6

 

Jef starrte sie an.

Das war eine gute Frage. Warum wußte er es nicht?

„Niemand hat es mir gesagt“, antwortete er. Es hörte sich dumm an in dieser stillen Nacht, neben dem knisternden Feuer. Die Sprache des Mädchens hatte die gleiche Eigenart, die ihm schon bei dem Konnetabel und anderen aufgefallen war, das gelegentliche kurze Innehalten mitten im Satz. „Das ist dein Grund und Boden?“

„So ist es. Ich bin Jarji Jo Hillegas, und das hier ist meine Ranch – vom Silberfeld bis zum Unterbach. Mir gehören über sechshundert Stück Antilopen in diesen Wäldern. Alle Besitzungen hier herum sind Hillegas-Land. Meine älteste Schwester hat die nächste Ranch im Süden, der Bruder, der im Alter nach mir kommt, die Ranch gleich nördlich von mir. Das Land meines Vaters stößt im Osten an das von uns allen.“

„Oh“, machte Jef. „Du bist Antilopenzüchterin. Aber …“ – er zögerte – „… dafür bist du noch ziemlich jung, wie?“

„Ich bin zweiundzwanzig – Standardjahre.“

„Oh.“ Jef starrte sie immer noch an. Er wußte nicht recht, ob sie ihn vielleicht für einen Fremden hielt, dem man alles weismachen konnte. Auf gar keinen Fall, so sagte er zu sich selbst, konnte sie nur ein Standardjahr jünger sein als er. Nicht so, wie sie aussah.

„Und wer, zum Teufel, bist du?“ fragte sie.

„Jef Aram Robini“, antwortete Jef automatisch. „Ich bin hier, weil ich – weil ich ein Forschungsprojekt verfolge. Ich bin unterwegs zu dem Handelsposten-Posten Fünfzig. Aber Mikey hier …“ – erwies auf den Maolot – „… will ich in die Berge bringen. Er ist auf der Erde unter wissenschaftlicher Beobachtung großgezogen worden, und ich versuche nun herauszufinden, wie er sich, zurück auf seiner eigenen Welt, anpassen wird.“

„Du willst in die Berge? Warum bist du nicht mit einem der Versorgungslastwagen mitgefahren?“

„Ich wollte Mikey so schnell wie möglich wieder in seine natürliche Umgebung bringen. Er ist jetzt acht Jahre alt …“

„Ist er nicht.“

„Doch, tatsächlich.“

„Ich weiß nicht, wer dir das erzählt hat, Robini, aber jeder, der Maolots kennt, wird dir sagen, daß er nicht älter als vier Jahre, Everon-Jahre, sein kann. Wenn er acht Jahre alt wäre …“

„Und trotzdem ist er acht Jahre alt.“ Es machte Jef richtig Vergnügen, zur Abwechslung einmal sie zu unterbrechen. „Das ist einer der Gründe, warum ich ihn über eine so große Entfernung hergebracht habe. Auf der Erde hat er sich nicht so entwickelt, wie er sollte. Wenn du es mich erklären läßt …“

Sie hörte ihm zu, als er es ihr auseinandersetzte. Aber die Haltung allgemeiner Ungläubigkeit, in die sie sich wie in einen unsichtbaren Poncho gehüllt hatte, legte sie nicht ab.

„Und ich wußte nicht, daß ich deinen Grund und Boden betreten hatte, und auch nicht, daß ich dich davon vorher hätte unterrichten müssen“, schloß er. „Aber so oder so war es mein Wunsch, diesen Weg zu nehmen. Ich hoffe, etwas über den Tod meines älteren Bruders herauszufinden. Er ist hier auf Everon vor acht Jahren gestorben …“

„Gestorben? Wie?“ Ihre Stimme war schärfer geworden, und Mikey gab ein kurzes Warnungsknurren von sich. „Was meinst du mit ,gestorben’?“

Jef spürte, wie die traurige Bitterkeit in ihm aufstieg. Zu viele Jahre lang hatte er darunter leiden müssen, daß andere Leute falsche Vorstellungen über Williams Tod hatten.

„Ich meine gestorben!“ Er schrie das Wort hinaus. „Da war ein Mann namens Beau leCourboisier, der dort war, als es geschah. Ich hoffe, er kann mir mehr darüber mitteilen als das Ökologische Korps. Mein Bruder war hier auf Everon Planeten-Ökologe …“

„Wirklich?“ Jarji Jo Hillegas’ Stimme wurde noch schärfer. „Weiß Beau, daß du nach ihm suchst?“

„Nein. Aber da er ein Freund von Will war …“

„Oh … ein Freund.“ Die Schärfe verlor sich aus Jarjis Stimme, und das warnende Grollen in Mikeys Kehle verstummte. „Aber trotzdem, wenn du dies Land durchqueren wolltest, hättest du vorher über Funk Bescheid geben müssen.“

„Kein Mensch hat mich darüber informiert, das habe ich dir doch schon gesagt. Erschießt du wirklich jeden, der sich zufällig hier sehen läßt, wenn du von seinem Kommen nichts weißt?“

„Hin und wieder“, erwiderte Jarji trocken. „Aber wenn dein Bruder ein Freund von Beau war, werde ich bei dir, glaube ich, eine Ausnahme machen.“

„Danke“, knurrte Jef. „Bist du es nicht gewesen, die gerade noch ,Frieden’ geschrien hat? Ich werde nicht einfach stehenbleiben, wenn du versuchst, das Ding da zu benutzen. Und Mikey auch nicht.“

„Oh, ich glaube, ich könnte mit euch beiden fertig werden, wenn ich müßte – den Maolot würde ich natürlich zuerst erschießen“, verkündete sie. „Mich hat nicht etwa ein Zweifel daran, ob es mir gelingen würde, zurückgehalten, als ich euch sah. Ich wollte nur herausfinden, warum jemand aus der Stadt oder von einer der Wisent-Ranches hier mit einem zahmen Maolot heraufkommt. Im Wisentgebiet wird jeder Maolot, den sie erwischen, sofort zu Schweinefutter verarbeitet.“

Plötzlich trat sie dicht an das Feuer heran, so daß nur noch die Flammen zwischen ihr und Jef waren.

Mit einer einzigen fließenden Bewegung schwang sie die Waffe von ihrem Rücken, setzte sich mit überkreuzten Beinen hin und legte den Apparat vor sich auf den Boden, ein Stück außerhalb der bequemen Reichweite. Wie sie so auf dem grünen, vom rotgoldenen Feuerschein beleuchteten Moosgras saß, wirkte sie so sehr als Teil dieser mitternächtlichen Waldszene, daß sie eher einem Geschöpf des Planeten Everon als einem menschlichen, zweiundzwanzig Jahre alten weiblichen Antilopenzüchter mit einer tödlichen Waffe auf dem Boden vor sich glich.

„Ich habe Frieden gesagt, und ich meinte Frieden“, erklärte sie. „Setz dich. Reden wir miteinander.“

Langsam und unbeholfener als sie setzte Jef sich auf seiner Seite des Feuers nieder. Mikey legte sich neben ihm nieder, eine schwere Schulter gegen Jefs Bein gedrückt. Jarji streckte einen Arm aus, nahm von dem Haufen aus Variform-Kiefernholz, den Jef zusammengetragen hatte, einen trockenen Zweig und warf ihn auf die Glut.

„Damit wir etwas mehr Licht haben“, meinte sie.

Die Flammen erfaßten die trockenen Nadeln sofort, loderten auf und drängten die Dunkelheit des sie umgebenden Waldes zurück. Der Duft des brennenden Holzes stieg Jef in die Nase, und wieder erfaßte ihn die Fähigkeit der überscharfen Wahrnehmung, die ihn erfüllt hatte, als er das Raumschiff verließ. Der Geruch des Feuers, der Tanz der Flammen, die gegen die Nacht züngelten, die zuckenden Lichter, die mit den Farben von Jarjis grober Kleidung spielten und Schatten über ihr Gesicht huschen ließen … all das und das polierte Holz der Waffe und die Bewegung der Nachtluft gaben ihm das Gefühl, er sei in Trance gefallen und erlebe seine Umgebung doppelt so wirklich wie die Wirklichkeit – und doppelt so wunderbar.

Dies zu erleben, schoß es ihm durch den Kopf, war es allein wert, daß er nach Everon gekommen war. Dies allein …

Er riß sich mit Mühe aus seiner Verzückung los, straffte die Schultern und sah über das Feuer hinweg Jarji an. Sie saß still, die Waffe lag einen Meter von ihr und weniger als das vom Rand des Lagerfeuers entfernt. Jef konzentrierte den Blick darauf. Das dunkle Holz des polierten Stockes und Rahmens war von einer Art, die er nicht erkannte. Nahe dem Vorderteil des Rahmens war ein nach hinten geschwungenes Metallteil kreuzweise eingesetzt. Es sah aus wie ein kurzer Bogen mit einem Draht anstelle der Sehne.

Der Draht kreuzte den Rahmen an einem Punkt, wo eine metallene Schiene von oben bis unten an dem Stock entlanglief. Dort wurde er von Führungen gehalten, und die Führungen schienen an einer Rollenvorrichtung befestigt zu sein, die an dem Stock entlang zu einer Trommel lief, die acht metallene Patronen, vielleicht drei Zentimeter im Durchmesser, in einer solchen Anordnung enthielt, daß immer eine Patrone mit einem Schlitz in ihrer bauchigen Hülle an einem Ende des Aufzugmechanismus’ eingehängt war.

„Hast du noch nie eine solche Waffe gesehen?“ fragte Jarji. „Sie wird Armbrust genannt.“

„Das … habe ich mir gedacht.“ Jef erinnerte sich an seine Geschichtsbücher über die Kriege des späten Mittelalters in Europa, in denen sich Abbildungen von Armbrüsten befunden hatten. „Aber was ist das?“

Er zeigte auf die Patronen in dem trommelähnlichen Teil der Waffe.

„Das sind Federzüge“, sagte sie.

Auf Jefs fragenden Blick hin beugte sie sich vor, nahm die Armbrust auf und drehte die Trommel, so daß die nächste Patrone in der Reihe das Ende des Zugdrahtes in ihrem Schlitz fing. Jarji drückte mit ihrem Daumen kurz auf das äußere Ende der Patrone, und die Patrone schwirrte los wie eine zornige Klapperschlange. Der Zugdraht spulte sich zurück durch den Schlitz in der Patrone und wieder heraus, und die Führungen zogen den als Bogensehne dienenden Draht schnell bis zum äußersten Ende des Stockes zurück.

„Dein Glück, daß ich gerade erst eine ganze Füllung von Federzügen neu aufgewickelt habe,“ sagte Jarji. „Sonst würde ich jetzt keinen verschwenden wollen.“

Sie nahm einen der kurzen Pfeile aus dem Köcher an ihrem Gürtel, legte ihn in die Schiene an der Spitze des Armbrust-Stockes und hakte das gefiederte Ende in die Drahtsehne. Mühelos hob sie die schwere Waffe mit einer Hand, richtete sie zur Seite und schoß.

Die zurückschnellende Sehne gab einen scharfen, singenden Ton von sich, und fast unmittelbar darauf war ein kräftiger Aufschlag zu hören.

„Hast du’s verstanden?“ Jarji legte die Armbrust wieder hin. Aber Jef sah immer noch in die Richtung, in die der Pfeil geflogen war.

„Was … was hast du getroffen?“ brachte Jef schließlich hervor.

„Getroffen? Oh, ich habe einen Bolzen in den Stamm eines Willybaumes geschickt“, antwortete sie. „Es macht mir nichts aus, dir zu zeigen, wie die Armbrust funktioniert, aber ich habe nicht die Absicht, deswegen des Nachts im ganzen Wald nach Bolzen zu suchen.“

Sie erhob sich, verschwand in der Dunkelheit und kam nach einem Augenblick zurück. Den kurzen Pfeil, den sie einen Bolzen nannte, steckte sie wieder in den Köcher. Sie setzte sich.

„Konntest du den Baum sehen, in den du den Bolzen geschossen hast?“ erkundigte Jef sich ungläubig.

„Natürlich nicht“, entgegnete Jarji. „Aber ich wußte, daß er da war. Dieser ganze Wald ist mein Grund und Boden. Habe ich dir das nicht gesagt?“

Von neuem legte sie die Armbrust vor ihre Füße. Mit Mühe riß Jef seinen Blick davon los.

„Warum benutzt du so ein Ding?“ fragte er.

„Ist doch klar, daß keiner von uns gesetzestreuen Oberland-Ranchers eine richtige Energiewaffe benutzen würde.“ Ihre Stimme klang auf einmal bitter und spöttisch.

Jef musterte sie über das Feuer hinweg. Jarji starrte mit kalten Augen für einen Moment zurück. Dann entspannte sich die harte Linie ihres Unterkiefers.

„Ich glaube, du weißt einfach überhaupt nichts“, meinte sie. „Es ist gesetzlich verboten, eine richtige Waffe zu tragen – überall außer unten in der Stadt. Lassen wir das … du wolltest mir gerade von deinem Bruder erzählen.“

Jef riß sich zusammen. So kurz wie möglich berichtete er ihr im wesentlichen das gleiche wie Martin über Wills Tod und Verschwinden und die Schwierigkeiten, die seine Familie gehabt hatte, irgendwelche Einzelheiten vom Ökologischen Korps zu erfahren.

Als er damit zu Ende war, saß Jarji lange Zeit schweigend da. Sie runzelte die Stirn und stocherte mit einem Kiefernast, von dem die Zweige und Nadeln abgesengt waren, im Feuer herum. Schließlich warf sie den Stock beiseite, als sei sie zu irgendeinem Entschluß gelangt, und hob die Augen zu Jef auf der anderen Seite des Feuers empor.

„Ich glaube, ich muß sagen, daß du recht hast, Jef“, sagte sie. Unwillkürlich zuckte er zusammen, als er nach dem förmlichen Benehmen Martins und des Planeten-Konnetabels unten in Everon-Stadt auf einmal mit seinem Vornamen angeredet wurde. „Ich glaube auch, es ist am wahrscheinlichsten, daß dein Bruder irgendwo hier oben begraben ist. Trotzdem kann es sein, daß du an der falschen Stelle nach ihm suchst.“

„An der falschen Stelle?“ Jef war verblüfft.

„Ich meine – er könnte in der Nähe der Stadt oder auf einer der Wisent-Ranches begraben sein“, erläuterte sie. „Weißt du, ich sage mir, wenn Beau oder ein anderer von uns Antilopenleuten etwas von seinem Tod gewußt hätte, dann hätte derjenige dich und deine Familie schon längst benachrichtigt. Aus diesem Grund solltest du dich lieber darauf gefaßt machen, daß Beau dir nicht helfen kann.“

„Aber Beau ist der einzige, von dem ich mir hier auf Everon eine Auskunft erhoffe“, erwiderte Jef.

„Ja, sicher. Ich meine ja auch nicht, daß du nicht versuchen solltest, mit Beau zu sprechen. Nur, daß du nicht zuviel davon erwarten sollst. Und dann ist da noch etwas. Du mußt Beau zuerst einmal finden.“

„Ich muß ihn finden? Aber ich dachte, er lebe in der Nähe vom Posten Fünfzig“, sagte Jef.

„Dort hatte er eine Ranch, aber das ist vier Jahre her“, antwortete sie. „Die Wisent-Rancher haben ihn verdrängt.“

„Verdrängt?“ fragte Jef. „Das verstehe ich nicht.“

„Kann ich mir vorstellen.“ Jarji griff wieder nach dem Stock, mit dem sie im Feuer herumgestochert hatte. Sie bohrte das harte, verkohlte Ende in den Boden und blickte beim Sprechen auf die Erdkrümel, die sie erzeugte, statt auf Jef. „Was weißt du über die Wisent- und Antilopenzucht hier auf Everon?“

„Ich weiß, daß von zwei großen Fleischtieren Variformen geschaffen wurden, die dazu bestimmt waren, mit der Ökologie auf Everon zu koexistieren. Man hat die Embryos nach hier importiert und die Tiere aufwachsen lassen“, antwortete Jef. „Das Ökologische Korps entschied, zwei Spezies seien genug. Die Büffel … ich meine die Wisente …“

„Nenne sie ruhig Büffel, wenn du möchtest.“ Jarji bedachte die Erde, die sie mit ihrem Stock aufgrub, mit einem Stirnrunzeln. „Wir hier nennen sie Wisente, aber für jemanden, der wie du von der Erde kommt, bedeutet das nur die europäische Variante des Büffels.“

„Ich wollte Wisente sagen“, fuhr Jef fort. „Ich weiß, sie wurden hergebracht, um auf den Prärien und im offenen Land zu weiden, und die Variform-Antilopen waren für die Wild-Ranches in Waldgebieten wie diesem bestimmt. Ich erinnere mich nicht, wieviel Stück es von beiden Spezies anfangs waren. Aber sie wurden als Teil eurer Ersten Hypothek geliefert, nicht wahr?“

„Es kommt nicht darauf an, wie viele es waren“, entgegnete Jarji. „Zu Beginn herrschte Gleichgewicht zwischen den beiden Spezies. Es waren gerade genug Wisente für das offene Land und gerade genug Antilopen für die Wälder. Natürlich war für die zu erwartende Vermehrung genügend Spielraum gelassen worden. Doch als die menschliche Bevölkerung sich vermehrte und wir die Grenzen des Siedlungsgebietes überschritten, das das Ökokorps uns mit der Gewährung der Ersten Hypothek festgesetzt hatte, begannen die Wisent-Rancher, uns Wildzüchter zu verdrängen.“

Mit gekrauster Stirn versuchte Jef, das zu verstehen, doch er fand keinen Sinn in dem, was sie behauptete.

„Wie konnten die Wisent-Rancher euch denn verdrängen?“ wollte er wissen. „Ich meine, sie leben im Flachland, und ihr Antilopen-Rancher seid in den Wäldern. Selbst wenn das Ökokorps zuließe, daß sie es täten, würden sie es doch keinesfalls tun.“

„Das Ökokorps kontrolliert uns nicht mehr, seit wir die Erste Hypothek abbezahlt haben“, knurrte Jarji. „So lautet das Gesetz. Wir hätten nicht einmal eine Zweite planetare Hypothek aufzunehmen brauchen. Wir wären ohne Leute ausgekommen, die uns lehren, wie man Fabriken erweitert und Straßen plant und Raumschiffe landet. Ich will nichts gegen deinen Bruder sagen, aber wir hätten ohne eine Zweite Hypothek und Leute wie ihn auskommen können. Andere neue Welten haben es auch allein geschafft.“

„Aber am vorteilhaftesten ist es doch …“ begann Jef und zitierte beinahe Wort für Wort aus einem der Bücher, die er studiert hatte, „am vorteilhaftesten ist es für eine neue Welt, nacheinander die drei Hypotheken aufzunehmen, die das Hilfsprogramm des Korps und der Erde vorsieht. Die Erste Hypothek ist für jede Welt obligatorisch, weil sie damit die grundlegende Untersuchung des Ökologischen Korps, das Ansiedeln der benötigten Variformen von irdischer Flora und Fauna und die Kontrollorgane des ökologischen Korps bezahlen muß, in deren Händen die Leitung verbleibt, bis die Erste Hypothek zurückgezahlt ist und die neuen Bewohner gelernt haben, mit ihrer Welt umzugehen. Aber für so gut wie jede Welt ist auch eine Zweite Hypothek von Vorteil. Mit ihr werden Lehrkräfte und die sachverständige Unterweisung bezahlt, wie die ursprüngliche Kolonie, die mittels der Ersten Hypothek auf der neuen Welt errichtet worden ist, erweitert werden kann. Während der Laufzeit der Ersten Hypothek entsteht im wesentlichen eine Landwirtschaft und Handel betreibende Gesellschaft, während die Zweite Hypothek ihr hilft, sich zu einer semi-industrialisierten …“

Der Stock in Jarjis Händen brach mit einem Knacklaut entzwei. „Was soll das?“ knurrte sie „Wird euch dieses Zeug auf der Erde eingetrichtert?“

Jef, erschrocken und einigermaßen in Verlegenheit gesetzt, gestand, daß dies der Fall sei. „Vergiß es!“ fauchte Jarji. „Das ist das beste, was du tun kannst: Vergiß es. Hier in der Wildnis hat das keinen Wert. Verstehst du mich?“

„Nein“, antwortete Jef ehrlich.

„Dann hör einmal zu.“ Jarji ließ das, was von dem Stock übrig war, fallen und sah ihm gerade ins Gesicht. „Jede Welt ist anders, so ist es. Jede Welt ist ein brandneues Problem – für das Ökokorps und für Kolonisten wie uns. Das, was du gerade zitiert hast, erweckt den Eindruck, als gäbe es nur eine Blaupause für alle neuen Welten und als gehe es überall erstens, zweitens, drittens zu. Tut es aber nicht. Eine Zweite Hypothek bedeutet nicht nur, daß das Ökokorps die direkte Kontrolle einer Welt aufgibt. Ebenso bedeutet es, daß eine Menge an Werten hereinkommt, in der Form von Ausrüstungen und Material. Gekauft wird das alles mit dem Geld der Zweiten Hypothek, um die Kolonie zu erweitern. Es bedeutet, daß einige Leute die Chance bekommen, reich zu werden. Es bedeutet, daß einige Leute die Chance bekommen, wichtiger zu werden als andere!“

Das Wort „reich“ rief bei Jef bestimmte Assoziationen hervor: Er dachte an das luxuriöse Haus des Konnetabels.

„Ich verstehe immer noch nicht“, sagte Jef.

„Es gibt ein Gesetz hier auf Everon – das Ökokorps hat es gebilligt“, erläuterte Jarji. „Wenn Wisente auf einer bestimmten Ranch nicht gedeihen, kann jeder Wild-Rancher, der Antilopen in einem Waldgebiet besitzt, das jener Ranch benachbart ist, vor Gericht gehen und das Recht beantragen, das Land aufzuforsten und sein Waldgebiet zu erweitern.

Umgekehrt gilt das gleiche. Wenn die Antilopen-Population in einem Waldgebiet sinkt, kann jeder benachbarte Wisent-Rancher den Antrag stellen, das Land zu roden und eine Wisentweide daraus zu machen.“

Sie funkelte Jef beinahe wütend an.

„Von dem Augenblick an, als das Ökokorps abgezogen ist, haben Wisent-Rancher Anträge gestellt und das Recht erworben, Waldgebiete zu roden“, fuhr sie fort. „Du hast mich gefragt, warum du Beau leCourboisier wahrscheinlich am Posten Fünfzig nicht finden wirst, wenn du dort ankommst. Ich kann dir sagen, warum. Seine Wald-Ranch wurde als Wisentweide beansprucht. Ein Rancher aus dem Unterland erhielt das Recht, sie abzuholzen, und das hat er vor etwas über einem Jahr getan.“

„Aber …“ Jef rätselte an dieser Information herum, „du hast gesagt, niemand bekäme ein Waldgebiet als Weideland zugesprochen, wenn die Antilopen-Population sich nicht vermindere. War es nun so, daß Beau leCourboisier einen Großteil seiner Antilopen verloren hat …“

Jarji lachte kurz auf.

„Verloren!“ wiederholte sie. „Ja, ganz recht, verloren. Das heißt, sie wurden vergiftet! Nun, nicht alle. Einige zogen davon, einige wurden vergiftet, einige verschwanden einfach gerade so, als seien in der Nacht, bevor die Stückzählung für das Gericht stattfand, fünf oder sechs Luftfahrzeuge aus dem Unterland gekommen – fünf oder sechs Frachtmaschinen voller Wisent-Rancher, alle mit Laser-Handwaffen, um jede Antilope, die sie mit ihren Infrarot-Suchgeräten entdeckten, zu töten oder zu vertreiben.“

Wieder lachte sie auf. Es klang sehr bitter.

„Wegen dieser und ähnlicher Dinge gibt man es heutzutage vorher über Funk bekannt, wenn man den Wald eines anderen durchqueren will.“

„Aber“, wandte Jef ein, „es ist doch Luftfahrzeugen gar nicht erlaubt, so weit ins Oberland zu fliegen. Das hat mir der Planeten-Konnetabel gesagt.“

Jarji antwortete nicht darauf. Sie beugte sich nur vor und spuckte mit Nachdruck ins Feuer. Ihr Speichel explodierte mit scharfem Knattern, als er auf ein rotglühendes Holz traf.

„Du meinst also“, begann Jef nach einiger Zeit, als ihm klar wurde, daß sie nicht weitersprechen würde, wenn er sie nicht dazu aufforderte, „daß die Wisent-Rancher unter dem Deckmantel irgendeines Gesetzes in euer Waldgebiet eindringen. Aber ich wußte das nicht, und selbst wenn es wahr ist, gibt es nichts, was ich dagegen tun könnte. Ihr müßt das dem Ökokorps melden …“

„Du kannst einfach nicht zwei und zwei zusammenzählen“, fuhr Jarji ihn an. „Weißt du nicht mehr, daß ich gesagt habe, du suchtest vielleicht an der falschen Stelle nach deinem Bruder? Wenn er ein wirklich guter Freund von Beau war, könnten die Leute, die deinen Bruder haben verschwinden lassen, die gleichen Leute sein, die ihren Profit davon hatten, daß sie Beau vertrieben haben.“

Lange Zeit herrschte Schweigen. Dann hörte Jef seine eigene Stimme sprechen, als komme sie von jemand anderem und aus einiger Entfernung.

„Das kann nicht dein Ernst sein“, hörte er die Stimme sagen. „Du deutest damit die Möglichkeit an, daß mein Bruder kaltblütig ermordet worden ist. Wenn das der Fall gewesen wäre, warum sollte das Ökokorps uns nicht darüber informieren …“

„Nichts dergleichen habe ich gesagt!“ fuhr Jarji auf. „Ich habe dir nur auseinandergesetzt, wie die Dinge hier liegen. Mach daraus, was du willst. Du kannst deine eigenen Schlüsse ziehen.“

Ein Geräusch unterbrach sie, weit weg in der Nacht. Es war ein leiser, klagender Laut, der langsam anschwoll und an Stärke zunahm, bis er zu einem – wenn auch weit entfernten – Brüllen aus voller Kehle wurde. Das Brüllen erfüllte die Nacht eine ganze Minute lang, und dann erstarb es ebenso langsam, wie es angefangen hatte. Mikey drückte sich heftig gegen Jef. Er kroch ihm beinahe auf den Schoß und zitterte am ganzen Körper.

Jarji sah zu Mikey hin. „Ja, er weiß, was das ist.“

„Was ist es denn?“ Jefs eigene Stimme bebte ein wenig. „War das …“

„Was denn sonst? Ein männlicher Maolot, ein voll ausgewachsener. Vielleicht war es meiner.“

„Deiner?“

„Ja, meiner“, sagte Jarji. „Oh, er ist kein Schoßtier wie deiner da. Ich spreche von dem erwachsenen Maolot-Mann, dessen Jagdrevier sich mit meiner Antilopen-Ranch überschneidet. Wir hier oben in den Wäldern sind nicht so wie die Wisent-Rancher. Wir gehen nicht auf die Maolot-Jagd. Aber dieser alte Maolot da draußen hält andere männliche Maolots fern. Er nimmt die Antilopen, die er zu seiner Ernährung braucht, und ich beschwere mich nicht. Er und ich haben einen Waffenstillstand geschlossen. Er geht seiner Wege und ich meiner – und wir beide sorgen dafür, daß diese Wege sich nicht kreuzen. Er wird, auf seinen vier Beinen stehend, eine Schulterhöhe von fast zwei Metern haben. Das wirst du selbst sehen, wenn du ihm jemals von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehst.“

Jef konnte ein Erschauern nicht unterdrücken.

„Wird er …“ Jef zögerte. „Wird ein erwachsener Maolot-Mann wie dieser jedem Menschen aus dem Weg gehen?“

„Wahrscheinlich, wenn er keinen Grund hat, das Gegenteil zu tun.“ Nachdenklich sah Jarji ihn über das nun herabgebrannte Feuer hinweg an. „Ohne Grund belästigt hier niemand niemanden. Das wirst du lernen müssen, wenn du in dieser Gegend bleiben willst.“

„Ich weiß“, sagte Jef.

Sie sah ihn überrascht und – zum ersten Mal – anerkennend an.

„Vielleicht kommst du doch zurecht“, meinte sie, „falls du nicht umkommst, bevor du gelernt hast, wie du dich hier zu verhalten hast. Wenn du etwas nicht weißt, versuche nicht, es zu erraten. Frage jemanden, wenn jemand in der Nähe ist, den du fragen kannst, oder halte Abstand, bis du es weißt.“

Jef nickte. Ihm fiel wieder ein, wie rätselhaft Mikey sich benommen hatte, als sie die Galuschas getroffen hatten.

„Mir ist heute etwas Merkwürdiges begegnet“, sagte er langsam.

„So? Was denn?“

Er erzählte es ihr. Als er mit seiner Schilderung fertig war, nickte sie.

„Das war ihr Paarungstanz. Genau das ist es, was ich dir klarzumachen versuche.“

„Den Paarungstanz der Galuschas?“

„Richtig. Sie beginnen ihn, indem sie auf diese Weise spielen – ein Dutzend oder mehr auf einmal, und dann teilen sie sich in kleinere Gruppen. Nach und nach scheidet dann mal ein überzähliges Männchen, mal ein überzähliges Weibchen aus. Das ist ihre Art, den Partner zu wählen.“

„Aber warum hat Mikey sich verhalten, wie er es tat?“

„Ich hab’s dir doch gesagt!“ Sie betonte das letzte Wort mit Nachdruck. „Hier auf Everon mischt sich niemand ohne Grund in etwas ein. Jede Spezies ist bei der Paarung sicher vor den Raubtieren, die sie normalerweise jagen. Individuen aus zwei Tierarten, die für gewöhnlich beim ersten Anblick miteinander kämpfen, bleiben friedlich. Maolots binden sich an ein Territorium, aber in der Paarungszeit überschreiten sie die Grenzen, und es gibt niemals einen Streit.“

„Besteht ein Zusammenhang zwischen diesem Verhalten und der Art, wie dein Maolot-Mann Waffenstillstand mit dir geschlossen hat?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Das ist etwas anderes. Du wirst es erst verstehen, wenn du ein paar Jahre hier gelebt hast. Der Waffenstillstand besteht allein zwischen ihm und mir.“

„Und wenn ich ihm über den Weg laufe …“

„Das läßt sich nicht voraussagen, ich erwähnte es schon.“ Stirnrunzelnd sah Jarji in das Feuer. „Wahrscheinlich wird er dich in Ruhe lassen, weil kein Grund vorhanden ist, etwas anderes zu tun. Nein, warte. Wenn ich es mir recht überlege, so wird er dir nichts tun, solange du den Kleinen bei dir hast.“

„Mikey?“ Jef blickte hinab und legte einen Arm um den immer noch zitternden Körper, der sich eng an ihn drückte.

„Klar. Ein voll ausgewachsener Maolot-Mann tut keinem weiblichen Tier oder Jungen etwas, auch einem jungen Männchen nicht, dessen Augen wie bei deinem noch geschlossen sind,“ erklärte Jarji.

„Übrigens müßte deiner wissen, daß ein erwachsener Artgenosse ihn in Frieden lassen wird. Wenn er selbst schon geschlechtsreif wäre, dann könnte es anders aussehen. Wenn sich zwei Männer treffen, kämpfen sie immer um das Gebiet. Aber dein Maolot müßte wissen, daß kein Erwachsener ihm weh tun wird.“

„Er ist in den ganzen acht Jahren auf der Erde groß geworden“, erwiderte Jef mit trockener Kehle. „Vielleicht hat er es vergessen oder nie gelernt. Mein Bruder fand ihn, als er erst ein paar Tage alt war, neben seiner toten Mutter.“

„Dann könnte es sein, daß er es nicht weiß“, meinte Jarji nachdenklich.

Jefs Blick wanderte zu der Armbrust vor ihren Füßen.

„Du könntest mir diese Waffe oder etwas Ähnliches wohl nicht leihen?“

Jarji schüttelte den Kopf.

„Sie sind Handarbeit. Das hier ist die einzige, die ich habe. Bleib heute nacht beim Feuer und reise am Tag. Du müßtest sicher sein, sobald ein Maolot-Mann erkennt, daß du ein Junges bei dir hast.“

Plötzlich stand sie auf und nahm dabei die Armbrust vom Boden.

„Du wirst morgen mittag Posten Fünfzig erreichen. Der Weg führt nur noch für weitere fünf Kilometer durch mein Gebiet, aber ich werde für dich über Funk Bescheid geben, und so wird dich kein anderer Oberländer aufhalten. Gute Nacht!“

So unvermittelt, wie sie aufgetaucht war, verschwand sie aus dem nun schwachen Feuerschein in der Dunkelheit. Jef lauschte, aber es kam kein Laut aus dem Wald, aus dem er auf die Richtung hätte schließen können, die sie eingeschlagen hatte. Hastig legte er neues Holz nach.

Wieder züngelten die Flammen hoch empor. Von neuem war in der Ferne das lange, rollende Brüllen eines großen, erwachsenen Maolot-Mannes zu hören. Mikey berührte Jef zärtlich mit seiner Nase und rollte sich, gegen seine Beine gedrückt, zusammen. Jef streichelte ihn geistesabwesend.