Die Fähre leerte sich. Jef hakte eine Leine an Mikeys Halsband und führte den Maolot hinaus. Sie gingen einen kurzen Korridor zu ihrer Linken hinunter und an seinem Ende durch die geöffnete Luftschleuse. Die Landungstreppe führte direkt auf die unterhalb liegende zementierte Fläche hinab.
Das Gleißen von Everons großer Sonne Comofors verwirrte Jef, als er aus der im Vergleich dazu trüben Beleuchtung des Schiffsinneren trat. Das Licht blendete nicht, aber es war so stark, daß Jef seine Augen nicht fokussieren konnte. Jeder Gegenstand schien goldüberfunkelt zu sein. Die Luft selbst schimmerte davon. Jef bemerkte, daß Mikey an seiner Seite den Kopf hob und seine Heimatatmosphäre in tiefen Zügen einsog. Diese Luft hatte er nicht mehr geatmet, seit William ihn, damals nicht größer als ein vier Wochen alter Bernhardinerwelpe, vor acht Jahren an Bord eines Raumschiffes wie dieses brachte und er seine Reise zur Erde antrat. Heftige Erregung schien von dem Maolot auszuströmen und Jef zu überfluten.
Jef merkte, daß er selbst ebenfalls mit weitgeöffneten Nasenlöchern die Luft von Everon einatmete. Sie war fremdartig, enthielt leichte Düfte, die an Zimt und zerdrückten Klee erinnerten, aber sie ähnelte nichts, was er je auf der Erde gerochen hatte. Automatisch begann er, die schmale Landungstreppe hinabzusteigen. Bei jeder Stufe stieß Mikey ihn von hinten mit dem Kopf an.
Mit einem Mal wurde ihm eine Schärfe des Bewußtseins zuteil, wie er es nur wenige Male in seinem Leben erfahren hatte. Ohne Vorankündigung dessen, was Everon war – und was Everon für ihn war –, hatte die Welt ihn wie ein Tiger aus einer Deckung heraus angesprungen. Jefs Augen waren verwirrt, doch gleichzeitig sah er alles scharf und klar. Er war sich der dreidimensionalen Realität, in die er nun hinabstieg, intensiv bewußt. So deutlich, daß die Berührung beinahe schmerzhaft war, spürte er das harte Metall des runden Geländers gegen Handfläche und Finger. Wie aus Holz geschnitzt wirkten die Gesichter der Leute auf dem Landefeld unter ihm, die Frau in der dunkelblauen Zolluniform, die am Fuß der Leiter stand, das Bodenpersonal in seinen weißen Overalls, die silberglänzenden Metallpfosten einer Abzäunung, hinter der sich eine Handvoll Passagiere befand, und die große Masse der anderen Passagiere, die ein wenig weiter weg in einen graugrünen Airbus einstiegen. Jenseits der Einzäunung stand in einer Entfernung von vielleicht zweihundert Metern ein gelbbraunes Gebäude, das Raumhafen-Terminal – Warteräume und Hauptquartiere ausländischer Beamter unter einem Dach. Das Gebäude und das Silbermetall des Zauns waren in der Landschaft die einzigen Farbtupfer, die von dem goldenen Licht der Sonne Comofors, jetzt ein wenig nach Mittag am Himmel stehend, nicht vergoldet und verwandelt wurden.
Es war einer jener seltenen und schmerzenden Augenblicke im Leben. Empfindungen stürmten auf Jef ein und überluden ihn, als er blindlings die Landungstreppe hinunterstieg. Es war zu vieles auf einmal, was er aufzunehmen hatte, und er nahm es alles unwillkürlich auf. Das war ein Teil von alldem, das zu finden er hierhergekommen war. Es war Andersartigkeit; es war Freiheit nach der Eintönigkeit und den erdrückenden Vorschriften, nach der Freudlosigkeit, der Überfüllung und Einsamkeit auf der Erde. Hier war er plötzlich ohne jede bewußte Anstrengung ein Teil von allem geworden, was sich rings um ihn befand. Er atmete mit dem Gras hinter dem weißen zementierten Landefeld, er erwärmte sich mit der Erde der niedrigen, bewaldeten Hügel am Horizont. Der Wind brachte ihm tausend verschiedene Botschaften auf einmal, und der ganze Planet Everon, diese Welt, die er nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte, sprach zu ihm mit einer Stimme, die stärker war als die Stimme seiner eigenen vertrauten Heimatwelt.
„Paß?“ fragte die Zollbeamtin am Fuß der Landungstreppe. Jef hatte den Boden erreicht. Jetzt, nur noch Zentimeter von ihr entfernt, sah er eine große Frau mittleren Alters mit ergrauendem kastanienfarbenem Haar und müden braunen Augen.
„Hier.“ Benommen reichte Jef ihr seine Papiere, auch die Sondererlaubnis des Ökologischen Korps für Mikeys Mitreise in der Kabine. „Wir haben die rote Markierung.“
„Ich sehe.“ Sie warf einen Blick auf den roten Aufkleber am Kopf des Passes. „Forschung. In Ordnung. Nach links. Bitte, gehen Sie weiter …“
Jef wandte sich nach links, um sich zu dem Häufchen von Leuten zu gesellen, die hinter dem Stahlzaun warteten. Durch das goldene Sonnenlicht blickte er auf die großen Fenster im Obergeschoß des Terminals, wo er die Hauptquartiere der ausländischen Beamten vermutete. Dort oben mußte William die längste Zeit des Jahres vor seinem Tod, als er hier stationiert gewesen war, sein Büro gehabt haben.
Mikey rieb den Kopf gegen Jefs Hüfte. Jef erinnerte sich an die Anweisung der Zollbeamtin und ging auf die Abzäunung zu, wo sechs weitere Personen warteten. Zweifellos hatten sie ebenso wie er zwecks besonderer Behandlung durch die Zollbehörden von Everon rote Aufkleber auf den Pässen.
Mit Mikey an seiner Seite näherte Jef sich ihnen. Er erkannte nur einen von den sechsen. Martin Curragh war ganz in ein Gespräch mit einem kleinen, untersetzten, grauhaarigen Mann vertieft. Die anderen, so vermutete Jef, kamen alle aus den Einzelkabinen der Ersten Klasse im Bug des Raumschiffes. Plötzlich unterbrach Martin sein Gespräch und warf Jef einen merkwürdigen, durchdringenden Blick zu, einen Blick, der beinahe wie eine Warnung war. Jef sah ihn verdutzt an, aber der schwarzhaarige Mann drehte sich ohne ein weiteres Zeichen sofort wieder zu seinem Gesprächspartner um.
Links von ihnen füllte sich der Flughafenbus mit der Masse der gewöhnlichen Passagiere, aber für die sechs Sonderfälle in ihrer Einzäunung war noch kein Transportmittel in Sicht. Doch mehrere von ihnen richteten die Blicke suchend nach Süden, über die Wipfel der Variform-Eichen hinweg, die den Raumhafen umstanden. Wie Jef sich nach den Karten seines Bruders erinnerte, mußte dort Everon-Stadt liegen. Etwa eine Minute später tauchte auch über den Eichen ein kleines Luftfahrzeug mit Zweistromtriebwerk auf und schwebte gleich darauf ein paar Meter über der Absperrung. Dann setzte es zur Senkrechtlandung an. Aus dem Luftfahrzeug – wie aus den Kennzeichen zu schließen war, eine Art von Polizei-Kurierschiff – trat ein gewichtiger Mann, sowohl groß als auch schwer. Er trug eine Uniform in Khaki und Blau mit goldenen Sternen auf der Hemdentasche. In der Hand hielt er ein Klammerbrett.
Er kam nicht zu den wartenden Leuten, sondern tat nur zwei Schritte aus dem Schatten der Mantelschrauben in den Flügeln seines Luftfahrzeugs heraus und blieb dann stehen. Er sah auf sein Klammerbrett.
„Robini, Jef Aram“, rief er, ohne aufzublicken. „Und ein Maolot.“
Die übrigen Sonderfälle drehten sich um und starrten Jef und Mikey an. Jef führte Mikey vorwärts, bis sie vor dem Mann angelangt waren. Jef blieb stehen. Es kam ihm zu Bewußtsein, daß er sich unwillkürlich so hoch aufgereckt hatte, wie er konnte, und die Anstrengung machte ihn steif und gespannt wie einen Abspanndraht unter Last. Obwohl Jef selbst hochgewachsen war, überragte ihn dieser Mensch um sechs Zentimeter, und an Gewicht hatte er ihm mindestens vierzig Kilo voraus.
Der andere sagte nichts, sondern streckte nur seine Hand aus. In Jefs Inneren begann der Zorn wie eine glühende Kohle aufzuglimmen. Doch seine einzige Reaktion war, daß er auf diese Hand blickte.
„Paß“, verlangte der große Mann scharf.
„Darf ich fragen, mein Herr …“ – Jef zog langsam den Paß und Mikeys Sondergenehmigung aus der Innentasche seiner Jacke – „… mit wem ich spreche?“
„Avery Armage. Planeten-Konnetabel von Everon.“ Armage zog Jef die Papiere aus der Hand. „Ich nehme das da in Verwahrung.“
„Konnetabel?“ Jef sah ihn an. Der Titel bedeutete, daß dieser Mann der höchste Polizeibeamte von Everon war. „Darf ich fragen, warum wir von dem Planeten-Konnetabel abgeholt werden?“
Armage lachte. Eine Sekunde lang sah er fröhlich und freundlich aus. Sein Gesicht verzog sich zu lauter kleinen Knubbeln wie Muskelknoten. Aber das Geräusch, das seinen Humor dokumentieren sollte, klang kehlig, und es fehlte ihm an Wärme.
„Sie dürfen fragen …“, sagte er. Er durchforschte eifrig Jefs Papiere. „Was ist denn das? Sie bringen Ihren Maolot für dauernd her? Wir haben genug Ärger mit denen, die wir schon hier haben und die unsere Wisentherden töten. Na gut – das Tier wird in gerichtliche Verwahrung genommen, auf meinen Befehl hin.“
„Langsam!“ fiel Jef ein, als der andere sich zum Gehen wandte. „Ich habe eine Genehmigung vom Amt für xenologische Forschung. Sie besagt …“
„Ich weiß, was sie besagt.“ Lächelnd wandte Armage sich ihm wieder zu, und Jef kam plötzlich zu der Einsicht, daß das, was der Konnetabel belustigend finden möchte, nicht notwendigerweise das war, was die meisten anderen Leute unter Humor verstehen würden. „Aber die Situation ist anders geworden, seit Sie sich vor zwei Jahren um das Stipendium beworben haben. Everon hat seine Erste Hypothek Anfang letzten Jahres an die Erde zurückgezahlt. Seit anderthalb Jahren hat das Korps kein Besitzrecht mehr an uns. Es hat kein anderes Recht mehr als das der Überwachung. In der Minute, als Sie und Ihr Maolot hier den Boden berührt haben, wurde auf Sie und ihn das hiesige Recht anwendbar, das Gesetz von Everon. Und dieses Gesetz lautet, daß jeder Maolot, der innerhalb besiedelter Gebiete, beziehungsweise innerhalb der Grenzen einer Ranch, gefangen wird, in Gewahrsam genommen beziehungsweise getötet werden muß.“
„Getötet!“ Jef starrte Armage für einen Augenblick völlig konsterniert an. „Sie können ihn nicht töten! Sehen Sie nach, was unter Grund der Reise in meinen Paß eingetragen ist. Dies ist ein Versuchstier, und das Amt für xenologische Forschung hat Geld hineingesteckt. Ich bin mit ihm von der Erde eigens zu dem Zweck hergeschickt worden, seine Reaktionen bei der Rückkehr an seinen Geburtsort zu studieren, nachdem er in einem Laboratorium der Erde aufgezogen wurde. Die Ergebnisse dieser Studien können Einfluß auf die Methoden haben, mit denen eingeborene Lebensformen auf einem Dutzend verschiedener Welten behandelt werden, bereits kolonisierten Planeten ebenso wie Welten, die bisher noch nicht besiedelt worden sind. Sie können ein solches Tier nicht vernichten!“
„Zu traurig, was Sie mir da erzählen“, erwiderte Armage gemächlich. Seine dunklen Augen fingen von der gelben Sonne am Himmel Lichtpunkte ein wie die Augen einer Katze. „Aber Gesetz ist Gesetz. Natürlich tut es mir leid, aber …“
„Entschuldigen Sie sich nicht, Konnetabel“, unterbrach ihn die Stimme Martin Curraghs. Plötzlich stand der schwarzhaarige Mann neben Jef und Armage. Sein dünnlippiger Mund verzog sich zu Ehren des hohen Polizeibeamten zu einer freundlichen Kurve. „Warten Sie statt dessen lieber einen Augenblick und hören Sie sich die ganze Geschichte an, bevor Sie etwas tun, das Sie später vielleicht bereuen. Bestimmt ist Everon noch nicht so reich und mächtig, daß es die Wünsche des Amtes für xenologische Forschung, dem das Wohl der gesamten Menschheit am Herzen liegt, ignorieren kann. Und daß ihm das Wohl der gesamten Menschheit am Herzen liegt, wissen wir doch alle, nicht wahr?“
Wieder verzog sich Armages Gesicht zu harten Knoten, aber diesmal nicht humorvoll.
„Und wer sind Sie?“ fragte er Martin.
„Wer ich bin? Ich habe ein oder zwei Dutzend verschiedene Namen“, antwortete Martin vergnügt. „Aber ich möchte Sie nicht mit ihnen belästigen.“
Er überreichte Armage einen dicken Papierstapel, auf dem zuoberst der mit einem roten Aufkleber versehene Paß lag.
„Sie können mich John Smith nennen“, meinte er, „da das einmal der Name ist, unter dem Leute wie ich am besten bekannt sind. Tatsache ist, daß ich Planeten-Inspektor bin und hergesandt wurde, Ihnen einen kleinen Besuch zu machen. Anscheinend dachte man im Hauptquartier des Ökologischen Korps, es sei an der Zeit, daß einer von uns Smiths hier einmal nachsieht, ob alles in Ordnung ist. Ich hörte, wie Sie sagten, Sie hätten die Hypothek zurückgezahlt, aber es ist immer noch das supraplanetare Recht zu bedenken. Ich bin überzeugt, dagegen gibt es hier keine Verstöße und so weiter, aber Sie verstehen, daß ich mich auf jeden Fall ein wenig umsehen muß, nur um dem Befehl, der mich herführte, Genüge zu tun.“
Armage stand da und hielt die Papiere in der Hand, die Martin ihm gegeben hatte. Der Konnetabel hatte sich weder bewegt noch den Gesichtsausdruck verändert. Er sah Jef an wie ein dreidimensionales Bild in einem Transparentwürfel.
„Und was Herrn Robini betrifft“, fuhr Martin fort, „so ist seine Arbeit für mich ohne Belang. Mich interessiert einzig, wie sich Everon in die Weltenfamilie einfügt, in der wir alle Kinder sind, wie es so schön heißt. Aber als privaten Rat für Sie darf ich erwähnen, daß ich an Bord des Schiffes mit Herrn Robini eine eingehende Unterhaltung hatte und von seiner Forschungsarbeit in der Tat beeindruckt war. Es kann durchaus sein, daß nicht nur Everon, sondern bisher noch unbesiedelte Welten einmal Ursache haben werden, die Namen von Herrn Robini und seinem Tier wegen der Arbeit, die sie hier zum Nutzen der gesamten Menschheit tun wollen, zu segnen. Doch natürlich ist es, wie Sie so richtig betonten, verehrter Konnetabel, ganz Ihre Sache beziehungsweise die der hiesigen Gesetze, wie Sie mit ihm, dem Maolot und der ganzen Angelegenheit verfahren.“
Armage hatte die ganze Zeit unbeweglich in das lächelnde Gesicht Martins gestarrt, solange Martin sprach. Im Gesicht des großen Mannes hatte sich dagegen kein Muskel gerührt. Doch jetzt lächelte er, als sähe er nicht nur Martin, sondern auch Jef zum ersten Mal.
„Es ist uns ein großes Vergnügen, daß Sie beide uns einen Besuch abstatten, meine Herren“, erklärte er. Beinahe geistesabwesend, ohne Jef einen Blick zu schenken, gab er diesem die Papiere zurück. „Everon kann alles an wohlwollender Aufmerksamkeit brauchen, was es bekommen kann. Natürlich werden Sie, solange Sie sich hier in Everon-Stadt aufhalten, meine Gäste sein. Ich bestehe darauf.“
„Und ich nehme natürlich an“, antwortete Martin, „und ohne für Herrn Robini sprechen zu können, möchte ich doch dem Gedanken Ausdruck geben, daß auch ihm Ihre Gastfreundschaft angenehm sein wird. Nun, Konnetabel, es ist mir zuwider, Sie zur Eile anzutreiben, aber sowohl Herr Robini als auch ich haben Terminpläne, die uns wenig Zeit übriglassen. Vielleicht können wir ohne weitere Verzögerung nach Everon-Stadt abfliegen? Ist es möglich, daß Sie uns mit Ihrer Maschine hinfliegen lassen, die, nachdem sie uns vor Ihrer Behausung abgesetzt hat, zurückkehren und die anderen Herrschaften mit rotem Aufkleber abholen kann?“
Wie im Traum folgte Jef, Mikey führend, Martin an Bord des Flugzeugs. Er bemerkte – ohne im Augenblick die Muße zu haben, bei dem Gedanken zu verweilen –, daß Armage voraussetzte, er habe, wie Martin in seinem zungengewandten Redestrom angedeutet hatte, die Gastfreundschaft des Konnetabels angenommen. Jef überredete Mikey, auf dem Nebensitz Platz zu nehmen. Im Bug der Maschine gab Armage dem Piloten Befehle.
Es war keine Rede mehr davon, Mikey zu beschlagnahmen und zu töten. Irgendein zufälliger Beobachter hätte schließen müssen, der Konnetabel habe die Existenz des jungen Maolots vollständig vergessen.