahlzeit vollgestopft und verdaue es nun mit Fleiß, wobei er jetzt erst herausfand, was er eigentlich zu sich genommen hatte.

Er war sich im klaren darüber, daß das Wissen, das er erworben hatte, mehr war, als sein Bewußtsein verarbeiten konnte. Er war einer großen Menge an mehr Informationen ausgesetzt gewesen, als er identifizieren oder einem anderen Menschen hätte erklären können. Er konnte spüren, wie es gegen sein Bewußtsein drückte. Aber im Augenblick verstand er nur im allerbegrenztesten Maße, was es zu bedeuten hatte.

Nun war er wach, lag da und beobachtete Mikey und die beiden anderen, die sich im Lager zu schaffen machten. Das Gefühl der Leichtigkeit im Kopf, das von seiner eben erst überstandenen Schwäche herrührte, war bestimmt nicht normal, sagte er zu sich selbst, aber er genoß es von Herzen, nur dazuliegen und den anderen zuzusehen. Es war, als sei ihr Hantieren Teil eines verwickelten Balletts, das allein zu seinem Vergnügen aufgeführt wurde.

Martin richtete den Blick auf ihn und sah, daß Jef ihn beobachtete.

„Da sind Sie ja wieder, Herr Robini – Jef.“ Er kam herbei und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen Jef in einem Schlafsack gegenüber.

Jef musterte ihn für einen langen Augenblick.

„Ja“, sagte Jef. Seine Stimme drang ein wenig rostig aus seiner Kehle, aber das Sprechen gelang ihm ganz gut. „Und da wir gerade davon reden, daß ich hier bin – was tun Sie und Jarji an dieser Stelle?“

Jarji, die ihre Stimmen hörte, gesellte sich zu ihnen. Eine Sekunde lang sah sie auf sie hinab, und dann setzte sie sich beinahe widerstrebend ebenfalls auf den Boden.

„Du bist wieder ganz da?“ erkundigte sie sich bei Jef.

„Ja. Danke“, antwortete er.

Sie sah ein bißchen aus der Fassung gebracht aus.

„Niemand hat irgend etwas Besonderes für dich getan.“ Aber ihre Stimme klang wesentlich freundlicher, als man aus ihren Worten hätte ableiten können.

„Es wundert mich nicht, daß Mikey imstande war, euch zu finden“, sagte Jef zu beiden. „Aber wie seid ihr hierhergekommen? Und was tut ihr zusammen?“

„Also wirklich“, protestierte Martin. „Gibt es ein Gesetz, daß wir nicht zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein dürfen?“

„Laß ihn“, sagte Jarji zu Jef. „Wir sind zusammen, weil ich mit ihm zusammen aus Beaus Lager weggeflogen bin.“

„So ist es. Von mir geplant war das allerdings nicht“, fiel Martin ein. „Ich kam zu meinem Flieger, und sie war bereits drinnen und wartete auf mich.“

„Aber ich dachte, du wärest in der Unterkunft gewesen …“

Jef starrte sie an.

Jarji schnaubte.

„Hast du gemeint, ich würde einfach dasitzen mit allen anderen um mich herum, so daß ich überhaupt nichts hätte unternehmen können? Ich habe ihnen erzählt, ich wollte früh schlafen gehen. Dann, als sie nicht hinsahen, steckte ich eine zusammengerollte Decke unter mein Bettzeug und schlich mich hinaus. Aber Beau hat in seiner Gruppe ein paar Männer, die echte Waldleute sind. Einer von ihnen hörte, wie ich wegging, und kam mir nach. Ich mußte die erste Gelegenheit zur Flucht ergreifen – und das war Martins Maschine.“

„Das erklärt immer noch nicht, warum ihr beide hier seid“, hatte Jef zu beanstanden.

„Wir haben auf dich gewartet, ist doch klar“, sagte Jarji.

„Auf mich gewartet?“ Jef sah sie erstaunt an. „Woher konntet ihr denn wissen, daß Mikey mich herbringen würde …?“

Er verstummte.

„Ah, jetzt kommst du langsam dahinter, wie?“ ergriff Martin das Wort. „Dein Mikey weiß, daß wir deine Freunde sind – auf einer Welt, wo du nur wenige Freunde hast, wie ich nicht erst betonen muß. Wir befinden uns auf dem einzigen Paß zum Hochland, den es in mehreren hundert Kilometern Entfernung nach allen Richtungen gibt. Du mußtest diesen Weg nehmen. Und als der Maolot uns hier fand, wie wir auf dich warteten, brachte er dich zu uns.“

„Woher wußtet ihr, daß ich weiter auf das Hochland zuhalten würde?“

„Das ließ sich aus deinem hartnäckigen Charakter vorhersagen, Jef“, behauptete Martin. „Du hattest dich einmal entschlossen, den Ort aufzusuchen, der das Tal der Throne genannt wird und auf der Karte eingezeichnet ist, von der du dem Konnetabel und mir erzähltest. Wie konnten wir daran zweifeln, daß du dich durch nichts aufhalten lassen würdest?“

Irgend etwas an dieser Antwort erweckte in Jef einen unbestimmten Verdacht, aber er konnte sich nicht klar darüber werden, was es war. Er versuchte, sich zu erinnern, wann er Martin und dem Konnetabel über das Tal der Throne erzählt hatte. Ja, das war an dem Morgen gewesen, als er ins Oberland aufbrach. Damals hatte er gehofft, der Konnetabel werde eine genauere Karte besitzen, die er auf seiner Suche nach dem Tal benutzen konnte. Aber Armage hatte offenbar niemals von diesem Tal gehört und leichthin gemeint, es könne eines von tausend Tälern in der Wildnis Everons sein, die manchmal einen, manchmal mehrere Namen trügen, je nachdem, wie viele Menschen dort gewesen seien.

Wenn es nicht die Erwähnung des Tals der Throne war, was beunruhigte ihn dann sonst an Martins Bemerkung? Jef konnte sich nicht denken, was es war. Aber irgend etwas hatte ihn beunruhigt.

„Warum sollte Mikey mich zu euch bringen, selbst wenn er wußte, daß ihr hier wart?“ Er blickte zu Mikey hinüber und empfing eine Woge der Ermutigung, die der Maolot aussandte – und das wärmte ihm zwar das Herz, war aber kaum informativ zu nennen.

„Du warst ziemlich fertig“, erklärte Jarji beinahe scharf. „Er mag gedacht haben, daß du jemanden deiner eigenen Art brauchtest, wenn du am Leben bleiben solltest.“

Jef wandte seine Aufmerksamkeit ihr zu.

„Und warum seid ihr immer noch hier?“ fragte er grob. „Mir geht es wieder gut.“

„Beau und seine Leute verlegen mir den Weg bergab. Wohin kann ich denn gehen, wenn nicht in die Berge?“

Er betrachtete sie und hatte plötzlich den sicheren Eindruck, es sei zumindest möglich, daß sie hiergeblieben war, weil sie sich Sorgen um ihn machte. Aber natürlich konnte er nicht hoffen, sie zu bewegen, daß sie etwas Derartiges zugab.

Die Erinnerung an den nächtlichen Viehtrieb und den Gegenangriff der Maolots stieg in ihm hoch wie der Rauch des Lagerfeuers.

„Auf dem Weg hierher habe ich gesehen, wie Wisent-Rancher Wald rodeten und den Versuch machten, eine Herde an diese Stelle zu treiben“, berichtete er. Seine wiederentdeckte Fähigkeit, Zorn zu empfinden, ließ ihn plötzlich ausbrechen: „Dieser ganze Planet ist im Kriegszustand! Auf der einen Seite stehen die Wisent-Rancher, auf der anderen Beau und die Waldleute!“

„Glaube ja nicht, daß Beau und sein Haufen für alle von uns Waldleuten sprechen“, stellte Jarji mit Nachdruck fest. „Und was Beau betrifft, selbst er wurde dazu getrieben, das zu tun, was er tut.“

„Weißt du, daß er versucht, eine illegale Schiffsladung Antilopen-Embryos zu importieren?“ Jef sah zu Martin hinüber. „Du weißt darüber Bescheid. Erzähle es ihr.“

„Erzähle mir gar nichts!“ flammte Jarji auf. „Ich habe keinen Anteil daran, was Beau tut. Ich habe nur gesagt, daß er ursprünglich dazu getrieben worden ist. Und das stimmt! Aber was er jetzt tut, damit habe ich nichts zu tun, und ebensowenig meine Familie oder sonst jemand im Wald, den ich kenne. Das Problem mit dir ist, Jef, daß du noch nie auf einer neuen Welt gewesen bist, dich niemals auf einer neuen Welt angesiedelt hast, wahrscheinlich dir nicht einmal in Gedanken vorgestellt hast, wie es ist, sich auf einer neuen Welt anzusiedeln. Von einem Planeten wie unserem Everon kann man nicht wieder zur Erde zurückkehren. Selbst wenn man es könnte, würde man es nicht wollen. Es heißt, mit dem, was man hat, zu leben oder zu sterben – und dadurch wird alles anders. Und deshalb ist es unsere Angelegenheit – und nicht deine.“

„Nein“, widersprach Jef zu seiner eigenen Überraschung. „Jetzt bin ich unlösbar mit Everon verbunden. Ob es nur an meiner Verbindung mit Mikey liegt oder ob es mehr ist, weiß ich nicht. Aber das kann ich dir sagen: Ich mag dem Geheimnis, was Everon wirklich ist, nähergekommen sein als du oder sonst jemand, auch wenn ich erst vor ein paar Tagen aus einem Schiff gestiegen bin. Sicher, ich habe vorher nicht hier gelebt, aber ich wette darauf, daß keiner von euch soviel von Everon gesehen hat wie ich in der Zeit, seit ich Beaus Lager verließ, bis ich hier eintraf!“

Plötzlich hielt es ihn nicht mehr in seinem Schlafsack, so stark wurde die Erinnerung. Er befreite sich, stand in seiner zerknitterten Hose und einem ebensolchen Hemd vor ihnen und berichtete ihnen über den Wisenttrieb und seinen langen Ritt auf Mikey.

„… Aber zwischen mir und Everon ist es mehr als das“, endete er. „An meinem ersten Tag hier stand ich auf der Veranda des Konnetabels und sah einem Gewitter zu, das sich in einen Hagelsturm verwandelte, und schon damals spürte ich etwas davon. Vielleicht waren es diese acht Jahre, in denen ich zusammen mit Mikey aufgewachsen bin, wie ich sagte. Ich weiß es nicht. Aber diese Welt und ich können auf eine Weise miteinander sprechen, die ich euch nicht zu erklären vermag.“

Er hielt inne, beinahe ebenso erstaunt über seine eigenen Worte, wie sie es sein mußten, sie zu hören. Plötzlich überkam ihn Verlegenheit, und er brachte seinen Vortrag schnell zu Ende.

„Deshalb ist es auch meine Angelegenheit, was die Wisentzüchter und die Waldleute und die Beamten unten in der Stadt tun. Ich könnte mich nicht abwenden und mich aus der Suche nicht einmal dann heraushalten, wenn ich es wollte.“

Jef schwieg und dachte, daß er, statt mit einem starken, überzeugenden Argument zu schließen, mehr oder weniger aufgehört hatte, weil sein Pulver verschossen war. Halb und halb rechnete er damit, daß Jarji in dem Augenblick, wo er den Mund schloß, über ihn herfiel, um ihm seine Worte in den Hals zurückzustopfen. Aber das tat sie nicht. Sie stand nur da und betrachtete ihn stirnrunzelnd.

„Diese deine Sensitivität ist bemerkenswert“, ließ sich Martin nach sehr kurzem Schweigen hören. „Und nun verrätst du uns vielleicht, wie sie dir zu Kenntnissen über all die wirtschaftlichen und politischen Streitigkeiten verholfen hat, in die sich die Waldleute, die Wisentzüchter und all die Herren und Damen der Regierung unten in Everon-Stadt verwickelt haben. Vielleicht ist dein tieferes Verständnis genau das Instrument, mit dem der Wirrwarr an Feindseligkeit und Konkurrenz, der uns den Atem nimmt, durchschnitten werden und mit dem eine sofortige Lösung, für alle akzeptabel und gerecht, hervorgebracht werden kann!“

Jef öffnete den Mund, dann schloß er ihn wieder. Aber Jarji sprach Martin an.

„Du solltest es ihm lieber erzählen, statt dich über ihn lustig zu machen, weil er nicht Bescheid weiß!“ verlangte sie.

„Es ist nichts, was er in einem Tag lernen könnte – und erst recht nicht in ein paar Minuten“, antwortete Martin.

„Woher willst du das wissen?“ Sie richtete den Blick wieder auf Jef. „Ich habe dir gerade gesagt, es führen nicht alle Krieg. Die meisten Waldleute können gut mit ihren Mitmenschen auskommen. Ebenso ist es bei den meisten Wisentzüchtern, auch wenn sie sich zum größten Teil nicht die Mühe gemacht haben, die Dinge von einem anderen Standpunkt als ihrem eigenen zu durchdenken. Aber den Haß ständig schüren, das tun Beau und seine Gruppe und die landgierigen Rancher und die Politiker, und wenn ein Problem sich erledigt, schaffen sie neue. Sicher, du müßtest zehn Jahre hier leben, um zu lernen, wer gegen wen und wer mit wem und aus welchem Grund arbeitet, wie er sagt…“

Sie wies mit dem Daumen auf Martin.

„… aber alles, was du wirklich wissen mußt, ist, daß es nicht die richtigen Pflanzer sind, nicht diejenigen, die auf dieser Welt gern vierzig Generationen von Nachkommen gedeihen sehen möchten. Es sind die Ausverkäufer, die jedem anderen das Leben schwermachen.“

„Die Ausverkäufer?“ fragte Jef. Das Wort kam ihm fremd auf seiner Zunge vor.

„Das Wort in seiner wörtlichen Bedeutung. Du weißt wohl überhaupt nichts, wie?“ rügte Jarji ihn. „Du glaubst, wenn Menschen hinausziehen, eine neue Welt zu kolonisieren, dann haben sie nichts als Sternenglanz in den Augen und den edlen Pioniergeist im Herzen? Ja, natürlich glaubst du das. Das denken sie alle auf der Erde, denn so wird es in all den Anzeigen und Zeitungsartikeln behauptet. Aber laß es dir gesagt sein: Keiner von ihnen hat irgendeines edlen Gefühls wegen sein Leben mit allen Wurzeln ausgerissen, um in der Wildnis noch einmal ganz von vorn anzufangen. Meine Eltern sind nach Everon gekommen, weil sie in irdischer Luft nicht atmen, weil sie sich – auch wenn beide arbeiten – nicht mehr als eine drittklassige Wohnung leisten konnten. Sie kamen hierher, weil sie sahen, es gab auf der Erde keinen anständigen Ort, wo ich und meine Brüder und Schwestern aufwachsen konnten. Sie kamen nach Everon und gingen durch die Hölle, um am Leben zu bleiben und sich etwas aufzubauen, nur damit ihre Existenz einen Sinn bekam – und damit auch wir, ihre Kinder, einen Sinn in unserer Existenz finden sollten.“

Sie hielt inne.

„Ich verstehe“, sagte Jef.

„Nein, das tust du nicht. Du meinst nur, daß du es verstehst. Jetzt hör mir zu!“ verlangte Jarji. „So sind wir – wir Hillegas und die anderen richtigen Pflanzer. Aber außer uns haben sich auch andere Leute hier angesiedelt, und denen ging es um ganz andere Dinge. Einige von ihnen, wie der Konnetabel und – nun ja, vielleicht auch Beau, obwohl er, wie ich sagte, anfangs gute Gründe für das hatte, was er tat –, kamen nach Everon, weil sie das Kommando übernehmen wollten. Auf der Erde hätten sie niemals eine Gelegenheit dazu bekommen, aber sie rechneten sich aus, daß es ihnen hier möglich sein würde. Andere kamen, um reich zu werden, und sie hatten von Anfang an die Absicht, nur so lange zu bleiben, bis sie etwas aufgebaut hatten, um es dann auszuverkaufen und weiterzuziehen.“

„Auszuverkaufen? Aber man kann planetare Währung nicht auf eine andere Welt transferieren, ohne daß sie ihren Wert verliert“, wandte Jef ein, „ausgenommen vielleicht einige der harten irdischen Währungen und interstellare Kredits – und Privatpersonen können keine interstellaren Kredits benutzen. Nur eine Bank oder eine Regierung …“

„Wie dick ist eigentlich das Brett vor deinem Kopf?“ erkundigte sich Jarji. „Es gibt mehrere Millionen Wege zu kassieren, wenn jemand etwas hat, für das sich wirklich zu kassieren lohnt, und je länger man etwas behält, das man seit dem Anfang der Kolonisierung entwickelt hat, desto mehr kann man dafür bekommen. Für jeden einzelnen von meiner Art gibt es Tausende, die nicht den Mumm haben, sich für die erste Einwanderungswelle zu melden. Aber sie haben die Mittel – in irdischen und anderen Weltwährungen –, in Ruhe abzuwarten, bis ein Planet entwickelt und sicher ist. Dann kaufen sie sich in aller Bequemlichkeit an, und je mehr Geld sie haben, desto länger können sie darauf warten, es auszugeben. Verdammt noch mal, wußtest du nicht, daß es auf der Erde richtige Schwarzmarktbörsen gibt, wo man illegale Währungen transferieren oder auf der Stelle Angebote für Land in jedem Entwicklungszustand auf jedem beliebigen Planeten bekommt? Und wenn es so etwas gibt, wie kannst du dann noch bezweifeln, daß mit der ersten Welle Leute kommen, die nur die Absicht haben, sich etwas aufzubauen und auszuverkaufen, dann zur nächsten Welt weiterzuziehen, die sich ihnen bietet, und es von neuem zu tun? Mach das dreimal hintereinander und sorge dafür, daß es sich lohnt, und dann kannst du auf der letzten Welt wie ein König leben.“

Sie machte eine Pause und betrachtete ihn forschend.

„Natürlich braucht man dazu Nerven“, fuhr sie fort, „mehr Nerven, als die späteren Käufer haben. Aber ist es ein Wunder, daß es hier einige Leute gibt, die für nichts als sich selbst und ihren eigenen Profit auch nur einen Pfifferling geben und denen es nichts ausmacht, anderen alles kaputtzumachen, nur damit ihr hiesiger Besitz so wertvoll wie möglich wird, bis die Zeit kommt, daß sie ihn ausverkaufen können?“

„Nein“, sagte Jef. Natürlich hatte sie recht.

„Ja“, fiel Martin ein, „im Prinzip ist es schon so, wie Jarji sagt. Aber mit Situationen wie dieser hier kann man nicht im Prinzip fertig werden. Es geht um die Auswirkungen dieses Prinzips – und die sind nicht so einfach.“

Jef wandte sich ihm zu.

„Du behauptest wohl immer noch, ein John Smith zu sein, was?“

„Ich bin ein John Smith.“ Martin begegnete offen seinem Blick.

„Der Konnetabel glaubt nicht daran. Beau hat ein völlig anderes Bild von dir. Und was sie beide denken, stimmt mit den anderen Ausweispapieren überein, die ich gefunden habe.“

„In meinem Gepäck, und bis heute ist dir nicht der Gedanke gekommen, daß es unrecht von dir war, meinen Koffer zu durchsuchen“, sagte Martin.

Jef geriet in Verlegenheit. „Du mußt zugeben, daß du nicht wie ein John Smith aussiehst oder handelst.“

„Das hast du schon einmal gesagt“, bemerkte Martin nachsichtig.

„Aber was du wirklich meinst, ist, daß ich nicht so aussehe und handle, wie du dir einen John Smith vorgestellt hast. Und sowohl Jarji als auch ich haben dich gerade darauf hingewiesen, wie wenig deine Vorstellung von den Dingen mit den Tatsachen gemein hat.“

„Wenn du zu den leitenden Leuten des Ökokorps gehörst, warum unternimmst du nichts gegen das, was hier vorgeht, statt dich bei dem Konnetabel anzubiedern und dich von Beau anwerben zu lassen und in beiden Fällen vorzutäuschen, du seist jemand, der du nicht bist?“

„Weil die Sache nicht so einfach ist – wie ich dir immerzu erzähle“, antwortete Martin. „Nicht nur hier auf Everon. Auch auf der Erde nicht. Nirgends, wo unsere menschliche Rasse zu finden ist.“

„Du hast die Autorität und die Macht …“

„Genau das ist es, was ich nicht habe“, behauptete Martin. „Nicht de facto.“

Jef starrte ihn an.

„Oh, natürlich, in der Theorie haben Leute wie ich die Macht. Aber kannst du dir vorstellen, was auf der Erde ebenso wie hier passieren würde, wenn ich nichts Klügeres zu tun wüßte, als über eine Welt wie diese, auf der Milliarden Kredits angelegt sind, die Quarantäne zu verhängen? Theoretisch habe ich die Macht, jede böse Tat zu bestrafen. Aber in der Praxis muß ich bei allem, was ich tue, mit den verfügbaren Winden segeln. Hast du gemeint, wir seien Helden, wie sie die Werbung darstellt, wir John Smiths? Ganz im Gegenteil! Wir sind ausgebildete Bösewichte, jawohl, das sind wir, und messen unseren Erfolg an dem Ausmaß unserer Schurkereien, die wir für das ausüben, was unserer Meinung nach – obwohl wir nie sicher sein können – die gerechte Sache ist.“

Die Gefühlsaufwallung, die Jef aus seinem Schlafsack getrieben hatte, verebbte. Seine Knie wurden so schwach, daß sie zu zittern begannen.

„Ich muß mich hinsetzen“, murmelte er. Er blickte ringsum. „Warum setzen wir uns nicht ans Feuer?“

Er ging zum Feuer voraus und ließ sich daneben nieder. Es tat gut zu sitzen, und die Hitze des Feuers war angenehm für seinen Körper, der bis eben in der warmen Hülle des Schlafsacks gesteckt hatte.

Martin und Jarji gesellten sich zu ihm. Jef erhielt von hinten einen Stoß gegen die linke Schulter und entdeckte, daß Mikey aufgestanden war und nun quer hinter ihm lag. Jef lehnte sich an die festen Muskeln seiner Flanke.

„Es tut mir leid“, sagte Jef zu Martin, „aber ich kann einfach nicht glauben, daß du das bist, was zu sein du behauptest.“

„Da hast du eine Menge Gesellschaft“, war alles, was Martin anstelle einer Erklärung anzubieten hatte.

Doch nun hatte Jarji sich der anderen Seite angeschlossen.

„So ist es richtig“, sprach sie Jef ironisch an. „Du weißt zwar überhaupt nichts darüber, aber was macht das schon? Hauptsache ist, daß du eine feste Meinung darüber hast.“

„Ich bin bereit, ihm zuzuhören“, erklärte Jef hartnäckig. „Bisher hat er mir noch gar nichts gesagt.“

„Hast du ihn darum gebeten?“

„Sieh mal, ich habe vielleicht keine so flinke Zunge wie ihr beiden …“ begann Jef.

„Hast du ihn jemals darum gebeten?“

„Schon gut.“ Jef wandte sich Martin zu. „Erkläre mir, warum du wirklich ein John Smith bist.“

Martin hob die Augenbrauen.

„Ich nehme an, das ist eine Frage?“

„Natürlich.“

„Dann werde ich dir in diesem Geist antworten.“ Martin nahm einen halbverbrannten Zweig auf und benutzte ihn dazu, das Feuer zu schüren. „Ich bin ein John Smith, weil ich die Arbeit eines John Smith tue – und zwar auf die einzige Art, die mir oder irgendeinem anderen möglich ist.“

„Warum kannst du deine Arbeit nicht so tun, wie man es von dir erwartet? Wer hindert dich daran?“

„Die menschliche Rasse hindert mich daran“, erwiderte Martin. „Jarji hat dir die Wahrheit über die Menschen gesagt, die eine neue Welt kolonisieren. Aber so geht es nicht nur auf Everon zu. Diese Probleme gibt es auf allen bewohnten Welten – besonders auf der Welt, die wir Erde nennen. Wenn du dir das vor Augen hältst, wirst du einsehen, daß ich meine Aufgaben nicht so erfüllen kann, wie es nach deiner Meinung und der phantasiebegabter Berichterstatter von der Regenbogenpresse richtig wäre.“

„Ich verstehe ja, daß du Schwierigkeiten hast“, wandte Jef ein. „Ich verstehe nur nicht, warum du überhaupt nicht daran denkst, deine dir vom Gesetz verliehene Macht einzusetzen.“

Martin seufzte leise und blickte in das Feuer.

„Du bist auf der Erde aufgewachsen. Wie geht es dort zu? Ich weiß, es ist nicht leicht, etwas mit dem notwendigen Abstand zu betrachten, wenn man selbst mitten drinsteckt. Aber du bist jetzt seit kurzer Zeit hier auf Everon, und du erhebst den Anspruch, dadurch über dich selbst hinausgewachsen zu sein. Sag mir, was du von deinem jetzigen Standpunkt aus über die Erde denkst.“

„Nun, natürlich ist sie dicht bevölkert“, antwortete Jef, „besonders im Vergleich zu einer völlig offenen, neuen Welt wie dieser. Das versteht sich von selbst.“

Er hielt inne. Weder Martin noch Jarji sagten etwas.

„Natürlich ist sie dicht bevölkert“, setzte Jef von neuem an. „Wenn du willst, ist sie überbevölkert – per Definition. Es gibt zu viele Menschen und nicht genug Raum. Deshalb werden den Leuten zu viele Beschränkungen auferlegt. Deshalb ist der Konkurrenzkampf unglaublich hart, und es ist nur sehr wenig davon übriggeblieben, was die wilde Erde früher einmal war – verglichen mit einer Welt wie dieser, wo alles noch reine Natur ist. Wir leben zu Hause auf Beton und innerhalb von Wänden. Es geht nicht anders. Wir atmen künstlich gereinigte Luft, weil es keine atembare Luft gibt, die nicht künstlich gereinigt wurde. Das Wetter muß kontrolliert werden, damit die Ernten gesichert sind. Dem allen müssen die Menschen sich anpassen, oder wir hätten ein Chaos.“

Jef sprach mit einem Gefühl der Erleichterung, das er gar nicht in sich vermutet hätte. Er sprach Dinge aus, die er nie zuvor erwähnt hatte, und ihm kam plötzlich der Gedanke, daß er sich seit vielen Jahren gewünscht hatte, darüber zu reden.

„Die Menschen …“ fuhr er fort. „Vielleicht ist es nicht ihre Schuld, aber wenn der Konkurrenzkampf hier schon hart ist, dann ist er auf der Erde doppelt so hart. Nur wird er hier mit heißem Blut geführt und dort mit kaltem. Auf der Erde trampelt man über seine Mitmenschen hinweg, weil man weiß, die Maschinerie wird den verschlingen, der unten liegt, und wenn es nicht der andere ist, dann wirst du es sein. Niemand spricht dort über Nachbarschaftshilfe – das Wort selbst ist unbekannt. Es ist kein Raum für Nachbarschaftshilfe, selbst wenn jemand den Wunsch hätte, sie zu praktizieren.“

Er sah zu Jarji hinüber.

„Erinnerst du dich, daß du zu mir sagtest: ,Hier nennen wir es Nachbarschaftshilfe’ oder so ähnlich, als ich dich fragte, warum du mit mir zu Beaus Lager gehen wolltest? Du weißt, daß ich nicht richtig verstand, was du mit diesem Wort meintest. Mir ist niemals von irgendwelchen Nachbarn geholfen worden. Ich habe nie echte Freundlichkeit zwischen Fremden kennengelernt. Um dir die Wahrheit zu sagen, jetzt, da ich mir die Zeit nehme, darüber nachzudenken, erkenne ich, daß ich unter gar keinen Umständen zwischen verschiedenen Einzelpersonen echte Freundlichkeit beobachtet habe, ausgenommen innerhalb meiner eigenen Familie. Es ist nicht so, daß die Leute absichtlich unfreundlich wären, es liegt einfach daran, daß jeder seine Kraft im Kampf um das Überleben und Verdienen so erschöpft, daß ihm für Freundlichkeit keine mehr übrigbleibt.“

Er machte eine Pause und lauschte auf den Widerhall seiner eigenen Worte in seinem Kopf.

„Du hast ganz recht, es ist kein sehr glückliches Leben auf der Erde“, sprach er weiter. „Oh, vielleicht ist es recht angenehm für die Leute an der Spitze – die politischen Führer, die Leute, die die Macht in Händen halten. Nein, das nehme ich zurück. Nicht einmal für diese Leute ist das Leben schön, denn selbst wenn sie sich an der Spitze befinden, handeln und feilschen sie mit anderen Mächtigen um das, was sie wollen, und am Ende werden sie von der Maschinerie ergriffen wie jeder andere auch. Ja, bei Gott!“

Er fuhr plötzlich zu Martin herum.

„Diese Maschinerie ist es – die Maschinerie der Gesellschaft, der Regierung – die der eigentliche Schurke auf der Erde ist!“

Martin nickte.

„So ist es tatsächlich. Ich kenne die neuesten Zahlen nicht, aber vor weniger als einem Dutzend Jahren arbeiteten über dreißig Prozent der in Lohn und Brot befindlichen Bevölkerung für das eine oder andere Organ der Regierung. Etwas über zwanzig Prozent waren im privaten Machtbereich tätig – bei den Banken, den großen Konzernen –, zwanzig Prozent waren in privaten Stellungen oder illegal. Es ist eine weltweite Verflechtung von Organisationen und Bürokratien auf unserer heutigen Erde, und wenn die Rädchen dieser Maschinerie auch aus Menschen bestehen, so verfügt sie selbst doch nicht über menschliche Gefühle oder Reaktionen.“

Er stocherte im Feuer. Jef wartete darauf, daß er noch mehr sagen würde, aber das tat er nicht. Jef öffnete den Mund zum Sprechen, stellte jedoch fest, daß er eigentlich nichts zu sagen hatte. Der Schreck über seine emotionale Reaktion auf Martins vorhin gestellte Frage saß ihm immer noch in den Knochen.

„Gibt es denn keinen anderen Weg?“ fragte er schließlich.

„Ich weiß es nicht.“ Martin warf den Stock ins Feuer. „Aber es muß ein anderer Weg gefunden werden, oder es gibt keine Rechtfertigung für die Existenz der menschlichen Rasse. Sollen wir nichts anderes sein als eine vernichtende Seuche, die über das Universum herfällt? Wir können nur darauf hoffen, daß ein anderer Weg entdeckt wird – vielleicht auf einer der neuen Welten. Dort liegt unsere Hoffnung.“

„Unsere Hoffnung?“ wiederholte Jef.

„Natürlich.“ Martin hob den Blick vom Feuer und richtete ihn auf Jef. „Ich kann die Arbeit nicht tun, für die ich ausgebildet und hinausgeschickt wurde. Das Ökokorps ist eine Bürokratie – es kann gar nichts anderes als eine Bürokratie sein, wie du es ausgedrückt hast. Es ist eine von vielen Organisationen. Wenn man bis auf den Grund der Dinge geht, dann kümmert es das Ökokorps nicht wirklich, was auf Everon oder irgendeiner anderen Welt geschieht. Das einzige echte Interesse des Korps ist, daß es selbst für immer bestehen bleibt, daß es mächtiger und mächtiger wird, daß es sein Personal ständig erweitert, mehr und mehr Reichtum und Rohstoffe kontrolliert. Abgesehen davon hat es keine Wünsche – und keine Moral. Ebenso ist es mit den Menschen, die innerhalb dieses Mechanismus’ die Macht ausüben, denn andernfalls würden sie nicht lange an der Macht bleiben. Andere, für die die Seelenlosigkeit der Organisation eine Selbstverständlichkeit ist, würden sie schnell ersetzen, denn sie wären für diese Positionen besser geeignet.“

Er machte eine Pause. Jef fiel immer noch nichts ein, was er hätte sagen können.

„Deshalb kann ich nicht unter Pauken und Trompeten illegale Praktiken auf Everon anprangern“, sagte Martin. „Ich kann es nicht, denn wenn man diese illegalen Praktiken bis dahin zurückverfolgt, wo sie angefangen haben, dann findet man ihre Wurzeln in genau den Organisationen und bei den Führungskräften in diesen Organisationen, die mich hierhergeschickt haben. Meine Vorgesetzten werden es sich nicht gefallen lassen, daß ich ihnen die Nase aus dem Gesicht schneide. Oh, nicht daß sie selbst das Gesetz brechen würden. Aber es gibt unendlich viele Möglichkeiten, mir unter Beachtung aller Vorschriften den Wind aus den Segeln zu nehmen.“

„Dann – dann kannst du ebensowenig tun, als wenn du überhaupt nicht hier wärst“, warf Jef ein.

„O nein, so ist es nicht!“ Martin grinste dünn. „Ich kann immer noch einiges tun. Ich kann damit durchkommen – illegal. Und ich tue es. Unter dem Deckmantel zu sein, was ich nicht bin, arbeite ich mit Methoden, die meine Deckidentität ganz besonders ablehnt und verdammt, für jene Sache, an die ich glaube.“

Jef schüttelte den Kopf.

„Und was ist die Sache, an die du glaubst?“ fragte er endlich.

„Ich glaube“, erklärte Martin mit Nachdruck, und er blickte dabei von Jef zu Jarji und wieder zurück, bevor er fortfuhr, „ich glaube, daß es einen Ausweg gibt. Ich glaube, daß die Menschen etwas Besseres verdienen als das Elend, in das man sie auf der Erde gebracht hat. Wenn wir sie nur lange genug am Leben halten können, dann werden sie eine Möglichkeit finden, mehr zu sein als selbstsüchtige Tiere in Kleidern. Das ist meine wirkliche Aufgabe. Ich tue, was ich kann, um bis zu diesem Tag die Dinge am Laufen zu halten.“

„Und was tust du?“ fragte Jef. „Und was hat das alles mit mir zu tun – oder mit Jarji?“

„Ein geteiltes Geheimnis“, verkündete Martin mit seinem gelegentlichen sparsamen Grinsen, „ist kein Geheimnis mehr. Du mußt dich mit der Tatsache zufrieden geben, daß ich dein Freund bin.“

„Trotzdem …“ begann Jef und wurde unterbrochen, weil Mikey mit seinem dicken Kopf wieder gegen seine Schulter schubste. „Mikey – nicht jetzt!“

Jef drehte sich um und empfing plötzlich eine starke Gefühlswelle von dem Maolot, ebenso deutlich wie seine Wahrnehmungen, die er während des langen Rittes und des Wisenttriebes zu empfangen gelernt hatte.

„Was ist?“ fragte Jarji scharf.

„Ich glaube, er möchte, daß ich diesen Ort wieder verlassen.“ Jef sah immer noch zu Mikey hin. „Nein, Mikey. Nicht jetzt. Morgen vielleicht.“

Mikeys geschlossene Augen bohrten sich genau in Jefs Gesicht. Die von ihm ausstrahlende Gefühlswoge intensivierte sich.

„Morgen!“ sagte Jef laut zu ihm. „Ich bin nach unserm letzten Gewaltmarsch gerade erst wieder zu mir gekommen. Ich muß mich noch ausruhen, ich muß essen …“

Er brach ab und blickte ringsum. Es war später Nachmittag, und das Blau des Himmels stumpfte im Osten zu Grau ab.

„Mikey, ich muß essen und mich ausruhen.“

Jef war sich gar nicht sicher, wie er es fertigbrachte, präzise Informationen aus dem emotionalen Fluß herauszulesen, den er von Mikey empfing. Aber er hatte den sehr deutlichen Eindruck, daß Mikey nicht nur zu sofortigem Aufbruch drängte, sondern daß es auch Gründe dafür gab, Jef auf keinen Fall etwas essen zu lassen.

„Warum nicht?“

Er erhielt keine Erklärung, nur ein neues, überwältigendes Drängen zum Aufbruch, und zwar ohne gegessen zu haben.

„Er möchte, daß ich gleich aufbreche.“ Jef drehte sich hilflos zu Jarji und Martin um. Sie sahen ihn lange schweigend an, und dann sprach Jarji.

„Und was willst du tun?“

Jef öffnete den Mund, holte tief Atem und schüttelte den Kopf.

„Ich weiß es nicht – wirklich nicht.“ Langsam stellte er sich auf die Füße, denn Mikey stand auch auf. „Ich kann ihn nicht im Stich lassen. Aus irgendeinem Grund ist es ihm wichtiger als alles andere. Ich weiß nicht warum – aber ich muß gehen.“

„Warte eine Minute.“

Jarji trat an den Haufen aus Vorräten und Ausrüstungsgegenständen, der ein kleines Stück vom Feuer entfernt lag. „Ich packe ein paar Lebensmittel für dich zusammen.“

„Keine Lebensmittel – auch da weiß ich nicht, warum“, lehnte Jef ab. „Mikey tut, als handele es sich um Leben oder Tod. Es tut mir leid. Jedenfalls danke.“

Steif kletterte er dem wartenden Mikey auf den Rücken. Jarji war stehengeblieben und hatte sich halb zu ihm umgedreht. Ihr Gesicht war hart.

„Bist du sicher, daß dein Gehirn richtig arbeitet?“ wollte sie wissen.

„Ich bin sicher.“ Jef saß jetzt oben. „Es tut mir wirklich leid, Jarji. Ich muß aber einfach mit ihm gehen, ganz gleich, wie verrückt das zu sein scheint. Es ist nicht nur so, daß ich es ihm nach all diesen Jahren schuldig bin. Nach diesem Ritt, von dem ich euch erzählt habe, weiß ich, daß er seine Gründe für das hat, was er von mir verlangt. Ich kenne diese Gründe nicht, aber ich weiß genau, daß es gute Gründe sind.“

Jef blickte von ihr zu Martin.

„Vielleicht seht ihr mich wieder, bevor ihr es erwartet.“ Er versuchte zu grinsen.

„Hoffen wir das Beste“, sagte Jarji.

„Es wird schon gutgehen“, meinte Martin. „Ich habe das Gefühl, daß du deinem Mikey vertrauen kannst.“

Als seien diese Worte für ihn ein Signal gewesen, machte Mikey kehrt und lief durch die Bäume davon. Er folgte dem Lauf des Baches, an dem sie Lager gemacht hatten, flußaufwärts. Er würde sie durch den Paß führen, hinter dem es in die Berge ging.

Jef konnte nichts anderes tun als sich festhalten. Nach einiger Zeit erkannte er, wie Mikey wieder dafür sorgte, daß sich seine Arme und Beine instinktiv anklammerten. Er war also nicht in Gefahr herabzufallen, und er hatte keine andere Aufgabe, als zu reiten. Woher Mikey die Energie nahm, ihn so zu tragen, wo doch auch er keine Nahrung zu sich genommen hatte, war ihm ein Rätsel.

Nach einer Weile verblaßte das Tageslicht. Jef hielt sich, ohne eigens darüber nachzudenken zu müssen, auf Mikeys arbeitendem Rücken. Er schlummerte immer wieder ein, und schließlich versank er in tiefen Schlaf.