Mikey knurrte.
Es war kein lautes Geräusch, aber es war laut genug. Als sei das Lichtzeichen an der Wand der Landungsfähre, das anzeigte, man atme jetzt die planetare Luft von Everon, für ihn ein Signal, hatte der halbwüchsige Maolot seinen massigen, löwenartigen Kopf von Jef Robinis Schoß gehoben. Die fest geschlossenen Augen starrten blind ins Leere, und zwischen den halbgeöffneten Kiefern hervor drang ein tiefes Brummen der Aufregung. Wie der Vorgeschmack eines Erbrechens stieg Jef eine traurige Bitterkeit in Kehle und Brust auf.
„Schsch …“, sagte er leise und schloß die Hand um die mächtigen, offenen Kiefer. „Ruhig …“
Aber der Schaden war bereits angerichtet.
In der Fähre, die jetzt, kurz vor der Landung, frei an ihrem Kardanrahmen rotierte, lastete eine neue Stille in der frischen Luft. Zweiundvierzig Passagiere, die meisten davon Everon-Kolonisten der ersten Welle, die von einem Urlaub auf der Erde zurückkehrten, der Rest Erdbewohner, die aus geschäftlichen Gründen nach Everon wollten, hatten ihre Gespräche schlagartig unterbrochen. Jef konnte ihre Gesichter wegen der Abschirmung, die in aller Eile um seine Sitzbank gezogen war und Mikey und ihn einschloß, nicht sehen, aber das war auch gar nicht nötig.
„Haben Sie das gehört?“ erklang die heisere Stimme eines Mannes durch das Schweigen.
Eine Pause. Die anderen Stimmen warteten noch.
„Ich sagte – haben Sie das eben gehört?“
Wieder Pause.
„Der Vorstand dieser Raumschiffahrtslinie wird von mir hören“, fuhr die Stimme fort. „Als ob hier nicht schon auf natürliche Weise genug von diesen schädlichen Tieren geboren würden, müssen sie auch noch eines von der Erde importieren und es zusammen mit uns anderen im Passagierabteil herbefördern …“
Die Stimme verlor sich in einem unverständlichen Murren. Die meisten der heimkehrenden Passagiere hatten von dem Bordfest am Abend zuvor einen Kater, und einige von ihnen waren immer noch betrunken. Es waren keine Leute, wie Jef sie auf einer der neuen Welten erwartet hatte. Nicht diese Leute mit ihrem überreichlichen Gebrauch von irdischen Duftwässern, ihrer Besessenheit von irdischen Moden, ihrer offenbaren Abneigung, über irgend etwas zu sprechen, das mit ihrer neu besiedelten Welt zusammenhing – und vor allem mit ihrem tiefen Haß gegen das Wildleben auf Everon, wie zum Beispiel Mikey.
Männer und Frauen, alle hatten sie sich von Jef während der ganzen Reise zurückgezogen, auch wenn sie Mikey gar nicht gesehen hatten und nur wußten, daß er aufgrund einer Sondererlaubnis in Jefs Kabine mitreiste.
Jef blickte jetzt über den Kopf des Maolots hinweg auf die Metalltafel mit Namen und Symbol der Raumschifflinie, die an der Trennwand ihm gegenüber hing. Die traurige Bitterkeit war immer noch in ihm – ein scheußliches Gefühl, das er nur zu gut kannte. Generationenlang war in seiner Familie der Robini-Jähzorn berüchtigt gewesen. Aber Jefs Vater hatte darum gekämpft, seine Familie in den schlimmen Jahren am Leben zu erhalten. Das war in der Zeit gewesen, als aus den USA ein verarmtes Land wurde, dessen Führungsrolle bei der Eroberung des Weltraums dahingewelkt und gestorben war. In einem bankrotten Land, verhungernd aus Mangel an Raumfahrt-Industrien, die ihm einen wirtschaftlichen Wettbewerb mit der übrigen Welt ermöglicht hätten, war Jähzorn ein Luxus, den man sich nicht leisten konnte. Ira Robini hatte beschlossen, daß wenigstens sein jüngerer Sohn sich nicht damit das Leben schwermachen sollte.
Dem äußeren Anschein nach hatte er sein Ziel erreicht, wenn auch nicht tatsächlich. Normaler Zorn war jetzt so tief in Jef vergraben, daß nur die äußerste Herausforderung ihn erwecken konnte. An seine Stelle war jenes Gefühl getreten, das er in diesem Augenblick empfand und mit dem er die meiste Zeit seiner Existenz gelebt hatte, dieses gräßliche Gefühl trauriger Bitterkeit, das ihn manchmal inwendig zu zerreißen drohte. Er war einsam – aber er verfügte über Selbstbeherrschung.
Er hatte nicht erwartet, auf diesem Schiff nach Everon so zu empfinden. Nach dem Tod seiner Eltern hatte er geglaubt, er könne von nichts mehr berührt werden. Im Gegenteil, da er endlich mit Mikey nach Everon unterwegs war, ihm die nötigen Mittel zur Verfügung standen und er frei war, mit Mikey die Arbeit zu tun, von der er jahrelang geträumt hatte, war er der Meinung gewesen, diese Reise werde ihm Vergnügen bereiten. Das letzte, was er erwartet hatte, war die Isolierung von seinen Mitpassagieren und ihr unverhüllter Haß.
Er saß da, streichelte Mikey und hörte das jetzt nicht mehr verständliche Murren der Stimme hinter ihm. In der stark reflektierenden Trennwand, an der die Metalltafel hing, sah er dunkel sein Spiegelbild. Ein großer, magerer Mann Anfang Zwanzig mit starkem Knochenbau und etwas langem Gesicht, mit dunklen Haaren und noch dunkleren Augen. Herren von Everon lautete die Inschrift auf der Tafel. Es war der Name der Gesellschaft, die die ersten Kolonisten dieser Welt, zu der er hinabstieg, gegründet hatten, dieser Welt, die Mikeys Geburtsort war.
Mikey stieß aufmunternd mit dem massigen Kopf gegen Jefs Brust. Zwischen Jef und dem Eingeborenen von Everon, der trotz seiner seit Jahren unveränderten Halbwüchsigkeit die Maße eines großen Bernhardiners hatte, bestand eine Verbindung, die manchmal der Telepathie nahekam.
„Schon gut, Mikey, schon gut …“, flüsterte Jef dem Maolot zu.
Er gab sich Mühe, gar nicht mehr an die anderen Passagiere zu denken. Aus seiner Jackentasche zog er ein einzelnes Blatt Papier. Er hatte es nach dem Tod seines Vaters zwischen den wenigen Briefen gefunden, die sein älterer Halbbruder William nach Hause geschrieben hatte. Das Blatt zeigte eine mit schwarzer Tinte flüchtig gezeichnete Landkarte, einen Weg von Everon-Stadt zur Küste, zurück durch das Grasland und in die Berge hinein. Die gestrichelte Linie endete an einem Punkt, der als Tal der Throne bezeichnet war, und neben diesem Namen waren drei Wörter geschrieben und umkreist.
„Hier Mikey gefunden.“
Jefs Hoffnung war es immer gewesen, den Grund herauszufinden, warum der auf der Erde aufgezogene Maolot niemals die Augen geöffnet und sich auch nicht zu voller körperlicher Reife entwickelt hatte, indem er Mikey an den Ort seiner Geburt zurückbrachte. Zumindest war es nicht unvernünftig erschienen, daß Mikey, war er erst einmal zurück auf seiner Heimatwelt, eine Reaktion zeigen würde, die die These von Jefs Doktorarbeit rechtfertigte. Ihr zufolge lag in den Maolots ein Schlüssel zum besseren Verständnis des Planeten Everon und vielleicht auch zum besseren Verständnis anderer kolonisierter Welten verborgen. Diese Hoffnung und diese These hatten Jef in den Kampf um das Forschungsstipendium geschickt, das sie nun beide hierherbefördert hatte. Grund genug, daß er sich von der Einstellung der anderen Passagiere nicht beeinflussen lassen konnte. Jetzt durfte einfach nichts mehr schiefgehen, ganz gleich, was er und der Maolot auszuhalten hatten. Er steckte die Karte wieder weg.
Der Mann, der zuvor gesprochen hatte, erhob von neuem die Stimme. Jef versuchte, sie zu ignorieren. Ein Gefühl der Leere hatte sich mit der traurigen Bitterkeit vereint. Diese Leute – und andere wie sie – würden jene Mitmenschen sein, von deren Hilfe seine Existenz abhing, sobald er einmal auf der Oberfläche Everons angelangt war. Wie sollte er sie um ihre Hilfe bitten, wenn sie entschlossen waren, auf diese Art zu reagieren?
Die Stimme ließ sich nicht ignorieren. Sie stieg wieder zu hörbarer Stärke an, und plötzlich wurde Jef von der traurigen Bitterkeit überwältigt. Er legte eine Hand auf den Sitz neben sich, bereit, sich auf die Füße zu stellen, vor den Sprecher zu treten und die Sache mit ihm auszufechten. Aber kaum hatte er dies gedacht, als der Maolot mit der überraschenden Reaktion, die er immer auf Jefs Emotionen zeigte, von neuem den Kopf hob. Mikeys schwerer Körper, katzengleich und geschmeidig, spannte sich. Der große Löwenkopf drehte sich nach rückwärts dem unsichtbaren Sprecher zu; die Oberlippe zog sich von den krummsäbelförmigen Zähnen zurück, die bereits imstande waren, einen menschlichen Arm glatt durchzubeißen, und die ungeöffneten Augen starrten genau in die Richtung der Stimme. Sie starrten, als könne der Maolot nicht nur durch die metallene Trennwand und die menschlichen Körper, die sich dahinter befinden mußten, hindurchblicken, sondern auch durch den Sprecher selbst.
„Nein, nein“, flüsterte Jef, der die Selbstbeherrschung schnell zurückgewann. „Es ist schon gut … alles gut, Mikey. Leg dich!“
„Wenn ich etwas zu sagen hätte …“ Wieder erhob sich die Stimme über die leisere Unterhaltung der anderen Passagiere. „Wenn ich doch bloß etwas zu sagen hätte, dann …“
„Ja, wenn Sie doch etwas zu sagen hätten“, fuhr unerwartet eine andere Stimme dazwischen. Es war ein heller, lebhafter Bariton mit einem merkwürdigen Akzent, der sich beinahe irisch oder vielleicht walisisch anhörte, und es klang so etwas wie leiser Hohn mit. „Wenn Sie etwas zu sagen hätten, mein Herr, ginge es im Universum zweifellos ein Gutteil vernünftiger zu. Aber es ist nun einmal nicht der Fall – nicht wahr? Und das Tier würde sich kaum hier, anstatt im Gepäckraum befinden, wenn es nicht einen guten Grund und eine ebenso gute Genehmigung dafür gäbe. Habe ich da nicht recht, werter Herr?“
Diese Frage war an Jef gerichtet worden, und jetzt erschien plötzlich ein großer, drahtiger, schwarzhaariger Mann mit einem breiten, schmallippigen Mund unter einem dünnen schwarzen Schnurrbart und grünen Augen um die Ecke der Trennwand hinter Jefs Sitzabteil. Der Schnurrbart und die Augen zusammen gaben dem ganzen Gesicht des Mannes ein hämisches, teuflisches Aussehen. Jef hatte ihn während der zweiwöchigen Reise seit dem Start von der Erde bisher noch nicht gesehen, aber Jef hatte sich auch die meiste Zeit bei Mikey in der Kabine aufgehalten. Der Fremde lächelte und ließ sich, ohne auf eine Einladung zu warten, auf den Doppelsitz Jef gegenüber fallen.
Jef sah ihn sich an und war auf der Hut. Weder das Leben noch sein Vater hatten ihn gelehrt, an überraschend auftauchende Freunde zu glauben. Ein Teil von ihm nahm die Einmischung des anderen sogar übel. Es gab keinen plausiblen Grund, warum dieser Mensch zu ihrer Rettung herbeieilen sollte, und gerade jetzt war Jef nicht in der Stimmung, mit irgendeinem seiner Mitmenschen zu sprechen. Aber der andere versuchte offensichtlich zu helfen, und heutzutage waren auf der Erde für arme Leute – und besonders für arme Leute aus Nordamerika – gute Manieren dermaßen zum Überleben notwendig, daß sie beinahe schon ein Zwang waren.
„Sie haben recht, mein Herr“, antwortete Jef höflich. „Ich habe tatsächlich eine Genehmigung, und es ist erforderlich, daß der Maolot ständig bei mir ist.“
„In der Tat. Wie wäre es auch anders möglich?“ meinte der schwarzhaarige Mann. Er hatte eine tragende Stimme. Sowohl seine Stimme als auch sein Benehmen waren ein wenig zu ironisch und zu pointiert, um ganz angenehm zu sein. Aber aus irgendeinem seltsamen Grund fand Jef das nicht mehr so unsympathisch wie beim ersten Auftauchen des anderen. Jef kannte den Mann nicht, und doch konnte er den Eindruck der Vertrautheit nicht abschütteln. Es war beinahe so, als sei der Fremde jemand, den er einmal gekannt hatte, an den er sich aber nicht mehr erinnern konnte. Ein merkwürdiges Gefühl. Seitdem Tod seiner Mutter und seines Vaters hatte er sich unter den Trillionen von Individuen, aus denen die menschliche Rasse bestand, vollkommen allein gefühlt. Gegen seinen Willen erwachten in ihm freundlichere Gefühle für den Fremden.
„Martin Curragh ist mein Name“, stellte dieser sich vor. „Und wer sind Sie, mein Herr?“
„Jef Aram Robini“, antwortete Jef. „Das ist Mikey.“
Er beugte sich in seinem Sitz vor, um dem Mann die Hand zu reichen. Die Bewegung störte Mikey. Er hob kurz den Kopf, richtete ihn auf Martin Curragh und ließ ihn unerklärlicherweise wieder auf Jefs Knie fallen, ohne eine Spur von Neugier für den Neuankömmling zu zeigen.
„Danke“, sagte Jef.
Martin hob fragend die schwarzen Augenbrauen.
„Ich meine“, erklärte Jef, „danke, daß Sie nicht versuchen, ihn zu streicheln. Die Leute scheinen stets das eine oder das andere Extrem darzustellen – sie fürchten sich vor ihm zu Tode, oder sie möchten ihn betatschen.“
„Und das ist nicht ratsam?“
„Nein“, sagte Jef. „Er ist eine Lebensform von Everon, nicht von der Erde. Seine Instinkte und Reaktionen sind nicht die eines irdischen Tieres. Wenn ein Fremder ihn berührt – und er kann die Berührung eines Fremden immer von der meinen unterscheiden –, wird er ängstlich.“
„Ein gefährliches Tier also.“ Aber es klang nicht so, als ob dieser Martin Curragh seinen eigenen Worten wirklich glaubte. „Vielleicht hat der Herr recht, der soeben gesprochen hat.“
„Nicht, wenn ich bei ihm bin“, erwiderte Jef kurz.
„Und ist auch das eine Tatsache?“ Wieder schien Martin Curraghs Stimme eine Spur von Hohn zu enthalten, aber von neuem stellte Jef fest, daß seine merkwürdige Sympathie für den Mann stärker war als seine normalen Reaktionen.
„Richtig“, sagte er. „Ich habe ihn von klein auf großgezogen. Ich habe die Stelle seiner Mutter eingenommen. Maolots bleiben, bis sie erwachsen sind – wie Sie vielleicht wissen –, blind und von dem Weibchen, das sie geboren hat, abhängig. Mikey vertraut mir, und er tut, was ich ihm sage.“
„Aus welchem Grund kommt ihr beiden dann nach Everon? Wollen Sie auswandern? Erzählen Sie mir bloß nicht, Sie hätten den ganzen Weg gemacht, nur um das Tier nach Hause zu seiner eigenen Art zu bringen!“
„Doch, so ist es …“ Ganz uncharakteristisch für Jef war, daß er plötzlich einen starken Drang fühlte, diesem ersten freundlichen Mitreisenden, den er getroffen hatte, die ganze Sache zu erklären. Schon so lange waren die Worte in seinem Inneren eingeschlossen, und keiner war dagewesen, der ihm zuhörte. „Sehen Sie, er ist ganz kurz nach seiner Geburt zur experimentiellen Beobachtung auf die Erde gebracht worden. Nun ist er acht Jahre alt. Seine Augen sollten offen und er sollte dreimal so groß sein, wie er ist …“
„Dreimal? Kommen Sie, Herr Robini!“
„Doch, mein Herr. Dreimal so groß wie jetzt. Aber aus irgendeinem Grund ist er nicht weitergewachsen. Ich vermute, daß ihm auf der Erde irgend etwas gefehlt hat. Deshalb habe ich Anstrengungen unternommen, ihn zurückzubringen, damit ich feststellen kann, ob er auf seiner Heimatwelt nicht doch noch erwachsen werden wird.“
„Das ist Ihre Vermutung, sagten Sie?“ Die Frage klang scharf.
Plötzlich war Jef auf der Hut. Er wurde sich bewußt, daß er diesem Fremden gegenüber vielleicht mehr an Informationen herausgesprudelt hatte, als klug war. Aber jetzt bot sich ihm kein einfacher Weg mehr, das Gespräch zu beenden.
„Mikey ist mit mir zusammen aufgewachsen“, erklärte er. „Meine Eltern waren Dozenten an der Xenologischen Forschungsstation Philadelphia. Als ich über das Thema fremdrassiger Intelligenzen promovieren wollte, nahm ich ihn zum Gegenstand meiner These, und die These verhalf mir zu den Mitteln, mit denen ich ihn zur weiteren Beobachtung herbringen konnte.“
„Dann sind sie also Zoologe für außerirdische Spezies?“ erkundigte sich Martin Curragh.
Jefs Wachsamkeit verdoppelte sich.
„Nicht ganz“, antwortete er. „Noch nicht. Der einzige Grund dafür, daß ich das Stipendium bekam, war, daß niemand außer mir auch nur versuchen konnte, diese Arbeit mit Mikey zu tun. Es bestand kein Mangel an qualifizierten Leuten, die mich hätten beiseite schieben können, wäre da nicht die Tatsache gewesen, daß ich der einzige Mensch bin, auf den er hört – nachdem mein Vater und meine Mutter starben.“
Für einen kurzen Augenblick sah Martin ihn schweigend an.
„Dann sind sie also tot?“ fragte er.
„Seit zwei Jahren. Ein unterseeischer Verkehrstunnel brach ein.“ Selbst nach so langer Zeit mochte Jef nicht darüber sprechen. „Jedenfalls ist das der Grund, warum ich hier bin.“
„Nur weil Sie das Glück hatten, vor acht Jahren zum Betreuer dieses interessanten Tieres ernannt zu werden.“
„Es war nicht allein Glück“, sagte Jef.
„Oh?“ Martins Augenbrauen hoben sich. „Wie nennen Sie es denn sonst?“
„Es ist an bestimmten Fäden gezogen worden, nehme ich an. Mein älterer Bruder war Kolonialbeamter des Ökologischen Korps hier auf Everon. Ich nehme an, Sie wissen, was solche Leute tun?“
„Nun, was tun sie?“
„Die meiste Zeit sind sie so etwas wie bessere landwirtschaftliche Ratgeber für neue Kolonien während der Ersten Hypothek“, erklärte Jef ein wenig bitter. „Jedenfalls war Will hier auf Everon oben in den Bergen, und er fand ein neugeborenes Maolot-Junges nicht weit von der Stelle, wo seine Mutter von einem Steinschlag getötet worden war. Es gelang ihm, das Junge am Leben zu erhalten, und schließlich sandte er es zurück zur Erde, damit es beim Heranwachsen beobachtet werden könne. So war es wahrscheinlich seine Empfehlung, die es zustande brachte, daß wir zu Betreuern ernannt wurden. Allerdings war mein Vater ein voll qualifizierter und sehr erfahrener Zoologe, und er arbeitete für das Amt für xenologische Forschung. Nur – nun, Sie wissen, wieviel Einfluß ein Nordamerikaner in den interkulturellen Behörden zu haben pflegt.“
„Sicher nicht den größten“, meinte Martin.
Eine Sekunde lang war Jef versucht, Martin zu fragen, ob er selbst Nordamerikaner sei. Aber sein Akzent machte es unwahrscheinlich, und die Frage wäre sowieso ziemlich indiskret gewesen.
„Wie gesagt, so sind Mikey und ich zusammen aufgewachsen“, fuhr Jef fort. „Vermutlich – ich sage vermutlich, weil es vorher noch niemandem gelungen ist, einen Maolot in der Gefangenschaft am Leben zu erhalten – schließen sie sich an eine einzige Person an. Mikey hat alles getan, was mein Vater oder meine Mutter von ihm verlangten, aber der einzige Mensch, auf den er wirklich reagierte, war ich. Deshalb hatte es keinen Zweck, ihn mit irgendeinem anderen nach hier zurückzuschicken, und deshalb wurde das Forschungsstipendium mir gewährt.“
„Und auch auf Ihren Bruder – den, der ihn gefunden hat – reagierte das Tier nicht?“ fragte Martin. „Dann handelt es sich dabei nicht um eine Prägung.“
„Nein. Junge Enten und andere irdische Geschöpfe werden von dem ersten sich bewegenden Gegenstand, den sie erblicken, geprägt und folgen ihm, aber Mikey gehört nach Everon. Ganz zu schweigen von der Tatsache, daß er viel intelligenter ist als eine Ente, beziehungsweise, meiner Meinung nach, intelligenter als jede auf der Erde geborene Spezies mit Ausnahme des Menschen. Aber, wie dem auch sei, William hat ihn nach diesen ersten Tagen niemals mehr gesehen.“
„Ist er nie auf Besuch nach Hause zur Erde gekommen?“
„Er starb irgendwo im Oberland hier auf Everon“, entgegnete Jef ziemlich kurz. Ihm wurde immer unbehaglicher dabei, daß er all diese persönlichen Geschichten vor einem vollkommen Fremden ausbreitete. „Das war ein paar Wochen, nachdem er Mickey zu uns schickte.“
„Ach ja?“ Aus Martins Stimme war deutlich das Mitgefühl herauszuhören. „Ich nehme an, Sie werden versuchen, sein Grab zu finden und so weiter.“
Tatsächlich war das eines der Vorhaben, die Jef geplant hatte, vorausgesetzt, es war nach beinahe acht Jahren immer noch möglich, dieses Grab zu lokalisieren. Eine kürzlich kolonisierte Welt war nicht der einfachste Ort, wenn es darum ging, Ereignissen nachzuspüren, über die schon bei ihrem Geschehen wahrscheinlich nicht mehr als ein beiläufiger Aktenvermerk gemacht worden war.
„Vielleicht.“ Jef hatte nicht beabsichtigt, das Gespräch bis in diesen privaten Bereich vordringen zu lassen. Um jeden Preis mußte er dem ein Ende machen. „Jedenfalls ist das eine Privatangelegenheit.“
„Oh, wirklich?“
Jef kam es so vor, als sei der Hohn in Martins Stimme jetzt unüberhörbar.
„So ist es, Herr Curragh“, sagte er. „Ich denke doch, daß ich ein Recht auf ein Privatleben habe?“
„Oh, das haben Sie.“ In einer einzigen fließenden Bewegung erhob Martin sich. „Sie brauchen nicht zu fürchten, daß ich in Ihre Geheimnisse eindringen will. Sie mögen sogar ein John Smith sein, von dem niemand etwas ahnt. Guten Tag, Herr Robini.“
Er drehte sich um und ging davon.
Jef blieb, wo er war, hin- und hergerissen zwischen zwei Gefühlen. Er nahm Martin seine Aufdringlichkeit übel, und gleichzeitig fürchtete er, den Mann zu energisch zurückgewiesen zu haben. Aber obwohl Martin es nicht wissen konnte, hatte er mit seinem Scherz darüber, Jef könne ein „John Smith“ sein, einen empfindlichen Nerv berührt. Dieser Name war die Deck-Identität für die dienstgradhöchsten Mitarbeiter des Interplanetaren Ökologischen Korps, für die Planeten-Inspektoren. In den Händen dieser Inspektoren lag eine ungeheuerliche Macht. Sie konnten gegen jede Welt, die mit ihrer Ökologie nicht richtig umging, Wirtschaftssanktionen namens der Familie bewohnter Planeten verhängen. Und der Deckname „John Smith“ sollte diese Männer und Frauen in ihrem persönlichen Leben vor politischem Druck schützen. Niemand außerhalb des Korps kannte die wirkliche Identität irgendeines John Smith.
Jef hatte einmal davon geträumt, selbst ein Inspektor des Ökologischen Korps zu werden. Das war gewesen, bevor Will, der ältere Bruder, an den er sich kaum erinnern konnte, sich um die Position beworben hatte und vom Korps abgelehnt worden war. Das war sechzehn Jahre her, aber Jef wußte noch, eine wie schwere Enttäuschung es für die Familie gewesen war, als die Nachricht darüber eintraf. Jefs Vater hatte auch diese Niederlage ohne ein Wort ertragen. Doch so jung er damals auch noch gewesen war, Jef hatte gespürt, welchen Schmerz der ältere Robini schweigend in sich verbarg.
Trotz der Ablehnung hatte Will seinen eigenen Weg zu den neuen Welten gefunden und schließlich eine untergeordnete Stellung im Ökokorps erhalten. Ihm hatte er länger als eine halbe Dekade treue Dienste geleistet, bis er hier auf Everon, seinem letzten Posten, endete. Und wie hatte das Korps diesen Dienst belohnt …?
Jef riß sich von dieser Erinnerung los. Seine Gedanken kehrten zu Martin zurück, diesmal mit schneidender Verachtung. Der Mann hatte ja keine Ahnung, was und wieviel es kostete, ein John Smith zu werden …
„Landung in einer Minute!“ Die Stimme eines Schiffsoffiziers erklang aus dem Deckenlautsprecher über Jefs Kopf, und mit einem Ruck kam er zu sich selbst zurück. In dieser ganzen Zeit hatte sich das Raumschiff stetig auf die Oberfläche von Everon hinabgesenkt, ohne daß es ihm bewußt geworden war. „Landung in einer Minute.
Ausgang bitte nur durch die Luftschleuse der Fähre. Ein Beamter von Everon wird Sie am Fuß der Landungstreppe in Empfang nehmen, um sie durch die Einreiseformalitäten zu schleusen.“
Ein paar Sekunden später kündigte ein kaum spürbarer Ruck an, daß das Schiff den Boden berührt hatte. Plötzlich standen die Leute in den Abteilen rings um Jef und Mikey auf. Sie sammelten ihr Handgepäck ein und begannen, sich auf die noch geschlossene Luftschleuse der Fähre zuzubewegen. Als die ersten Passagiere von den Plätzen hinter der Abschirmung, die Jef und Mikey im Heck umgab, vorbeidefilierten, hob Mikey jäh den Kopf.
„Ruhig …“ sagte Jef und legte den Arm um die schweren Schultern des Maolots. „Wir warten noch. Warte, Mikey. Laß die anderen zuerst hinaus.“