17

 

Jef wachte auf und stellte fest, daß Mikey stehengeblieben war. Zwinkernd blickte Jef in das dämmerige Licht rings um sie. Mikey setzte sich, und Jef glitt vom Rücken des Maolots. Er plumpste zu Boden, versuchte aufzustehen und grunzte, weil die Bewegung ihn schmerzte.

Sein Körper fühlte sich wie Holz an; jeder Muskel war verkrampft und tat ihm weh. Jef hinkte zu einem großen Stein und setzte sich.

Sie befanden sich in einer kleinen, felsigen Senke mit einem blauen See, die kaum größer als einen oder zwei Morgen war. Über den Wänden des Tals erhoben sich in allen Richtungen Berggipfel. Die Luft war kalt und dünn, und es war kurz vor Tagesanbruch, hell genug um etwas zu sehen, aber die Sonne war noch nicht aufgegangen. Nur vereinzelte koniferenartige Everon-Bäume unterbrachen das Geröll der Abhänge um den See. Als Jef den Blick auf das Wasser richtete, kräuselte ein leichter Wind die blaue Oberfläche, und eine Sekunde später berührten kühle Finger sein Gesicht und seine Hände.

Plötzlich empfand Jef schrecklichen Durst. Er erhob sich mühsam von dem Felsblock, taumelte die paar Schritte zum Wasser und ließ sich dort aufs Gesicht fallen. Er trank in tiefen Zügen. Das eiskalte Wasser ließ jeden einzelnen Zahn in seinem Mund schmerzen, aber sein Körper schien durch die Zufuhr von Feuchtigkeit wie ein Schwamm aufzuquellen.

Als er seinen Durst gelöscht hatte, setzte er sich auf und sah zu Mikey hin, der jetzt direkt hinter ihm stand.

„Wo sind wir?“ fragte Jef. „Was ist das für ein Ort?“

Er erhielt die Antwort, sie müßten noch ein Stück weiter. Mikey trat an Jef vorbei zum Rand des Wassers, duckte sich und trank ebenfalls. Er duckte sich wie eine Katze, aber er leckte das Wasser nicht, sondern saugte es ein.

„Warum machen wir dann hier halt?“ erkundigte sich Jef, als Mikey fertig war.

Mikeys blinde Augen richteten sich auf ihn. Der Eindruck von Unfähigkeit ging von ihm aus. Jef rätselte daran herum, und plötzlich verstand er.

„Du meinst, du kannst mich nicht länger tragen.“ Das Schuldbewußtsein überwältigte ihn. Wie erschöpft war er schon, und er war getragen worden! Sicher war Mikey jetzt unglaublich stark. Aber es mußte eine furchtbare Anstrengung für ihn gewesen sein, sich in ein Reittier zu verwandeln und über zwölf Stunden lang ein Gewicht von hundertachtzig irdischen Pfunden zu tragen. Und dazu hatte er vor wenigen Tagen eine noch schwerere Arbeit dieser Art vollbracht. Mikey hatte Jefs Reaktion erkannt und widersprach ihm.

„Ich verstehe nicht …“ begann Jef, und dann verstand er es doch. Es lag nicht daran, daß Mikey es lernte, sich verständlicher auszudrücken. Es war vielmehr so, als entwickle Jef eine stärkere Einsicht. Er begann, Mikeys Ausstrahlungen mit beinahe okkulter Geschicklichkeit zu interpretieren. Es war, als hätten ihm die Müdigkeit und das vom Hunger herrührende Gefühl der Leichtigkeit im Kopf die Fähigkeiten eines Sehers verliehen.

„Du meinst“, sagte er, „daß es dir von hier an nicht länger möglich ist, mich über das vor uns liegende Terrain zu tragen. Das geht in Ordnung. Mir wird es nur guttun, wenn ich zur Abwechslung einmal zu Fuß laufe …“

Er hörte seine eigenen Worte, als würden sie von jemand anders gesprochen, der ein kleines Stück weiter weg stand. Jetzt, da ihm der Gedanke einmal gekommen war, erschrak er richtig darüber, wie hungrig und müde er war.

„Aber ich weiß nicht, wie lange ich marschieren kann“, fügte er hinzu.

Ermutigung von Mikey.

„Wenn ich nur etwas zu essen hätte.“

Negativ. Jef sollte nicht nur nichts essen, es war auch nichts zu essen da.

„Kann ich mich zuerst eine Weile ausruhen?“

Das war erlaubt – für eine Weile. Auch Mikey wollte gern eine Pause machen.

Sie saßen in dem Tal, bis es am Himmel über ihnen völlig Tag geworden war und der See und die steinigen Abhänge die ihnen zustehenden dreidimensionalen Tiefen und Schatten bekommen hatten. Schließlich stellte Mikey sich auf die Füße. Jef versuchte, es ihm gleichzutun. Aber sobald er aufrecht stand, taumelte er, und er konnte sich vor dem Fallen nur bewahren, indem er sich an Mikeys breiter Schulter festhielt. „Nein, nein, mir fehlt nichts“, versicherte er dem Maolot.

Mikey setzte sich an die Spitze und hielt auf einen engen Spalt in den Felsen zu, die das hintere Ende der Senke abschlossen. Der Spalt führte zu einem schmalen Pfad oder Wechsel, auf dem sie nicht Seite an Seite gehen konnten. Der Weg, dem sie folgten, führte über steile Bergwände. Der Fels fiel auf der einen Seite scharf ab und erhob sich beinahe senkrecht auf der anderen. Die meiste Zeit kletterten sie mehr, als daß sie gingen. Abgesehen davon schritten sie oft über Kies oder kleine Steine, die wegrollten, wenn man den Fuß auf sie setzte. Ständig waren sie in Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren und einen Steilhang hinunterzufallen oder eine lange Schräge hinabzugleiten oder sich über eine Klippe zu Tode zu stürzen.

Trotz der Schwäche, die eine Folge seiner Erschöpfung war, mußte Jef sich bei diesem gefährlichen Boden jeden einzelnen Schritt, den er machte, genau überlegen. Es war eine ungeheure Anstrengung. Jeden Augenblick glaubte er, mehr als ein Dutzend Schritte schaffte er nicht mehr. Und doch ging er weiter und weiter. Mikey lief nun voraus. Seine vier Beine verliehen ihm bei diesem heimtückischen Boden größere Sicherheit. Während ihrer Wanderung stieg die Sonne höher, aber viel wärmer wurde es mit Voranschreiten des Tages nicht. Die Luft war dünn. Obwohl überall der blaue Himmel zu sehen war, zogen doch so viele Wolken darüber hin, daß kurze Perioden der Wärme, wenn die Sonne schien, innerhalb von Minuten unterbrochen wurden, sobald eine neue Dampfmasse ihre Strahlen blockierte. Ein leichter, kühler Wind blies stetig aus Nordwest.

Trotz allem vertrieben die körperliche Bewegung und die Augenblicke, in denen die Sonne sie wärmte, die Steifheit aus Jefs Muskeln. Der Schmerz, den ihm das Klettern bereitete, hörte auf, wichtig und ihm ständig bewußt zu sein. Er zog sich in die allgemeine Struktur der Dinge zurück. Jef nahm allmählich Notiz von dem Land, durch das sie reisten, und sah über den Fleck Boden hinaus, auf den er beim nächsten Schritt den Fuß setzen mußte.

Jetzt erst wurde Jef klar, daß er anders war als früher. Dies Anderssein war widersprüchlich: In dem einen Augenblick empfand er intensiv das Gefühl, innerhalb seines Körpers zu stecken, und gleichzeitig befand sich ein Teil von ihm außerhalb desselben. Jetzt, wo der Schmerz und die Müdigkeit aufgehört hatten, wichtig zu sein – sie waren immer noch da, aber es war leicht, sie zu ignorieren –, war er sich in einem Ausmaß, wie es ihm in seinem ganzen Leben noch nie begegnet war, physisch des Ansturms auf seine Sinne bewußt.

Das Sonnenlicht berührte ihn, sooft es auch unterbrochen wurde, durch die dünne Luft mit einer Wärme, die kostbar war wie geschlagenes Gold. Die kühle Brise war eindrucksvoll wie der Geschmack eines stark gerbsäurehaltigen, aber unvergeßlichen Weins. Das Tageslicht zeigte ihm überall eine Welt, die etwas wie eine zusätzliche Dimension besaß. Die festen Körper, auf die sein Blick fiel, schienen noch fester geworden zu sein, er nahm in Fels und Baum und Bergspitzen mehr wahr, als das Auge normalerweise entdecken konnte. Alle Gegenstände schienen sich in einem zusätzlichen rechten Winkel auszudehnen, was ihnen eine tesseraktähnliche Wirkung gab.

Die Geräusche, so wenige es waren – das Kollern der Steinchen unter seinen Füßen, das dünne Singen des Windes, der aus weiter Ferne kommende Ruf der vogelähnlichen fliegenden Geschöpfe Everons, hin und wieder das Summen eines Insekts –, klangen nicht nur voller, als er sie je vernommen hatte, sondern waren auch mit einer neuen Bedeutung geladen. Die Bedeutung konnte Jef noch nicht herauslesen, aber es war soviel mehr, als er früher in diesen Lauten gehört hatte, daß die Informationen, die er erhielt, mit dem Inhalt eines dicken Buches zu vergleichen waren, von dem er früher nur die kurzen Angaben auf dem Rücken und Deckel gekannt hatte.

Ebenso war es mit den Farben, die ihn umgaben. Ein flüchtiger Blick hätte nicht mehr erfaßt als eine eintönige Landschaft aus Felsen in dunklerem oder helleren Grau. Nur gelegentlich blitzte das Blau oder Silber einer Wasserfläche auf, das dunkle Grün der Hochlandvegetation oder das Graubraun der Baumstämme. Ein winziges Insekt mit grünen Schwingen, eine vogelähnliche Gestalt als ein Fleck dunklen Rots gegen den Himmel, der Himmel selbst mit seinem harten Blau, wie es die große Höhe mit sich brachte, und die unveränderlichen weißen Wattebälle der schnell dahinziehenden Wolken – mehr an Farbenpracht wurde Jefs Augen nicht geboten. Und doch hätte er auf alles, was er sah, nicht mit mehr Entzücken reagieren können, wenn er durch das Herz eines Regenbogens geschritten wäre.

Jede Farbe, die er fand, sang für ihn. Jede offenbarte ihm ihre ureigene Schönheit. Und unglaublich lebendig waren diese Töne. Zum ersten Mal in seinem Leben erkannte Jef, daß man keine Farbe als unveränderlich wahrnimmt. Jede einzelne Farbe wechselte ständig mit der winzigsten Änderung des Lichts, das auf sie fiel, jeder Wechsel fand in einem Sekundenbruchteil statt. Es sah so aus, als habe jede Farbe, auf die er blickte, ein eigenes atmendes Leben, währenddessen sie sich entwickelte – nicht nur in sich selbst, sondern in ihm, der sie von Sekunde zu Sekunde in neue Begriffe menschlichen Sehvermögens und menschlichen Gedächtnisses übertrug.

Auf einer ähnlichen Ebene vermittelten ihm die unbedeckten Teile seiner Haut starke, lebendige, pulsierende Empfindungen, was Temperatur, Druck und Textur anging. Diese Wahrnehmungen zusammen mit denen, die Auge und Ohr empfingen, verschmolzen miteinander zu einer Symphonie physischer Erfahrungen. Sie hallten aneinander wider, so daß Jef, wenn er einen Baumstamm betrachtete, an dem er in zehn Metern Entfernung vorüberkam, die Beschaffenheit seiner Außenhaut, die wächserne Schärfe seiner koniferenähnlichen Nadeln buchstäblich fühlen konnte. Der Druck und die Kühle der Luft auf seinen Lippen riefen einen Geschmack hervor, der gleichzeitig physisch nicht existent und doch unglaublich wirklich war, wie die stumme, aber reale Melodie, die Violinsaiten in eine andere Dimension senden mögen, wenn sie in ekstatischer Erwartung den Augenblick ersehnen, wo sie von begnadeten Fingern gespielt werden. Sogar die Müdigkeit und das Unbehagen seines Körpers bekamen für Jef einen Gehalt, der über die normale Perzeption hinausging, so daß selbst sie mit einer Botschaft beladen schienen, die sich der gewöhnlichen Kommunikationsmethoden entzog.

Und doch war er sich in diesen Augenblicken, als der ganze große Reichtum an bewußten Wahrnehmungen ihn überflutete, bewußt, daß er ein wenig abseits von sich selbst stand. Es war, ebenso wie der Überfluß an Sinneseindrücken, ein Gefühl, das ihm bisher ganz fremd gewesen war und das er am liebsten selbst jetzt noch als unmöglich bezeichnet hätte. Denn es war ein Widerspruch in sich selbst. Er genoß den Vorteil der Losgelöstheit, ohne losgelöst zu sein.

Die Losgelöstheit war von der Art, daß sie ihm ein gewaltiges Anwachsen der inneren Vision eröffnete. Ihm schien, sein Geist habe nie zuvor in seinem Leben soviel an Fähigkeit, Raum und Freiheit gehabt, das richtig zu verarbeiten, was das Leben vom Augenblick seiner Geburt an in ihn eingespeist hatte. Jetzt lag Zeitlosigkeit um alle Dinge und die Freiheit, mit ihnen zu arbeiten. Er war dem engen Gefängnis entronnen, das die logische Front seines Verstandes war, wo die Gedanken wie durch eine schmale Pforte einer nach dem anderen passieren mußten.

Jetzt sah er wie auf einer weiten Ebene alle Dinge, die er je gelernt oder erfahren hatte, sich aufeinander zubewegen, sich gegenseitig durchdringen. Er sah auf diese Ebene aus einiger Höhe hinunter, aber mit einer teleskopischen Sicht, die auch die kleinste Einzelheit deutlich zu erkennen vermochte. Alles, was er wußte, lag vor ihm ausgebreitet wie eine Horde durcheinanderlaufender Einzelwesen, und langsam, während er hinabsah, begann er zu trennen, zu kombinieren, und er schuf aus der formlosen Mannigfaltigkeit eine Ansammlung zusammenhängender Bedeutung. Allmählich gewann die Information Gestalt, wuchs zu einem Wissen, dessen Existenz er nie für möglich gehalten hatte, und versprach ihm Antworten, die über die gegenwärtige Konzeption hinausgingen. Es war eine Hoffnung, die ein infinitesimal kleines Universum zu etwas Grenzenlosem, Unendlichen und Ewigen in der Möglichkeit wie in der Dimension öffnete.

Sein Leben lag vor ihm ausgebreitet. Everon lag vor ihm ausgebreitet. In seiner Vorstellung konnte er mühelos den Hagelschauer sehen, den er von der Veranda des Konnetabels aus beobachtet hatte. Er sah die Wolkenbrüche, deren Wasserfluten, wie er gehört hatte, die von den Menschen auf Everon gebauten Dämme und Brücken weggespült hatten. Es bereitete ihm keine Schwierigkeit, das Bild des Sturms herbeizurufen, der die Ernten flachgewalzt, der Insektenplage, die Samen und junge Pflanzen vernichtet hatte. Mit seinem geistigen Auge konnte er dies alles jetzt sehen – und er sah es im Zusammenhang, integriert und in Beziehung gesetzt, während er zur selben Zeit physisch mit Augen, Ohren und Haut die Berglandschaft in sich hineintrank, durch die er in Mikeys Spuren mühsam und vorsichtig dahinwanderte.

Jef war immer noch ganz in das Wunder, das ihm geschah, versunken und staunte über die Tatsache, daß er sich dieses Wunders voll bewußt war, als sie endlich an einen Bergeinschnitt kamen, der ringsum bis auf den Eingang von mehrere hundert Fuß senkrecht aufragenden, nicht zu ersteigenden Wänden begrenzt wurde. Ein kleiner Bach entsprang unter einem großen Stein vor dem glatten Fels am Ende des Einschnitts. Sein Anblick rief Jefs Durst wieder wach.

Der Gedanke an Wasser beherrschte ihn so stark, daß er kaum zur Kenntnis nahm, was es am hinteren Ende des Tals sonst noch zu sehen gab. Vor der massiven Felswand, die ein Weitergehen unmöglich machte, saßen oder lagen ein halbes Dutzend erwachsene Maolots als warteten sie auf ihn und Mikey.

Jef hielt an, als er den Bach erreicht hatte, ließ sich an seinem Rand flach zu Boden fallen und trank in großen Zügen. Das Wasser war wie das des Sees eiskalt, und ihm, dessen Sinne immer noch übermäßig geschärft waren, schien es das herrlichste Getränk zu sein, das er je probiert hatte. Als sein Durst gestillt war, setzte er sich auf die Fersen und hielt Umschau.

Die Maolots am Ende des Tals warteten geduldig. Jef wußte nicht, ob Mikey ihm half oder nicht, aber er stellte fest, daß er jeden einzelnen Maolot mit etwas Anstrengung von einem Punkt aus betrachten konnte, der nur wenige Meter oder Zentimeter von ihm entfernt lag. Folglich betrachtete er sie – und wieder machte er die Erfahrung, daß sie ihm nicht gestatteten, ihnen in die Augen zu sehen. Diese Augen waren immer entweder geschlossen oder von ihm abgewandt.

Aber Mikey kommunizierte mit den Maolots.

Jef spürte, daß die anderen Mikey antworteten, doch konnte er sie nicht einmal in dem beschränkten Maß verstehen, wie er Mikey verstand. Jeder einzelne, so wurde ihm klar, unterschied sich in seiner Kommunikation auf subtile Weise von den anderen. Die individuelle Art jedes Maolots beeinträchtigte Mikeys Verstehen nicht, verwirrte aber Jefs menschlichen Verstand. Ihm ging es wie jemandem, der von einer bestimmten Person eine Fremdsprache gelernt hat und nun glaubt, er beherrsche sie mühelos, worauf er zu seiner Enttäuschung feststellen muß, daß es bei anderen Personen, mit denen er sich in dieser Sprache zu unterhalten versucht, individuelle Abweichungen gibt.

Ob sie jetzt weitergehen sollten, fragte Mikey die anderen.

Die Antwort, so bekam Jef mit, war zustimmend. Er stellte sich auf die Füße und schloß sich Mikey an. Zusammen gingen sie das Tal hinauf zu den Maolots. Bei den großen, wartenden Geschöpfen angekommen, die ihre Augen immer noch geschlossen oder abgewandt hielten, ging Mikey nach rechts zu einem vier Meter hohen Felsblock direkt hinter den Schildwachen.

Jef folgte Mikey um diesen Block herum und entdeckte, daß sich zwischen seiner Basis und der Felswand dahinter ein Zwischenraum befand. Der Stein verbarg eine dreieckige Öffnung in der Klippe, etwas wie einen natürlichen Tunnel, an dessen anderem Ende Tageslicht schimmerte. Über den Boden dieses Tunnels rann der Bach, aus dem Jef vorhin getrunken hatte.

Die Öffnung war gut zwei Meter hoch, der Tunnel nicht mehr als zehn Meter lang.

Mikey forderte Jef auf, ihm zu folgen. Jef, der am Eingang des Stollens gezögert hatte, setzte sich wieder in Bewegung. Im dunklen Inneren trat er in das fließende Wasser, und es schloß eiskalte Finger um seine Knöchel. Mikey war dicht vor ihm. Jef watete bachaufwärts weiter. Er spürte, wie die Strömung leicht an den durchtränkten Säumen seiner Hose zupfte. In der Mitte senkte sich die Decke, und er mußte den Kopf einziehen. Aber ein paar Schritte weiter hob sie sich wieder, und gleich darauf trat er hinaus auf eine offene Flanke, die zu einer Masse verwitterter Felsnadeln abfiel. Sie versperrten Jef den Ausblick auf das, was hinter und unter ihnen lag.

„Geh weiter“, drängte Mikey ihn.

Jef ging voraus, und Mikey kam hinter ihm her. Sie begannen mit dem Abstieg. Hier lagen wieder viele lose Steine am Boden, so daß sie bei jedem Schritt achtgeben mußten, wenn sie sich nicht einen Knöchel vertreten oder fallen wollten. Dann befand sich Jef inmitten der Nadeln aus verwittertem, grauweißem Fels. Er kam sich vor wie in einem steinernen Wald. Hier lagen die losen Steine noch tiefer und waren noch heimtückischer. Jef konzentrierte sich völlig auf seine Schritte. Im Vorbeigehen hielt er sich an den Felsspitzen fest und tastete sich nach unten. Einmal blieb er stehen, um Atem zu holen, und erst jetzt hob er den Kopf und sah, daß sich um ihn Nebel gebildet hatte. Er fand sich eingehüllt in ein weiches, weißes Dämmerlicht, das schon die nächsten Felsnadeln zu beinahe unsichtbaren, in vagen Umrissen aufragenden Formen machte. Sie glichen riesigen, nebelumhüllten Grabsteinen auf irgendeinem Bestattungsplatz.

Jef hielt sich an dem Stein fest, neben dem er stehengeblieben war, und drehte sich zu Mikey um – aber Mikey war nicht mehr zu sehen.

„Mikey!“ rief er.

Seine Stimme erstarb im Nebel; es kam keine Antwort.

Jef klammerte sich an den kalten Stein. Mikey war direkt hinter ihm gewesen. Kein Laut, kein Zeichen hatte angezeigt, ob ihm etwas passiert war. Jef öffnete den Mund, um noch einmal zu rufen, schloß ihn aber wieder. Statt dessen legte er seine ganze Kraft in ein unkörperliches Hinauslangen. Er versuchte, Mikey mit seiner neuen Fähigkeit zu finden, die in ihm seit seiner Landung auf Everon gewachsen war.

Nach einem Augenblick meinte er, Mikey zu spüren – aber in einiger Entfernung. Jef gab sich von neuem Mühe, die Lücken in der empathischen Verbindung zwischen ihnen zu überbrücken.

Schwach vernahm er eine Antwort von Mikey, ein Gefühl der Sorge und des Bedauerns, daß er diesmal nicht mit Jef zusammen sein könne. Es war nicht klar, aber Jef erhielt den Eindruck, Mikey forderte ihn auf, allein weiterzugehen.

Als er dies erfaßt hatte, wurde er ganz ruhig. Es war unvermeidlich, daß er von diesem Punkt an allein weiterging, das wußte er mit Gewißheit, es war seit dem Augenblick seiner Landung unvermeidlich gewesen. Alles, was er von da an getan hatte, seit Everon ihn, der oben auf der Landungstreppe stand, gefangennahm, hatte ihn zu diesem Zeitpunkt an diesen Ort geführt. Jetzt mußte er allein auf das zugehen, was von Anfang an auf ihn gewartet hatte.

Ein Gefühl des Friedens erfüllte ihn. Er atmete die feuchte Luft tief ein, sog sie bis in die Lungenspitzen. Er ließ den Felsen los, an dem er sich festhielt, und ging den Abhang hinunter.

Unterwegs wurde der Nebel dicker, und Jef wunderte das nicht. Der Nebel war ebenso ein Geschöpf dieses Augenblicks, wie es der Hagelschauer gewesen war, den er von der Veranda des Konnetabels aus beobachtet hatte, und jener andere Nebel, der das Mondlicht verdunkelte, ehe die Maolots die Wisentherde angriffen. Schon bald konnte Jef nur noch die ihm nächste Felsnadel erkennen. Dann sah er nichts mehr als Weiße. Er fuhr fort, sich seinen Weg zu ertasten, spürte, daß der Boden unter seinen Füßen immer noch nach unten abfiel. Schließlich stellte er fest, daß er jetzt entweder die Felsnadeln hinter sich gelassen hatte oder sich auf einer offenen Stelle befand, wo sie weiter von ihm entfernt waren. Minutenlang hatte er keine mehr berührt, und der Weg führte immer noch bergab.

Doch gerade, als er dies dachte, wurde der Abhang weniger steil. Jeder neue Schritt schien anzuzeigen, daß der Boden allmählich eben wurde. Die losen Steine wurden weniger, bis Jefs Stiefelsohlen immer öfter auf glatten Fels trafen. Zum Schluß schritt er über eine glatte, völlig ebene Oberfläche.

Eine Gefühlsübertragung von Mikey ließ ihn stehenbleiben. Er war da – wo das auch sein mochte.

Jef stand still. Einen Augenblick lang erkannte er nichts als den alles einhüllenden Nebel. Dann hoben sich die Schwaden und wurden dünner, rollten vor ihm zurück, als werde ein bis zum Himmel reichender Vorhang weggezogen und enthülle langsam ein weites Amphitheater. Jef stand in einem großen, kreisrunden Talkessel. Der Boden der Senke war frei von losen Steinen und offen. Ringsum an den Wänden erhoben sich die Felsnadeln, aber hier waren sie kurz abgebrochen, vom Frost der unglaublich harten Winter gestürzt und so geformt, daß sie wie massive, oben abgeflachte Säulen aussahen.

So weit Jefs Auge blicken konnte, waren die Felsen besetzt. Unter einem Himmel, der eisblau war, nachdem sich die letzten Nebelreste verzogen hatten, lag auf jeder Säule ein großer Maolot und sah auf Jef hinab. Und Jef brauchte nicht nach dem Namen des Tals zu fragen, das er endlich erreicht hatte.