18

 

Das Tal der Throne.

Auf gar keinen Fall konnte es ein Zufall gewesen sein, daß ein dem Schicksal preisgegebenes Maolot-Junges hier, an diesem Ort gefunden worden war, wo, das fühlte Jef ebenso deutlich wie seinen eigenen Atem, seit Tausenden von Everon-Jahren nichts dem Schicksal preisgegeben oder verlegt worden war. Dies war kein Ort des Zufalls oder der unvorhergesehenen Gelegenheit. Als der Nebel zurückrollte und Jef den Druck der Empathiestrahlungen von Hunderten oder vielleicht Tausenden erwachsener Maolots verspürte, wußte er dies so genau, daß es keines Beweises mehr bedurfte.

Es war ihm nicht möglich, die riesigen Tiere, die ihn umgaben, zu zählen. Er konnte mit Mikeys Hilfe oder durch eigene Anstrengung sein geistiges Auge bei jedem einzelnen an einen Punkt versetzen, daß er ihn aus nächster Nähe betrachten konnte. Aber es gab kein Mittel, durch das er sie einen nach dem andern hätte zählen oder einen Beobachtungspunkt hätte einnehmen können, der sie ihm alle auf einmal zeigte. Es war jedoch gleichgültig, wie viele von ihnen körperlich anwesend waren, denn jeder nicht anwesende Maolot konnte ihn durch die Augen derjenigen ansehen, die sich tatsächlich hier befanden. Immer noch drehten sich ihre massigen Köpfe zur Seite oder schlossen die Augen, wenn er ihnen ins Gesicht blickte. Aber auch das spielte keine Rolle. Tatsache war, daß sich im Tal der Throne alle erwachsenen Maolots von Everon versammelt hatten – und auch dieses Wissen wurde Jef durch die vereinigten Empathieströme übertragen, die er so deutlich spürte, als würden sie einen körperlichen Druck auf ihn ausüben.

Sie waren alle hier, und sie waren seinetwegen hier – um ihn zu beurteilen.

Jef war sich in all den Jahren seines Lebens nie so winzig, so unbedeutend vorgekommen. Physisch wich er vor der ihn musternden Menge nicht zurück, aber innerlich schwand sein Mut dahin. Hilflos und beinahe verzweifelt hielt er nach Mikey Ausschau.

Zwischen den Säulen zu seiner Linken bewegte sich etwas, und Mikey trat unter ihnen hervor. Seine Augen waren immer noch geschlossen, aber er war inzwischen so gewachsen, daß er an der Größe allein nicht mehr von den anderen Maolots zu unterscheiden war. Er schritt über die Ebene im Mittelpunkt des natürlichen Amphitheaters zu Jef hin.

„Mikey …“ stieß Jef dankbar hervor, als der Maolot vor ihm stehenblieb. Er streckte die Hand aus, um Mikeys Nacken zu berühren, aber seine Hand fiel herab. Auf seinen alten Freund paßte der Name Mikey überhaupt nicht mehr. Er war über den Diminutiv und die Rolle des Spielgefährten hinausgewachsen. Jetzt war Mikey ihm ebenbürtig, und mehr als das. Der Maolot, bei Jef angekommen, drehte sich um und setzte sich neben ihn, das Gesicht den sie umgebenden Beobachtern zugewandt.

Jef fühlte, daß Mikey von den Maolots auf den Säulen über irgendeine Angelegenheit befragt wurde. Er antwortete, indem er zurückwies, was es auch gewesen sein mochte, und blieb, wo er war.

„Was wollen sie, Mikey?“ fragte Jef.

Mikey ließ ihn wissen, er solle Geduld haben und warten. Es müsse erst noch anderes geschehen.

„Was?“ fragte Jef.

Mikey lenkte seine Aufmerksamkeit nach links zu den Säulen hart am Rand des offenen Platzes. Jef sah hin und erkannte Gestalten, die zwischen den Felsnadeln hervortraten und begannen, den freien Raum in Richtung auf ihn zu überqueren. Einige der Gestalten schienen sich bewußt zu sein, was sie taten. Andere bewegten sich wie benommen oder wie unter einem stummen Befehl, der ihnen keine andere Wahl ließ. Es waren sowohl Menschen als auch Tiere. Aber mit einer Ausnahme waren die Tiere sämtliche irdische Variformen.

An der Spitze gingen Martin und Jarji. Diese beiden gehörten zu denjenigen, deren Augen klar und bewußt blickten und die zu wissen schienen, was sie hier taten.

„Ist mit euch alles in Ordnung?“ fragte Jef, als sie in seine Nähe kamen.

„Natürlich“, antwortete Jarji.

„Wie seid ihr hierhergekommen?“

„Martin hat uns eingeflogen“, gab Jarji Auskunft. Sie waren bei Jef angekommen und blieben stehen. „Mit der Maschine, in der er aus Beaus Lager geflohen ist.“

„Ja“, bestätigte Martin. „Ich wußte, daß du letzten Endes hier auftauchen würdest.“

Jef blickte an Jarji vorbei zu Martin hin, und ihre Augen ließen sich nicht wieder los.

„Natürlich hast du das gewußt.“ Jef wunderte sich, wie ruhig seine Stimme klang. „Du bist Will, nicht wahr?“

„Ja.“

Noch lange sahen sie einander an. Jef hatte William seit über fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen, aber jetzt, wo er ihn forschend betrachtete, war er immer noch überrascht, wie der Bruder, den er gekannt hatte, in seinem Aussehen verändert war. Die Größe war im wesentlichen die gleiche, der Knochenbau war ähnlich. Bei jeder anderen Einzelheit suchte Jef vergeblich nach Eigenschaften, an die er sich erinnerte.

„Wie lange weißt du es schon?“ fragte William endlich ein wenig heiser. Der Rhythmus, den Martins Sprechweise gehabt hatte, war völlig verschwunden.

„Erst seit ich in eurem Lager auf dem Paß aufwachte“, erwiderte Jef. „Irgend etwas an dir beunruhigte mich von Anfang an – ich mochte dich mehr, als ich Grund dazu hatte. Aber ich wußte es nicht bis zu jenem Augenblick.“

„Was habe ich im Lager getan?“

„Es war eigentlich nicht etwas, das du getan hast“, sagte Jef. „Mir ist hier auf Everon etwas geschehen, und ich kann in alles tiefer hineinschauen, als ich es mir bei mir oder einem anderen jemals vorgestellt hätte. Gerade jetzt fühle ich mich seltsam – irgendwie losgelöst von allem, aber bei sehr klarem Verstand. Es muß daher kommen, daß Mikey mich nicht hat essen oder ausruhen lassen.“

„Aber wie war das im Lager?“ wollte William wissen. „Was ist dort geschehen, daß du dir über meine wahre Identität sicher wurdest?“

„Als du mich Jef nanntest, da wußte ich es genau“, berichtete Jef. „Ich erinnere mich, daß ich einmal gehört – vielleicht auch gelesen – habe, für einen Schauspieler sei es am schwersten, die Stimme und den Gang zu verstellen. Das muß dir bekannt gewesen sein, denn du legtest Wert darauf, mich ,Herr Robini’ zu nennen. Aber dann mußt du gemeint haben, wenn du es weiterhin tätest, nachdem ich explodiert war, weil ihr beide mich nicht ‚Jef’ nennen wolltet, dann würde ich eher Verdacht schöpfen als umgekehrt. Nur brachtest du es nicht fertig, mich Jef zu nennen, ohne daß deine Stimme dabei wie die von Will klang.“

Sein Bruder nickte langsam.

„Ich dachte mir, daß es etwas Derartiges gewesen sein muß.“

Seine Augen wurden dunkel. „Jef, du weißt doch, daß ich daran schuld bin? Daß ich derjenige bin, der dich in all das hineingebracht hat?“

„Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen“, versicherte Jef. „Es ist das, was ich mir selbst gewünscht hätte.“

„Hört mal, ihr beiden!“ ließ sich Jarji vernehmen. „Ich finde, ihr schuldet mir wenigstens eine kurze Andeutung, über was ihr eigentlich redet!“

Sie drehten sich zu ihr um.

„Ich habe etwas in Gang gesetzt, als ich Mikey zur Erde schickte – und zwar mit voller Absicht“, sagte William. „Damals habe ich etwas begonnen, das hier und jetzt mit Jef enden mußte. Es war von mir nicht geplant, daß du und andere Leute auch hier sein sollten. Ein solches Ergebnis konnte ich nicht acht Jahre im voraus bestimmen.“

„Dann bist du deshalb zur gleichen Zeit wie Jef hergekommen“, fiel Jarji ein, „weil du dich vergewissern wolltest, daß er das Tal der Throne erreichte.“

„Ja“, sagte William. Er wandte sich wieder Jef zu. „Jef…“

„Ich sage dir doch, ich hätte es mir selbst so gewünscht“, wiederholte Jef. „Aber wie konntest du damals schon sicher sein, daß ich ein Forschungsstipendium für Everon bekommen würde?“

„Ach, das. Dazu mußte nur an ein paar Fäden gezogen werden. Jeder mit einem Job könnte das in fünf Minuten erledigen.“

„Wer sonst weiß davon?“

„Im ganzen nur fünf Personen, und die anderen vier sind zu Hause auf der Erde im Hauptquartier des Ökokorps. Schon diese wenigen Leute waren ein Risiko. Nichts von alldem war amtlich.“

„Ich komm schon wieder nicht mit“, beklagte sich Jarji.

„Ich bin eine Versuchsperson“, erklärte Jef ihr. „Er hat Mikey zur Erde geschickt, damit ich zusammen mit einem Maolot aufwachsen sollte – als Experiment.“

„Wir konnten nicht direkt mit den Maolots reden.“ William wies mit dem Kopf auf die besetzten Säulen. „Es war auf beiden Seiten ein Experiment. Sie gaben mir eines ihrer Kinder; ich gab ihnen meinen jüngeren Bruder. Wir wollten versuchen, ob wir unsere eigenen Dolmetscher großziehen könnten.“

Er sah Jef an.

„Und es hat funktioniert, nicht wahr?“

„Ja und nein“, antwortete Jef. „Aber wenn du nicht mit ihnen reden konntest, wie konntest du dann das Abkommen mit ihnen schließen, daß Mikey zur Erde gebracht werden sollte?“

„Ich weiß es nicht“, gestand William. „Ich weiß wirklich nicht, wie ich das geschafft habe. Alles, was ich dir sagen kann, ist: In den ersten Jahren auf Everon – noch ehe die erste Kolonistenwelle eintraf – erkannte ich, daß die Maolots über mehr Intelligenz verfügen, als es Tieren zukommt. Ich versuchte, einige aus nächster Nähe zu beobachten. Sie führten mich in den Wald – man könnte ebensogut sagen, sie nahmen mich gefangen – und brachten mich hierher. Hier, wo wir jetzt stehen, blieb ich drei Tage und drei Nächte, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Ich glaube, du hast recht, Jef. Die Kommunikation mit ihnen ist weniger schwierig, wenn der Kopf leicht vor Erschöpfung und Hunger ist. Am vierten Tag fing ich an, die Grenze zu überschreiten, und da brachten sie mir Mikey. Er sah wie ein dickes, übergroßes Kätzchen aus, das sich auf seinen vier Beinen noch nicht im Gleichgewicht halten konnte, so jung war er. Und dann einigten sich die Maolots und ich irgendwie darüber, was ich mit ihm tun sollte.

Anscheinend bemerkten sie an mir eine Veränderung, so wie ich in ihnen mehr erkannte als vorher, und dadurch gelang es ihnen, die Kluft zwischen uns zu überbrücken. Anfangs glaubten sie, die Barrieren einreißen zu können, einfach indem sie mich durch Hunger und Durst aufnahmefähiger machten. Aber das klappte nicht. Wir sind zu unterschiedlich, wir und sie, als daß wir direkt miteinander sprechen könnten. Es gibt jedoch keinen Zweifel daran, was sie sind. Sie sind die erste, den Menschen ebenbürtige Fremdrasse, die wir zwischen den Sternen gefunden haben. Es ist wundervoll. Sie nehmen in der Lebenskette auf Everon die Stellung ein wie wir auf der Erde.“

„Nicht ganz“, wandte Jef ein.

William sah ihn verwundert an.

„Warum sagst du ,nicht ganz’? Was meinst du damit?“

„Ich meine, das ist nicht ganz richtig“, behauptete Jef.

„Meiner Ansicht nach ist die Wahrheit noch wundervoller als das, was du denkst. Siehst du, in dem Sinne wie wir sprechen sie überhaupt nicht – sie fühlen für- und miteinander, aber verglichen mit dem, wozu wir fähig sind, vermag dieses Fühlen soviel mehr als die Sprache, wie die Sprache über den Grunz- und Heullauten eines Schimpansen steht. Glaub mir. Seit ich auf Everon bin, habe ich ein- oder zweimal einen Hauch von diesem Gefühl verspürt. Ich kann nicht richtig mit ihnen fühlen, aber ich kann mich sehr gut mit Mikey verständigen …“

Er unterbrach sich.

„Es tut mir leid. Es gibt keine menschlichen Worte, die das auch nur annähernd beschreiben können. Du mußt mir einfach glauben, was ich sage.“

„Aber wenn wir nicht miteinander kommunizieren können, dann war alles, was wir versucht haben, vergeblich!“ Williams Gesicht sah plötzlich hohlwangig und alt aus. „Wenn diese ganze Sache nichts weiter eingetragen hat, als daß du zur Not mit Mikey kommunizieren kannst, dann ist das Experiment fehlgeschlagen. Wir hatten davon geträumt, mit allen Wesen sprechen zu können, die sich auf den anderen neuen Welten an der Spitze der ökologischen Kette befinden. Und nun ist uns nicht mehr gelungen, als daß es in einem Sonderfall …“

„Es ist mehr“, widersprach Jef. „Die Sache ist nur zu groß, als daß ich mehr als ihren äußersten Rand erkennen könnte. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, erfreulichen Möglichkeiten, wenn hier alles richtig läuft. Aber auch eine Menge unerfreulicher, wenn es das nicht tut.“

„Was meinst du damit?“ wollte Jarji wissen.

Jef sah sie an. Er zuckte hilflos die Schultern.

„Ich weiß nicht. Ich empfange etwas von ihnen, aber selbst dann, wenn es von Mikey kommt, verstehe ich es nicht in der Form, wie man den Sinn einer in menschlichen Worten gefaßten Aussage versteht. Der Inhalt hat keinen konkreten Sinn. Ich absorbiere nur ein Gefühl, das …“

Die Erschöpfung und Enttäuschung wurden so stark in ihm, daß er eine Sekunde lang beinahe von seiner neuentdeckten Fähigkeit, wütend zu werden, Gebrauch gemacht hätte.

„Du weißt doch, was ein Gefühl ist!“ fuhr er fort. „Es hat weder Form noch Größe, es läßt sich nicht mit exakten Ausdrücken beschreiben. So ähnlich ist das.“

„Sprich weiter“, drängte Jarji. „Du sagtest gerade, du absorbierst ein Gefühl …“

„Ja.“ Er gab sich Mühe, es ihnen zu erklären. „Ich sauge das Gefühl, die Emotion – oder was sie mir zusenden – auf, und dann wächst in meinem Inneren, in meinem eigenen Gehirn nach und nach das Verständnis für den Sinn der Botschaft. Ihr wißt doch, wie es ist, wenn einem etwas im Kopf herumgeht, das man nicht ganz ins Bewußtsein rufen kann, und das geht fort und fort, bis es einem plötzlich klar wird. Was ich von ihnen – und Mikey – empfange, ist in dieser Art.“

„Und was hat das alles hier deiner Meinung nach zu bedeuten?“ William machte eine Bewegung mit seinem Arm, die verdeutlichte, daß er außer ihnen auch die anderen Menschen und die Variform-Tiere einbezog, die sich inzwischen um sie geschart hatten.

„Wir sind alle hierhergebracht worden, damit sie zu einer Entscheidung über uns kommen können – nicht nur über mich und Mikey. Mehr als … wir sind ein Teil von …“

Jef fand die richtigen Worte nicht. Er gab es auf. Sein Blick wanderte über den kleinen Kreis hinaus, den Will, Jarji und er selbst bildeten. Dicht bei dicht umstanden die anderen hier Versammelten sie. Ein Wisentbulle, den schweren Kopf gesenkt, die von Haarbüscheln beschatteten Augen wolkig und trübe, stand nur einen oder zwei Schritte von Jef entfernt. Beinahe ebenso nahe waren ihm Armage und Beau, aber sie standen nicht nebeneinander, sondern zu beiden Seiten von ihm. Die beiden großen Männer sahen sich mit einem Ausdruck an, der nicht ganz so betäubt wirkte wie bei dem Wisent und vielen anderen, der aber doch verriet, daß sie nicht ganz verstanden, wo sie waren. Doch Jef spürte mit seiner neuen Wahrnehmungsfähigkeit, daß sie langsam wieder zu vollem Bewußtsein erwachten.

Neben ihnen reihte sich eine Anzahl anderer Variform-Tiere und Männer und Frauen an. Jef erkannte einige von ihnen wieder. Sie hatten an dem Diner teilgenommen, das Armage für William gegeben hatte. Unter ihnen war Yvis Suchi, und bei ihr war das einzige von Everon stammende Wesen der Gruppe.

Es war ihr Jimi, immer noch mit ihr durch eine Leine verbunden, die an seinem Halsband befestigt war. Aber ihr Verhältnis war auf seltsame Weise ins Gegenteil verkehrt worden. Yvis Augen starrten blind wie die einer Schlafwandlerin. Sie hielt ihr Ende der Leine ganz bewußt fest, als sei es ihr an die Handfläche geklebt worden. Das Jimi jedoch hatte sein Ende der Leine eine Körperlänge vom Halsband gefaßt. Offensichtlich führte es auf diese Weise Yvis, statt von ihr geführt zu werden. Jef bemerkte, daß Yvis sich wie eine Somnambule umdrehte und von der Gruppe wegspazieren wollte. Aber das Jimi trat an ihre Seite, faßte, ohne die Leine loszulassen, sanft ihren Arm und brachte sie zu der Versammlung zurück. Danach blieb es noch einen Augenblick bei ihr, streichelte besänftigend ihren Arm und sah in ihre blicklosen Augen empor. In seinem Verhalten lag keine Intelligenz, aber eine deutliche Zuneigung. Als das Jimi schließlich überzeugt war, Yvis werde stehenbleiben, wo sie war, ließ es sie los, trat zurück und wartete geduldig weiter, Yvis am Ende der Leine haltend.

Die übrigen Menschen schienen ebenfalls mehr oder weniger benommen zu sein. Ebenso war es mit den irdischen Variform-Tieren: der Antilope, dem Hund, der Katze, dem Huhn und der Ente, die Jef zwischen den Menschen verteilt erblickte. Die Variform-Tiere waren stärker betroffen als die Menschen – eine oder zwei Personen wie Yvis Suchi ausgenommen. Die Menschen gaben schon zu erkennen, daß sie aus ihrer Betäubung erwachten. Sowohl Armage als auch Beau war jetzt deutlich anzumerken, daß sie wieder zu sich kamen. Nun starrten sie sich irgendwie dumm, aber nichtsdestotrotz wütend an, wie jemand, der gerade aus dem Schlaf erwacht und in seinem Schlafzimmer einen Eindringling vorfindet.

Irgend etwas würde gleich geschehen. Das Ereignis, dessentwegen die Maolots sie alle hier zusammengeholt hatten, würde gleich stattfinden, und davon würde es abhängen …

Die Bedeutung seiner Beobachtung an dem Jimi und Yvis Suchi brandete plötzlich wie eine Flutwelle in Jefs Bewußtsein hoch.

„Mein Gott!“ sagte er laut. „Wir stehen vor Gericht! Darauf hat alles von Anfang an abgezielt – von dem Augenblick an, als sie dir Mikey übergeben haben, Will!“

„Vor Gericht?“

Das war die schwere Stimme Armages, und der Mann selbst, offensichtlich beinahe wieder voll bei Bewußtsein, wandte sich ihnen zu.

„So sagte ich“, antwortete Jef ihm und gleichzeitig Will und Jarji, die ihn forschend anblickten. „Ich hätte es eher merken müssen. Die Maolots erkannten den Unterschied zwischen den Menschen und sich selbst in dem Augenblick, als das erste Team hier landete. Dieser Unterschied verbietet es, daß sie mit uns zusammenleben – hier auf Everon und an allen anderen Orten …“

„An allen anderen Orten?“ unterbrach Will ihn.

„Ja.“ Jef sah ihn an und von ihm zu Jarji. „An allen anderen Orten.“

„Über was redest du eigentlich?“ polterte Beau los. „Willst du behaupten, diese Maolots denken, sie könnten uns mir nichts, dir nichts von Everon vertreiben?“

„Von jeder Welt“, antwortete Jef, der immer noch Will und Jarji ansah.

„Sie sind wahnsinnig!“ explodierte Armage. „Mir ist es gleichgültig, was die Maolots sind, eine Technik haben sie auf keinen Fall. Sie wären nicht fähig, sich gegen das zu wehren, was wir nach Everon bringen können …“

„Wer wird es bringen?“ Jef war sich kaum bewußt, daß er dem Konnetabel und Beau antwortete. Er gewann tiefere Einsicht in das, womit sie konfrontiert wurden, und die Worte, in die er das, was er sah, übersetzte, waren nur winzige Bruchstücke von dem, was sein Verstand in diesem Augenblick zu begreifen begann.

„Wir werden es bringen! Hören Sie mal …“

Er trat einen Schritt auf Jef zu.

„Bleiben Sie bitte stehen“, sagte Jef beinahe geistesabwesend. Er hatte jetzt keine Zeit, sich auf andere Menschen zu konzentrieren, denn endlich nahmen vage Umrisse in seinem Kopf sinnvolle Formen an. „Ich muß nachdenken.“

Armage war bei Jefs Worten stehengeblieben, aber nun bewegte er sich von neuem vorwärts, und auch Beau rückte näher.

Will trat zwischen Jef und die beiden anderen.

„Ihr sollt stehenbleiben“, befahl er. Er sprach wieder mit Martins Akzent. „Und ihr werdet stehenbleiben!“

Noch einmal zögerten die beiden großen Männer einen Augenblick lang. Dann, als hätten sie sich seit Jahren zusammen darin geübt, gingen sie weiter, mit der Absicht, links und rechts an Will vorbeizugehen.

„Laß sie nur, Will“, sagte Jef.

Er kannte sich selbst in diesem Augenblick kaum wieder, aber er war sich plötzlich sicher, was er tun konnte. Er trat vor Will und hob leicht die Hände, eine gegen Armage, eine gegen Beau.

„Halt“, sagte er.

Er langte hinaus. Er berührte keinen der beiden Männer auch nur mit einem Finger. Aber das Gefühl, das die ganze Zeit in ihm gewachsen war, schien sich kurzfristig im Mittelpunkt seines Körpers zusammenzuballen und dann plötzlich durch seine Fingerspitzen wie in einem bewußten Willensakt auszuströmen. Die Ausstrahlung war unsichtbar, aber deutlich zu spüren, und beide Männer machten halt, als versagten ihre Muskeln den Dienst.

„Wartet da.“ Jef ließ seine Hände sinken. „Laßt mich nachdenken.“

Ihm kam zu Bewußtsein, daß er nicht „nachdenken“ gemeint hatte. Er meinte diesen Prozeß, das Gefühl in Sinn zu übersetzen, der gerade in ihm stattfand, und das Denken hatte daran nur einen geringen Teil. Jef konzentrierte sich wieder darauf und fuhr fort – mehr für sich als für die anderen –, das, was er fühlte, in die verbale Form zu übertragen, die ihm vertraut war.

„Wir passen nicht hinein“, sagte er. „Das ist das Problem. Wir weigern uns hineinzupassen. Schlimmer, wir zerstören …“ Er zögerte. „In Selbstverteidigung müssen sie uns anpassen oder vernichten … hier auf Everon und auf jeder anderen Welt, wo wir leben.“

„Auf der Erde?“ fragte Will. Wie gebannt hingen seine Augen an Jef.

„Auch auf der Erde“, antwortete Jef geistesabwesend.

„Wie denn?“ entfuhr es Armage. Die anderen Menschen, die nach und nach erwachten, begannen, sich enger um die Gruppe aus fünf Personen zu scharen. „Wollen Sie mir das verraten? Wie können sie uns irgend etwas antun?“

„Weil diese Welt ganz und gar ihnen gehört“, sagte Jef, „und jede andere Welt, die sie zu berühren wünschen.“

„Was hast du gemeint, als du vorhin fragtest, wer die Waffen gegen sie bringen soll?“ erkundigte sich Jarji.

„Schiffe, die Waffen irgendeiner Art von der Erde bringen sollen, würden nie hier ankommen“, sprach Jef gedankenverloren. „Sie können jeden Ort erreichen. Natürlich! Warum ist mir das nicht eher eingefallen? Sie müssen in all den Jahren, die Mikey bei mir auf der Erde war, imstande gewesen sein, ihn zu erreichen. Wäre das nicht der Fall gewesen, dann hätte er sich hier nicht wieder einfügen können. Er wäre – ich glaube, man könnte es so nennen – geisteskrank gewesen. Sie haben sowohl Mikey als auch mich benutzt, um sich die Erde und die dort lebende menschliche Rasse anzusehen.“

Er wandte sich an Will.

„Will, es gibt nichts, was wir in einem Kampf gegen sie einsetzen könnten – aber sie können alles, was wir haben, gegen uns benutzen.“

Beau grunzte.

„Kann ein Maolot ein Raumschiff steuern?“

„Es ist nicht nötig, daß ein Maolot dies tut. Sieh mal …“

Jef wies auf das Jimi neben Yvis Suchi. „Diese Pfoten können alles tun, was wir mit unsern Händen vermögen.“

„Es gibt aber keine Jimis auf der Erde – es gibt sie nirgendwo als auf Everon“, wandte Beau ein.

Jef streifte ihn mit einem kurzen Blick. „Ich meine, davon gehört zu haben, daß man beantragen wollte, Jimis als Haustiere zur Erde zu exportieren“, erwiderte er. „Aber darauf kommt es gar nicht an. Da sind die Verbindungen zwischen den Variformen und den Tieren auf der Erde, von denen sie abstammen. Sie können die irdischen Tiere erreichen, weil sie die Variformen hier erreichen können.“

„Die Variformen erreichen? Was soll das bedeuten?“ fragte Armage.

Jef wies mit dem Kopf auf den Wisent, der fast in Reichweite von ihnen stand.

„Sehen Sie sich den Wisent und die anderen Variformen an, die sich hier versammelt haben. Sie alle sind von selbst hierhergekommen. Niemand hat sie geführt. Sie sind jetzt von Everon berührt worden, und Everon kontrolliert sie, wenn es das will, ebenso wie es seine eingeborenen Geschöpfe kontrolliert. Sehen Sie dorthin …“

Jef wies mit einer Armbewegung auf die Säulen. Am Boden zwischen den ersten war hier und da ein Farbtupfer zu erkennen – das Blau eines Glockenvogels, das Grau und Weiß eines Galuschas, das Grün eines Blattschleichers. Alle diese Geschöpfe warteten ebenso geduldig wie die Maolots.

„Ich glaube es nicht“, brummte Armage.

„Nein“, grunzte Beau heftig. „Aber Sie haben auch noch nie etwas von Everon gewußt.“

Sie starrten einander an.

„Selbst wenn es wahr wäre“, führte Armage aus, „können ein paar Versuchstiere in Laboratorien die Erde nicht übernehmen. Verglichen mit der Anzahl Menschen sind ja kaum noch Tiere auf der Erde übriggeblieben.“

„Es gibt Ratten. Ebenso viele wie Menschen oder mehr, selbst heute noch“, sagte Jef. „Es gibt Insekten. Es gibt Leben aller Art im Wasser. Und schließlich gibt es noch die Pflanzen. Wenn die Flora auf Everon sich selbst so verändern kann, daß sie Variform-Antilopen vergiftet, können auch irdische Pflanzen giftig werden. Das Wetter kann sich gegen uns kehren. Die Menschen können nicht auf der Erde leben, wenn sie ihre Welt sterilisieren müssen.“

„Und was wollen sie nun von uns?“ rumpelte Beaus Baß tief aus seiner Brust.

„Ja, fragen Sie!“ stimmte Armage plötzlich zu. „Vielleicht können wir diese Welt zwischen uns aufteilen. Schließen Sie einen Handel ab. Geben Sie ihnen ein großes Stück der wilden Gebiete als Reservation …“

„Beau hat recht“, warf Will ein und sah Armage an. „Sie sind ein Idiot.“

„Ein Idiot? Ich habe zu schwer gearbeitet, um nun alles an die Maolots zu verlieren!“

„Glauben Sie, daß es darauf ankommt?“ fragte Jef. Aber er sprach ohne Heftigkeit oder Nachdruck, er sprach beinahe traurig. „Die Sache ist größer als das. Wir sind nicht hier, um zu feilschen. Wir sind hier, um zu versuchen, einen Grund aufzuzeigen …“

Er brach ab.

„Einen Grund, Jef?“ forderte Jarji ihn zum Weitersprechen auf. „Sag schon!“

Er hörte ihre Stimme wie von weit weg. Seine Gedanken drehten sich plötzlich in seinem Kopf, hilflos umhergeworfen wie ein ruderloses Boot auf stürmischer See, weit weg vom Land.

„Nein“, sagte er.

„Nein was?“ hörte er sie fragen.

„Ich kann nicht! Nein. Mikey …“ Er suchte hilflos mit dem Gefühl in ihm nach dem Maolot. „Mikey …“

Er könne ihm nicht helfen, teilte Mikey ihm mit. Es kam ebenfalls wie aus weiter Ferne, obwohl Mikey im Körper kaum mehr als eine Armlänge von ihm entfernt war.

„Jef, was ist denn?“ Schwach vernahm er Jarjis Stimme.

„Ich bin es“, flüsterte er. „Um mich dreht sich dies alles. Auf mich haben sie alle gewartet. Diese ganze Geschichte, den Menschen Mikey zuzuspielen, um ihn und mich zusammen aufwachsen zu lassen. Sie sagen, ich sei der eine, der es rechtfertigen soll …“

Jef schwankte. Er merkte, daß Wills Hände nach ihm griffen und ihn aufrecht hielten.

„Was rechtfertigen?“ fragte Jarji.

„Alles!“ Dieser Schrei rang sich aus seinem Innersten los. „Sie wollen, daß ich ihnen sage, warum sie versuchen sollten, mit uns zu leben. Sie wollen, daß ich ihnen die Antwort gebe. Sie wollen, daß ich ihnen einen Grund nenne, warum sie die menschliche Rasse am Leben lassen sollen!“

„Dann mußt du versuchen, das zu tun“, verlangte Will.

„Versuchen?“ Jef wandte sich ihm zu, ohne ihn zu sehen. Ihm war, als werde er auseinandergerissen und in Fetzen bis in die fernsten Ecken des Kosmos’ verteilt. „Ich? Aber ich bin der letzte im Universum, der das tun kann. Ich habe keine Verwendung für die übrige Menschheit. Ich bin immer einsam, immer ein Außenseiter gewesen, und ich hatte, seit ich mich erinnern kann, nie Verwendung für irgend jemanden, der nicht zu unserer Familie gehörte! Ich finde, daß wir es verdienen, ausgelöscht – und vergessen zu werden!“