Jef wurde so herumgeschleudert, daß ihm schwindelig wurde. Instinktiv faßte er nach oben, um sich an dem Hals festzuhalten, der den schweren Kopf trug, und die Haut und die Muskeln – Stahlbänder unter warmem, samtigen Fell – fühlten sich bekannt an.
„Mikey!“ grunzte Jef. Er wußte selbst nicht, wie er darauf kam, aber er war plötzlich überzeugt davon, daß es Mikey war und nicht irgendein wilder Maolot. „Mikey, bleib einen Augenblick stehen! Setz mich ab. Mikey!“
Doch Mikey hielt nicht an und setzte Jef nicht ab. Aber er verlangsamte seinen Lauf ein wenig, und Jef erhielt über diesen besonderen Kommunikationskanal zwischen ihnen den Eindruck, Mikey warte darauf, daß er sich hochziehe und auf den Rücken des Maolots schwinge. In diesen letzten Tagen war Mikey unglaublich gewachsen, und nun war er beinahe so groß wie ein völlig erwachsener Maolot. Ein so rapides Wachstum sollte eigentlich unmöglich sein, aber es war geschehen. Mikey war offenbar nicht nur groß genug, daß Jef auf ihm reiten konnte, sondern hatte auch mehr als die notwendige Kraft, um einen Reiter von Jefs Gewicht zu tragen. Jef strampelte heftig mit seinem linken Bein, und endlich gelang es ihm, eine Ferse über Mikey breites Rückgrat zu haken. Jef hangelte sich in sitzende Position auf diesem Rücken hoch.
Irgendwann bei diesem Vorgang hatte Mikey seine Zähne aus Jefs Gürtel genommen. Andernfalls wäre es Jef nicht gelungen, dem Maolot auf den Rücken zu klettern, aber ohne jenen festen Griff bestand für Jef die Gefahr, abgeworfen zu werden. Er legte sich flach auf Mikeys Rücken, drückte seine Beine mit aller Kraft gegen Mikeys Flanken und schlang die Arme um den Hals des Maolots.
Glücklicherweise war Mikey breit genug, daß der Ritt nicht zu unbequem wurde, und er bewegte sich jetzt in einem lockeren Trott.
Dazu federten die Knochen und Muskeln seiner Beine so geschmeidig von der Erde ab, daß Jef sich ohne besondere Schwierigkeiten oben halten konnte. Nach einer Weile beruhigte Jef sich und war zuversichtlich, daß er nicht hinunterfallen werde. Zum ersten Mal setzte er sich aufrecht hin und versuchte zu erkennen, wohin Mikey ihn brachte.
Es war ihm entgangen, wann die Baumwipfel über ihren Köpfen verschwunden waren, aber nun befanden sie sich nicht länger im Wald. Sie waren draußen im Grasland. So weit wie Jef unter dem Himmel, der in der ersten Morgendämmerung hell zu werden begann, sehen konnte, gab es in allen Richtungen nichts anderes als das mehr als schulterhohe Gras. Er war verblüfft, er konnte es kaum glauben, daß sie sich in so kurzer Zeit so weit von dem waldbestandenen Gebiet entfernt hatten. Zwar befand sich Beaus Hauptquartier ziemlich dicht an der Grenze des offenen Landes. Aber trotzdem war es unheimlich, daß der Wald nicht mehr zu sehen war.
Jef starrte auf den dicken Teppich hoher Vegetation, der auf beiden Seiten an ihnen vorbeipeitschte, und versuchte, Mikeys Geschwindigkeit zu schätzen.
Schon auf der Erde als halbwüchsiger Maolot war Mikey imstande gewesen, stundenlang mit einer Geschwindigkeit von dreißig bis vierzig Kilometern pro Stunde zu laufen. Das hatte er oft an den Wochenenden getan, wenn Jef mit ihm der Übung halber einen Staatspark oder ein Wildgebiet aufsuchte. Hier, wo er doppelt so groß wie zuletzt auf der Erde war und eine wahrscheinlich doppelte Schrittlänge hatte, mußte Mikey das Anderthalbfache dieser Geschwindigkeit erreichen, auch wenn er sich offenkundig nicht anstrengte.
„Wohin gehen wir, Mikey?“ fragte Jef in das rechte Ohr des Maolots. Keine Reaktion. Das Ohr zuckte nicht einmal, und die Empathie zwischen ihm und Mikey lieferte Jef keine Antwort auf seine Frage. Er gab es auf. Schließlich wurde er nur transportiert. Allein und zu Fuß wäre er hilflos und dem Tod geweiht gewesen. Hier draußen im Grasland gab es keine Nahrung – wenigstens nicht für ihn – und kein Wasser, abgesehen von den wenigen Seen, die die Variform-Wisente über Meilen hinweg riechen konnten. Doch Jef würde einen solchen See nicht einmal entdecken, wenn er weniger als hundert Meter entfernt hinter den Grashalmen verborgen lag.
Auf seinen eigenen beiden Füßen wäre Jef also verloren gewesen und hätte keine Hoffnung darauf haben können, den Rückweg in den Wald zu finden. Er konnte drei Minuten nach dem Aufbruch in eine bestimmte Richtung schon einen Kreis beschrieben haben, denn zwischen den Grashalmen sahen alle Richtungen gleich aus. Deshalb konnte er gar nichts anderes tun, als auf Mikeys Rücken zu bleiben und abzuwarten, wohin er ihn bringen wollte. Hoffentlich wurde es kein zu langer Ritt.
Das wurde es nicht – aber ein kurzer Ritt war es auch nicht. Anderthalb Stunden später, als die Sonne ein gutes Stück über dem Horizont stand und goldene Wellen über das Grün des Graslandes hinlaufen ließ, sah Jef vor sich eine dunkle Linie, die wuchs und sich zu einer Baumreihe entwickelte. Eine halbe Stunde danach liefen sie von neuem im Schatten dahin, und das Gras sank zu Mooshöhe hinab. Noch ein paar Sekunden, und von dem Grasland war nichts mehr zu sehen.
„Mikey“, sagte Jef, „ich könnte einen Fluß leer trinken. Wie steht es mit dir?“
Durch den Kommunikationskanal empfing Jef sofort eine wortlose Zustimmung. Weniger als fünf Minuten später brachen sie zwischen hochaufragenden, ulmenähnlichen einheimischen Bäumen einer Oberland-Spezies, die Jef nicht kannte, hervor und hielten am Rand eines seichten, schnellfließenden Baches an, der sich in einem keine zehn Meter breiten Bett durch Steinblöcke und über Kies hinwegwand.
Mikey setzte sich auf die Keulen, und Jef glitt hinab. Ohne jede weitere Verzögerung tranken sie beide. Mikey beugte sich vom Rand des Baches vor, und Jef lag in voller Länge neben ihm.
„Jetzt geht es mir schon wieder besser.“ Jef setzte sich schließlich auf und wischte sich die Feuchtigkeit von den Lippen. „Wenn es dir nur gelänge, irgend etwas heranzuschaffen, das ich essen könnte.“
Er spürte Bedauern und Betroffenheit von Mikey.
„Laß nur“, sagte Jef. „Ich werde in vierundzwanzig Stunden nicht gleich Hungers sterben. Übrigens auch in ein paar Tagen nicht – obwohl ich hoffe, so lange wird es nicht dauern, bis ich etwas zu essen bekomme. Aus welchem Grund hast du mich hierhergebracht, Mikey?“
Er empfing eine Art Erwiderung von Mikey, aber sie enthielt nichts, das Jef zu besserem Verständnis verholfen hätte.
„Ich verstehe dich nicht besonders gut“, sagte Jef. Ihm kam der Gedanke, daß es sich in Zukunft erübrigen mochte, laut mit Mikey zu sprechen. Vielleicht brauchte er nichts anderes mehr zu tun, als das, was er sagen wollte, zu denken. Dann meinte er jedoch, daß seine Gedanken, die er gewohnheitsmäßig immer verbal geordnet hatte, wahrscheinlich viel klarer ankamen, wenn er sie sowohl aussprach als auch dachte. Als er zu diesem Schluß gekommen war, erinnerte er sich daran, daß Mikey zu Hause auf der Erde ebenfalls die Gewohnheit gehabt hatte, so auf ihn zu reagieren, als wenn sie nur durch die Stimme miteinander kommunizierten. Schon allein aus diesem Grund erschien es ihm vernünftig, auch weiterhin seine Gedanken durch gesprochene Worte zu unterstützen, jedenfalls so lange, bis er selbst sich besser an die wortlose Unterhaltung auf Everon-Art gewöhnt hatte.
Seltsam daran war, so dünkte es ihn jetzt, daß er sich mühelos hatte vorstellen können, er und Mikey könnten sich ohne Zuhilfenahme der Stimme verständigen. Natürlich hatte die Tatsache, daß er immer schon vermutet hatte, etwas Derartiges spiele sich zwischen ihnen ab – auch, als sie noch auf der Erde waren –, es ihm erleichtert, diese Methode der Kommunikation ohne gedanklichen Widerstand zu akzeptieren. Trotzdem, eine solche Verständigung war jahrhundertelang ein Traum gewesen – und nun war er der erste, der ganz selbstverständlich damit umging. Darüber hätte er viel aufgeregter sein müssen.
Andererseits, so folgte eine neuer Gedanke wie das nächste Werkstück auf einem Fließband, Mikey selbst hielt diese wortlose Kommunikation offenbar für ganz selbstverständlich. Und ein großer Teil dessen, was der eine dem anderen übermittel hatte, war immer eher eine Emotion als eine Mitteilung gewesen. Wenn Mikey sich über diese Fähigkeit nicht aufregte, war es kein Wunder, daß auch Jef ganz ruhig blieb.
Jetzt, wo er Wasser zum Trinken gefunden hatte, machte sich die allgemeine Erschöpfung bemerkbar, die eine Folge der nächtlichen Abenteuer und der körperlichen Anstrengung des Rittes auf einem Maolotrücken war. Für den Augenblick hatte sich sein Hunger in das Reich des Unwichtigen zurückgezogen. Die Morgensonne erwärmte ihn angenehm. Jef hatte das Ufer des Baches verlassen und sich auf einen Flecken Moosgras gesetzt, das ihm bemerkenswert weich vorkam. Er gähnte.
„Ich glaube, ich halte ein Schläfchen, Mikey. Später rede ich mit dir. In Ordnung?“
Während er das sagte, legte er sich schon hin und streckte sich aus. Das Moosgras fühlte sich an wie eine feine Sprungfedermatratze. Die Wärme der Morgensonne umschmeichelte ihn wie eine weiche Decke. Er drehte sich halb auf die Seite und versank in Schlaf. Gerade, als er hinüberdämmerte, zog ihm ein letzter Gedanke durch den Kopf: Es treffe sich gar zu gut, daß er in einem Augenblick vom Schlaf übermannt werde, wo er eigentlich hätte hungrig und gereizt sein sollen. Eine Sekunde lang kam ihm der Hauch eines Verdachtes, daß vielleicht – obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wie – Mikey etwas damit zu tun hatte.
Dann war er eingeschlafen und träumte von einem Boot, in dem er über ein dunkelblaues Wasser an einen aufregenden, ersehnten Ort segelte.
Als er erwachte, hatte er das Gefühl, sehr lange geschlafen zu haben – und tatsächlich kündigte die Sonne längst nicht mehr den frühen Morgen, sondern schon den späten Nachmittag an. Jef fühlte sich behaglich verschlafen. Er blieb liegen und wartete ab, bis sein Bewußtsein voll zurückgekehrt war. Wie er sich zu erinnern glaubte, hatte er nach der Geschichte von der Bootsfahrt noch von vielen anderen Dingen geträumt. Er konnte es nicht ganz festhalten, um was es dabei gegangen war, aber er hatte das Gefühl, diese Dinge seien äußerst angenehm, tröstlich und aufmunternd gewesen, so etwa in der Art, als habe er den Weg zurück in das Heim seiner Kindheit und die Gesellschaft seiner engsten Angehörigen gefunden. So schön das gewesen war, es war außerdem – nur konnte er sich nicht erinnern, warum – sehr wichtig gewesen. Wichtig und voller Dinge, die er wissen mußte.
Jef begann sich zu erinnern – nicht genau an das, was er geträumt hatte, sondern ganz allgemein daran, um was es dabei gegangen war. Er hatte eifrig viele Dinge entdeckt, war in so mancher Beziehung zu den richtigen Schlüssen gelangt, und einige davon waren überraschend gewesen. Das war kein Wunder, denn obwohl er sie sich im Wachen nicht wieder ins Gedächtnis zurückrufen konnte, wußte er, daß sie für eine Reihe anderer Menschen erschreckend, wenn nicht abstoßend gewesen wären. Aber er hatte sie weder so noch so empfunden. Anscheinend hatte ihn seine lange Bekanntschaft mit Mikey darauf vorbereitet, diesen Dingen mit einem Minimum an Erschrecken gegenüberzutreten. Er hatte sie anders gefunden, das war alles.
Nun war er beinahe schon ganz wach. Er rollte sich auf die andere Seite und erblickte Mikey, der ihm, als habe er sich überhaupt nicht von der Stelle gerührt oder bewegt, seit Jef eingeschlafen war, seinen blinden Kopf wie beobachtend zukehrte.
Und natürlich, dachte Jef – klüger geworden durch seine Träume –, Mikey konnte ihn sehr gut sehen. Er brauchte seine eigenen Augen nicht. Er konnte jedes andere Paar Augen benutzen außer menschlichen und sogar einen Stein oder einen Holzstock benutzen, wenn diese sich für eine bestimmte Zeit an dem Ort befunden hatten, den er betrachten wollte. Diese Zeitdauer variierte von Objekt zu Objekt, aber im wesentlichen ging es darum, wieviel Minuten, Tage oder Jahre der Stock zum Verwittern, der Stein zum Einsinken in den Boden, auf dem er lag, benötigte … und so weiter. Das Konzept eines solchen Sehvermögens war gar nicht schwer zu begreifen; es lag nur außerhalb des normalen menschlichen Denkens.
„Hallo, Mikey“, sagte Jef.
Mikey erwiderte den Gruß, obwohl das, wie Jef erkannte, vom Standpunkt des Maolots aus völlig überflüssig war. Schließlich waren sie die ganze Zeit, seit Jef das letzte Mal zu ihm gesprochen hatte, beisammen gewesen, selbst während des Traums. Jef kam es zum Bewußtsein – nicht plötzlich, aber mit starker Überzeugungskraft –, daß er Mikey mit größerer Klarheit und mehr Verständnis empfing als vor seinem Einschlafen.
Jef stand auf, trank aus dem Bach, bewegte sich und brachte sich allmählich wieder in Schwung.
„Also, ich bin jetzt ganz wach“, sagte er dann zu Mikey. „Was nun? Ich glaube, ich sollte zurückgehen und mich überzeugen, ob Jarji nichts geschehen ist. Meinst du, Beau und die anderen könnten sie für das, was ich getan habe, verantwortlich machen?“
Mikey strahlte Beruhigung aus und dazu etwas anderes, eine Art Bild oder Szene, die Jef nicht richtig erkennen konnte. Doch die Bedeutung war ihm klar. Jarji war nichts geschehen, und Jef empfing den Eindruck, auch sie habe sich aus Beaus Lager entfernt und sei in seine Richtung unterwegs.
Auf gewisse Weise war es frustrierend, dachte Jef. Es war nämlich nicht so, daß er von Mikey den Eindruck empfing, sondern daß er sich plötzlich bewußt wurde, bereits einen Eindruck empfangen zu haben. Es war ungefähr so, als höre er Worte in einer ihm völlig unbekannten Fremdsprache und stelle dann fest, daß sein Gedächtnis die unverständlichen Laute bereits in Sätze seiner eigenen Muttersprache aufgelöst habe. Das war kein guter Vergleich für das, was ihm widerfuhr, dachte er bei sich, aber ein besserer fiel ihm nicht ein.
„Dann soll ich hier auf sie warten?“ erkundigte er sich bei Mikey.
Ein stark negativer Eindruck von Mikey. Er und Jef hatten etwas zu erledigen – auf der Stelle.
„Aber was denn, Mikey?“
Mikey stand auf und trat zu ihm.
„Oh“, sagte Jef. Von neuem kletterte er auf Mikeys Rücken, und dabei zuckte er ein wenig zusammen. Er hatte sich durch Training darauf vorbereitet, über die Oberfläche von Everon zu wandern, aber nicht, auf bloßem Maolot-Rücken darüber zu reiten. Die Innenflächen seiner Schenkel waren vom Anklammern an Mikeys Flanken steif und wund.
Doch in dem Augenblick, als er oben war, rannte Mikey schon los.