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„Ich gehe nur nach unten“, sagte Jef ein wenig später zu Mikey. „Länger als höchstens drei Stunden werde ich nicht fort sein.“

Er ging hinaus, verschloß die Tür seines Zimmers hinter sich und nahm die Rampe, die zum Erdgeschoß des Hauses führte. Dort waren bereits die Stimmen der Gäste zu hören, die sich im großen Salon versammelten. Tibur hatte ihm einen Ausdruck der Liste mit den Namen und Bildern der Eingeladenen gebracht, und Jef hatte sich bemüht, sich diese einzuprägen. Aber er wußte nicht, ob sein Gedächtnis ihn nicht im Stich lassen würde, wenn er den Leuten persönlich begegnete. Er war nie sehr gesellig gewesen, und die Aussicht, mit dreißig oder vierzig Fremden, die keinen echten Grund hatten, sich für ihn zu interessieren, Konversation zu treiben, hatte nichts Erfreuliches für ihn. Schließlich wurde dieses Diner offensichtlich gegeben, um einen John Smith zu ehren und günstig zu stimmen. Wenn es nicht unhöflich gewirkt hätte, wäre Jef lieber mit Mikey in seinem Zimmer geblieben.

Am Fuß der Rampe steckte er die Liste in die Tasche seines Jacketts. Er schritt auf den Salon zu und blieb unter dem Türrahmen stehen. Niemand im Raum schien seinen Eintritt bemerkt zu haben. Die Gäste standen in Gruppen beisammen und unterhielten sich angeregt. Jefs besondere Empfänglichkeit, die sich durch sein Einzelgängertum und die im Laufe der Jahre entstandene empathische Verbindung mit Mikey verstärkt hatte, vermittelte ihm ein Gefühl von versteckten Dingen, von der Häßlichkeit einer drohenden Explosion, lauernd unter der Oberfläche des Geplauders im Saal. Tibur stand hinter einem Tisch, der in einer Ecke als Bar aufgestellt war. Mangels etwas Besserem, das er im Augenblick tun konnte, ging Jef hinüber.

„Und was möchten Sie gern trinken, Herr Robini?“ fragte Tibur.

„Irgend etwas. Was haben Sie in der Art von Bier da?“ erkundigte Jef sich.

„Sie könnten unser Everon-Stadt-Bier versuchen.“

„Gut“, antwortete Jef. „Danke.“

Er nahm ein hohes Glas mit einem bitteren Malzgetränk und einer dicken Schaumkrone in Empfang, trank einen Schluck, drehte sich wieder um und blickte über den Raum hin.

Das Bemerkenswerteste an den Leuten, die sich im Salon versammelt hatten, war, daß man sie kaum von einer ähnlichen Gruppe, die zu Hause auf der Erde ihre Cocktails trank, hätte unterscheiden können. Denn interessanterweise trugen die meisten dieser Kolonisten hier, Lichtjahre von der Erde entfernt, die neueste irdische Mode. Auf einer erst so kürzlich besiedelten Welt gab es dafür nur zwei Möglichkeiten. Die eine war, daß alle im Raum anwesenden Personen im letzten Jahr oder so auf der Erde gewesen und während ihres Aufenthalts die Chance gehabt hatten, ihre Garderobe auf den neuesten Stand zu bringen. Die zweite war das Vorhandensein eines schwarzen – oder zumindest grauen – Marktes für neumodische Kleidung, die anstelle der üblichen Ausrüstung und anderer Versorgungsgüter importiert wurde. Der Erde war es gleichgültig, was sie auf neue Welten wie diese sandte. Aber Jef hätte angenommen, daß es irgendwo außerhalb dieses Raums Kolonisten gab, deren Sorge mehr der Entwicklung ihres Planeten als der letzten Mode galt.

Abgesehen von der Tatsache, daß die hier Anwesenden als Gruppe schick – und nicht billig – gekleidet waren, schien ein weiterer gemeinsamer Nenner ein Alter zwischen Ende Zwanzig bis Ende Vierzig zu sein. Die Männer wie auch die Frauen – und ihre Anzahl entsprach sich in etwa – hatten ein gewisses tüchtiges, beinahe brutales Aussehen. Vielleicht, dachte Jef, der ihnen von dem Tisch mit den Getränken aus zusah, war das in Anbetracht der Positionen, die sie einnahmen, nur natürlich. Die Gästeliste, die er erhalten hatte, las sich wie ein Verzeichnis der Leute, die Everon kontrollierten. Es mochte wichtige Personen auf dieser Welt geben, die heute abend nicht anwesend waren. Bestimmt aber war niemand hier, der nicht wichtig war.

Doch ganz klar war auch, daß der eine, der sie alle an Status übertraf, Martin war. Anders als Jef, der es vorgezogen hätte, den ganzen Abend unbemerkt zu bleiben, schien Martin die ihm gezollte Aufmerksamkeit zu genießen. Einige Leute benahmen sich ihm gegenüber schon beinahe kriecherisch, aber Martin machte den Eindruck, als würde er es ernst nehmen. Sie halten ihn zum Narren, dachte Jef, und bei dieser Beobachtung stieg wieder die traurige Bitterkeit in seinem Inneren auf. Er bemerkte auch – und er nahm an, daß es Martin entging –, wie die ganze Versammlung unauffällig von dem Konnetabel dirigiert wurde. Dieser bewegte sich unaufhörlich auf leisen Sohlen zwischen den Gästen umher, warf hier eine Bemerkung, dort ein Lachen ein.

Martin war der Mittelpunkt einer kleinen Gruppe von sechs oder acht Leuten. Er teilte sich ein Sofa mit einer Frau, die Jefs Gästeliste als Yvis Suchi auswies, Chemikerin mit dem Fachgebiet organische Chemie und eines der Gründungsmitglieder der „Herren von Everon“. Sie war eine hochgewachsene, dünne Frau in den Dreißigern in einem fuchsienfarbenen Hosenanzug, mit schnellen Gesten, einem breiten Mund, schmalen Lippen und einer besonders tragenden Stimme, selbst dann, wenn sie zu versuchen schien, sie für eine vertrauliche Mitteilung zu dämpfen. In der einen Hand hielt sie ihr Glas, in der anderen eine Leine. Das andere Ende der Leine war an einem brillantenbesetzten Halsband befestigt, welches von einem lemurenartigen Geschöpf, nicht ganz einen Meter groß, der einheimischen Fauna Eversons angehörend, getragen wurde. Es war ein Allesfresser. Jef konnte sich an seinen wissenschaftlichen Namen nicht erinnern, obwohl die meisten größeren Spezies des Planeten bei der ersten Untersuchung katalogisiert worden waren.

Die Kolonisten nannten ein solches Geschöpf ein Jimi, wie Jef aus seinen Studien wußte. Es war leicht zu zähmen und ans Haus zu gewöhnen; seine kleinen Pfoten mit den gegenübergestellten Daumen konnten alles tun, was eine menschliche Hand der gleichen Größe fertigbrachte, und die Jimis lernten schnell recht komplizierte Arbeiten. Sie waren jedoch bis zum Stumpfsinn unterwürfig, und abgesehen von ihren manuellen Fähigkeiten schienen sie nicht mehr Intelligenz zu besitzen als auf der Erde ein Hund. Es war ein zweites Jimi anwesend. Auf der anderen Seite des Salons hielt noch eine Frau ihr Haustier dicht an ihrer Seite. Sie hieß Calabria deWinter und trug ein blaues Kostüm mit breitem Kragen. Auch sie war groß, aber sie hatte fünfzehn oder zwanzig Kilo Übergewicht, graues Haar und ein rundes, glattes Gesicht, das zu einem viel jüngeren Körper gepaßt hätte. Neben ihr sah ihr Jimi klein und zerbrechlich aus. Es unterschied sich von Suchis Jimi auf eine Weise, die Jef nicht näher bestimmen konnte, bis es ihm plötzlich aufging, daß deWinters Jimi weiblich war – Suchis war männlich. Die meisten warmblütigen Spezies auf Everon waren bisexuell und Säugetiere – eine ungewöhnliche und glückliche Parallele zum irdischen Leben.

Doch sobald ihm die Weiblichkeit von de Winters Haustier einmal bewußt geworden war, tat es Jef ein wenig leid, das Geschlecht des Geschöpfes bemerkt zu haben. Die kleinen Brüste unter dem weichen grauen Fell waren zuvor nicht auffällig gewesen. Jetzt, wo er sie einmal entdeckt hatte, gaben sie dem Jimi das Aussehen eines kleinen, gefangenen menschlichen Wesens, und es kam Jef irgendwie abstoßend vor, daß es an einer Leine gehalten wurde.

„Herr Robini! Herr Robini, kommen Sie zu uns!“ rief Martin fröhlich von der Couch herüber. Aus seiner Anonymität vertrieben, ging Jef hinüber, und jemand brachte einen Stuhl für ihn herbei.

„Sie alle kennen Herrn Robini … nein?“ Martin stellte ihn Yvis Suchi und den anderen vor, die rings um ihn standen oder saßen. „Wir sprechen gerade über Variformen der Fleischtiere unserer Erde, Herr Robini. Herr Cläre Starkke hier ist Wisentzüchter …“

Er nickte zu einem Mann in einer braunen Halbrobe hin, der in einem Armsessel saß. Auf den ersten Blick sah er aus, als sei er beinahe ebenso groß wie der Konnetabel. Sein Gesicht war tief sonnengebräunt, von schwerem Knochenbau und mit ersten Runzeln durchzogen, obwohl sein Haar noch voll und dunkelbraun war.

„Es ist mir eine Ehre, mein Herr“, sagte Jef zu Starkke.

„Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, mein Herr“, erwiderte Starkke mit einer etwas blechernen Stimme. „Wir sprechen über unsere zahllosen Schwierigkeiten, über die Kämpfe, die wir auf dieser Welt führen müssen, damit wir und unsere Rinder überleben können.“

„Oh“, machte Jef.

Er nahm an, daß das, was Starkke soeben geäußert hatte, die übliche Kolonisten-Klage war. Variformen von irdischen Tieren oder Pflanzen wurden niemals auf eine neubesiedelte Welt gebracht, wenn das ökologische Korps nicht zuvor eine erschöpfende Voruntersuchung aus Tests und Studien durchgeführt hatte. Die Variformen, die schließlich eingeführt wurden, waren dann immer genetisch maßgeschneidert für die biologischen Zustände auf der Welt, für die sie bestimmt waren. In den beinahe siebenundfünfzig Jahren, seit die Technik des Variformens perfektioniert worden war, hatte es nie einen Fall gegeben, in dem eine zugelassene Spezies die angestammte Ökologie eines Planeten, in die man sie einführte, bedroht hätte. Natürlich nahmen die Variformen trotzdem den Status von Eindringlingen in der einheimischen Ökologie ein, und es konnte einige Generationen dauern, bis sie vollständig integriert waren.

Starkkes Wisent mußte genetisch von dem europäischen Büffel abstammen, der unter diesem Namen bekannt war. Jef fand es interessant, daß man die Variformen für Everon durch Gen-Änderungen aus dem europäischen und nicht dem amerikanischen Büffel geschaffen hatte, denn der Wisent war, anders als der die Ebenen durchstreifende Büffel, ein Waldbewohner gewesen, und auf Everon waren die Wisentherden auf das hochgelegene Grasland unterhalb der Waldgebiete beschränkt worden. Die Waldgebiete, so hatte er gelesen, waren anderen Variform-Tieren vorbehalten, hauptsächlich einer Variform-Elenantilope.

Plötzlich wurde Jef sich bewußt, wie alle darauf warteten, daß er etwas sagte. Es war ihm peinlich, mit dem Glas in der Hand auf seinem Stuhl zu sitzen. Er sah sich nach einem Platz um, wo er es abstellen konnte, fand nichts und beugte sich vor, um das Glas auf den Fußboden neben seinen Stuhl zu setzen.

„Zweifellos …“ begann er.

Yvis Suchis Jimi nahm sein Glas auf und hielt es ihm schüchtern wieder hin.

„Laß ihn in Ruhe!“ befahl Suchi dem Everon-Tier scharf.

„Wir sind nicht zu Hause!“

Sie blickte Jef an.

„Ich mag es nicht, wenn Sachen auf meinem Fußboden gestellt werden“, erklärte sie.

„Verstehe“, sagte Jef.

„Sie sind der mit dem Maolot, nicht wahr?“

Ihr Ton war nicht freundlich, und die Atmosphäre innerhalb der Gruppe um ihn schien sich um zehn Grad abzukühlen.

„Ja, das ist er!“ fiel Martin energisch und fröhlich ein.

„Dieses bemerkenswerte Tier war Objekt einer äußerst wichtigen Forschungsarbeit, die zum Wohle von Ihnen, liebe Leute, auf der Erde unternommen wurde. Herr Robini ist hoch zu rühmen für die Jahre, die er bereits in diese Arbeit hineingesteckt, und die Mühe, die er auf sich genommen hat, als er eigens nach Everon kam, um sie fortzuführen.“

Die Temperatur stieg wahrnehmbar.

„Ihr auf der Erde wißt ja gar nicht, wie das ist“, wandte sich Starkke an Jef. „Hier gibt es große Rudel von Maolots. Sie töten nur des Tötens wegen. Ich habe die Sonne aufgehen und zweihundert Rinder tot daliegen sehen. Oder ein Rudel bringt eine ganze Herde zu einer Stampede und treibt sie vor sich her, bis sie schließlich umfallen und sterben!“

Die Stimme des großen Ranchers klang heiser vor Zorn, und dadurch verstärkte sich eine Eigenart, die Jef seit der Landung zwar gehört, aber nicht eigentlich bemerkt hatte – ein geringfügiges, rhythmisches Verzögern in der Sprache der Kolonisten. Jef hatte der bewiesenen Tatsache, daß sich Basic Eins, heutzutage auf der Erde und den neu besiedelten Planeten die allgemeine Sprache für Handel und Technik, auf vielen dieser neuen Welten sehr schnell änderte, nie viel Aufmerksamkeit gewidmet. Jetzt fiel ihm auf, daß alle Personen in seiner Nähe, ausgenommen Martin, beim Sprechen eine Variation dieses rhythmischen Verzögerns zeigten. Die Variationen gingen von kaum wahrnehmbar bei Armage bis zu sehr auffällig im Falle dieses Viehzüchters.

„Das liegt zweifellos in der Natur dieser Tiere“, warf Martin besänftigend ein.

„In der Natur dieser Tiere?“ fuhr Starkke auf ihn los. „In der Natur von allem, was auf diesem Planeten läuft, fliegt oder schwimmt! Das ist hier Tag für Tag ein Kampf ums Überleben.“

„Es ist doch aber ein schöner, gemütlich aussehender Planet“, fuhr Martin fort. „So schlimm kann er gar nicht sein.“

„Herr, er ist so schlimm!“ behauptete Starkke. „Noch schlimmer! Alles, was wir brauchen, müssen wir dieser Welt abringen. Man rodet Land, und bevor man sich umdreht, ist überall neues Gras gewachsen. Die Tiere fressen es und dann stellt sich heraus, daß es sie vergiftet. Man pflügt – und man hat noch kaum den Pflug zur Seite gestellt, schon ist ein Insektenschwarm zur Stelle, der niederstürzt und sich in den Boden gräbt. Ehe man noch säen kann, sprießen auf den Feldern alle Arten von zähen, nutzlosen Gewächsen, und dann stellt man fest, daß die Tracheen der Insekten in jenem Schwarm mit Samen von woanders gefüllt waren, und der Boden ist jetzt mit Wurzeln verfilzt, durch die die Pflugschar nicht schneiden kann. Man dämmt einen Fluß ein, und ehe der Damm fertig ist, gibt es einen Wolkenbruch, ein Hochwasser, und alles, was man gebaut hat, wird fortgeschwemmt. Haben Sie den Hagel gesehen, den wir heute nachmittag hatten?“

„Ja“, sagte Martin.

„Dieser Hagel, mein Herr, kam gerade rechtzeitig, um ein paar hundert Morgen Frühjahrskorn plattzuschlagen, das in einer Woche hätte geschnitten werden können. Wenn das mit Absicht geschehen wäre, hätte sich das Unwetter für die Zerstörung keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können. Niemand von euch Erdbewohnern hat eine Vorstellung davon, was es bedeutet, auf einer neuen Welt wie dieser Pflanzer zu sein!“

„Aber es lohnt sich, nicht wahr?“ fragte Martin. „Zum Beispiel, wenn Sie – wie in dieser Stadt – Land für Wohnsiedlungen gerodet haben, ist doch das Guthaben auf Ihrem Konto entsprechend gestiegen?“

„Einige von uns legen Geld auf die Seite, ja …“ begann Starkke.

„Jeder in diesem Raum – oder irre ich mich?“ wollte Martin wissen.

„Natürlich. Nein, Sie irren sich nicht“, räumte Starkke ein. „Der springende Punkt ist jedoch … trotz allem …“ „Sitz!“ befahl Yvis Suchi scharf und riß ihr Jimi zurück. Das Everon-Geschöpf hatte sich halb aufgerichtet, um einen Blick auf das weibliche Jimi am anderen Ende des Salons zu werfen. „Also gut, nimm mein Glas und gehe es wieder füllen!“

Sie löste die Leine. Das Jimi ergriff ihr Glas mit beiden Vorderpfoten, erhob sich auf die Hinterbeine und ging in gebückter Haltung durch den Raum zu dem Tisch, an dem Tibur Getränke ausschenkte. Dort lief es um den Tisch herum bis auf Tiburs Seite und schnüffelte an allen offenen Flaschen. Es wählte zwei von ihnen aus, mixte einen Drink und brachte ihn Suchi zurück. Die Gruppe um Martin hatte ihr Gespräch unterbrochen, um dem zuzusehen.

„Sehr gut!“ lobte Suchi, als das Jimi ihr das Glas reichte, und hakte die Leine wieder fest. Sie wandte sich an die anderen Menschen. „In Wirklichkeit ist der Drink gar nicht so gut. Aber man muß sie loben, nachdem sie etwas getan haben, oder sie werden beim nächsten Mal, wenn man ihnen einen Befehl gibt, einfach dasitzen und zittern.“

„Man hat daran gedacht, sie in Fabriken zur Montage von Kleinteilen einzusetzen“, sagte ein Mann aus der Gruppe zu Martin. „Aber es hat nicht geklappt.“

„Nein, nein, natürlich nicht“, fiel Suchi ein. „Sie begreifen das Konzept der Arbeit nicht. Für sie ist es alles Spiel …“

Sie fuhr fort mit einer Beschreibung, welchen Beschränkungen ein praktischer Einsatz der Jimis unterliege, aber Jefs Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. Durch den Eingang zum Salon hatte er soeben jemanden erspäht, den er bisher noch nicht gesehen hatte. Es war ein junger Mann, dessen schwarzes Haar von einer hohen Stirn zurückwich. Er trug etwas wie einen kleinen Aktenkoffer. Eine Sekunde stand er im Flur vor dem Salon und sprach mit Armage, dann wandte er sich ab und trat auf die Gleitrampe, die zum Obergeschoß von Armages Haus führte. Sobald sein Gewicht die Rampe berührte, begann sie sich zu bewegen und trug den Neuankömmling hinauf und außer Sicht. Armage drehte sich um und ging den Flur in Richtung des anderen Eingangs zum Speisesaal entlang.

Jef runzelte eine Sekunde lang die Stirn. Ihm war aus einem Grund, der ihm nicht ganz klar wurde, unbehaglich zumute. Dann brachte sein Gehirn plötzlich das Obergeschoß des Gebäudes und den Aktenkoffer miteinander in Verbindung. Schnell lief er zur Rampe. Aber der neue Mann hatte bereits deren oberes Ende erreicht und war verschwunden. Jef rannte die Rampe hinauf hinter ihm her und wartete nicht, bis die automatische Anlage ihn in gemächlichem Tempo nach oben beförderte. Der obere Flur war auch leer, aber Jef wandte sich direkt zur Tür des Raums, der ihm zugewiesen war, drückte den Verriegelungsknopf und trat sofort ein, als die Tür zur Seite rollte.

Drinnen war Mikey. Er lag auf der Stelle des Teppichs, auf die das Sonnenlicht fiel, und hob fragend den Kopf, und weniger als drei Meter von ihm entfernt öffnete der dünne Mann seinen Aktenkoffer.

„Was geht hier vor?“ fragte Jef.

Der Mann hielt inne. Der Aktenkoffer war halb offen.

„Wer … wer sind Sie?“ Bei ihm war der Everon-Akzent sehr deutlich. Schnell schloß er den Koffer und fuhr fort, bevor Jef antworten konnte: „Ich bin Dr. Chavel. Was tun sie hier?“

„Das ist mein Zimmer“, entgegnete Jef. „Was tun Sie hier?“

„Ich … Konnetabel Armage bat mich, mir Ihren Maolot anzusehen …“

„Sind Sie Tierarzt?“

„Ja. Avery – der Konnetabel – möchte sichergehen, daß das Tier keine Infektionskrankheit oder Seuche eingeschleppt hat, mit der sich unser hiesiger Bestand anstecken könnte. Sie haben noch Glück, daß der Konnetabel mich hergerufen hat. Andernfalls hätte Ihr Maolot in die städtische Menagerie gebracht werden und dort auf eine Untersuchung warten müssen, bis es nach dem Terminplan möglich war – eine Verzögerung von mindestens drei Wochen.“

„Mikey hat keine Krankheit“, betonte Jef. „Unter meinen Papieren habe ich ein tierärztliches Attest von der Erde. Der Konnetabel muß es gesehen haben.“

„Wenn ja, dann hat er es mir gegenüber nicht erwähnt. Nun …“ Chavel hatte, während er sprach, seinen Aktenkoffer geöffnet. Blitzschnell zog er eine kleine grüne Spritze hervor. „Nicht nötig, ein großes Theater darum zu machen. Ich gebe Ihrem Tier nur eine vorbeugende Injektion …“

„Sie werden Mikey gar nichts geben“, erklärte Jef. „Er braucht keine vorbeugende Injektion.“

„Ich rate Ihnen, mich nicht aufzuhalten.“ Chavel wandte sich Mikey zu.

„Ich rate Ihnen, es nicht zu versuchen!“ rief Jef. „Mikey!“

Der neue Klang in Jefs Stimme brachte den Maolot sofort auf die Füße. Sein blinder Kopf schwang herum. Die Schnauze richtete sich auf Chavel, und ein Knurren stieg in seiner Kehle auf.

Chavel wurde blaß.

„Wenn … wenn ich ein Betäubungsgewehr benutzen muß …“

„Nehmen Sie es nicht erst aus Ihrer Tasche“, riet Jef. „Ich habe Sie eher gepackt, als Sie es herausnehmen und zielen können. Und Mikey auch.“

„Das ist – unerhört.“ Chavel zog sich bis zu einem in der Nähe stehenden Tisch zurück, auf dem sich eine Gegensprechanlage befand. Immer Mikey im Auge behaltend, streckte er die Hand aus und stellte sie an. „Konnetabel Armage! Avery …“

Der Schirm blieb dunkel. Aber nach einer Sekunde ließ sich Armages Stimme hören.

„Was gibt es?“

„Ich – hier ist jemand, der mich an der Ausführung meiner Arbeit hindert. Der Besitzer des Tieres, glaube ich …“

„Ich komme sofort nach oben.“

Die Sprechanlage verstummte.

„Nun werden Sie sehen“, bemerkte Chavel mit dünner Stimme.

Jefs Gedanken rasten, aber ihm kam kein nützlicher Einfall. Er hatte geblufft damit, daß er Mikey den Tierarzt angreifen lassen wollte, denn dies wäre der sicherste Weg gewesen, daß der Maolot getötet wurde – wenn nicht gleich, dann später. Chavel schien ihn nicht durchschaut zu haben. Aber Jef wurde ganz kalt bei der Vorstellung, daß Armage ihn durchschauen würde.

Er versuchte immer noch, sich irgend etwas einfallen zu lassen, als die Tür des Zimmers zur Seite glitt und der große Konnetabel eintrat.

„Was ist los, Doktor?“ fragte er ruhig und ohne Jef zu beachten.

„Dieser Herr will nicht zulassen, daß ich seinem Maolot eine vorbeugende Spritze gebe.“

„So?“ Jetzt drehte Armage sich um und lächelte Jef zu.

„Das ist nur zum Besten Ihres Tieres, wissen Sie.“

„Das glaube ich nicht“, erklärte Jef.

„Und ich auch nicht“, erklang Martins Stimme.

Die Tür hatte sich von neuem geöffnet, und diesmal ließ sie Martin ein.

„Hier sind Sie also, Jef. Erst verschwinden Sie, und dann tut unser Gastgeber desgleichen. Ich kam mir allmählich ohne ein bekanntes Gesicht um mich herum ganz verloren vor. Und jetzt höre ich, daß unserem Mikey zu seinem eigenen Besten irgendein Medikament eingespritzt werden soll. Aber wissen Sie, ich frage mich, was ist uns eigentlich über den Metabolismus eines Maolots bekannt? Könnte dieses Medikament nicht irgendwelche unerwünschten, vielleicht sogar lebensgefährlichen Nebenwirkungen haben?“

„Mein Herr!“ erklärte Chavel steif. „Wir sind hier auf Everon – ihrer Heimatwelt – durchaus vertraut mit den Maolots.“

„Sicher, sicher. Aber sehen Sie, dies ist kein Everon-Maolot. Er ist auf der Erde aufgewachsen und vielleicht macht das einen Unterschied. Wer kann es mit Sicherheit sagen? Wie dem auch sei, mein lieber Doktor – Sie sind doch Doktor, nicht wahr? –, Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Ich fragte, ob es nicht möglich sei, daß ein solches Medikament unvorhergesehene, vielleicht lebensgefährliche Nebenwirkungen haben könnte.“

„Ah …“ begann Chavel – und hielt inne. Er warf Armage einen Blick zu, aber Armage hob nur interessiert die Augenbrauen und schwieg. „Ah, natürlich erwarten wir nicht, wenn wir zu einer bestimmten Droge greifen, daß …“

„Ja“, fragte Martin leise, „oder nein, Doktor?“

„Wer weiß?“ schrie Chavel wütend. „Wir verstehen nicht einmal all die Unterschiede bei menschlichen Wesen. Wie kann ich Ihnen eine Garantie geben, daß dieser Maolot keine individuelle, so gut wie nie auftretende ungünstige Reaktion …“

„Genau“, sagte Martin. „Und da dies so ist und dieser Maolot wichtig ist, wie ich gegenüber dem Konnetabel hier erwähnte, ist es vielleicht das beste, daß Mikey keine Spritze bekommt. Stimmen Sie mir nicht zu, Konnetabel?“

Er sah Armage an.

„Ich stimme Ihnen zu.“ Armage bedachte Chavel mit einem kleinen, kalten Lächeln. „Wir wollen kein Risiko eingehen, Doktor.“

„Nun – gut!“ Chavel machte sich daran, seinen Aktenkoffer wieder zu schließen, aber seine Hände waren unsicher, und er fummelte ungeschickt an den Verschlüssen herum. Als er es endlich geschafft hatte, nickte er allen ruckartig zu.

„Guten Abend …“

Er war gegangen, ehe der Widerhall seiner Stimme im Ohr verklungen war.

„Und jetzt gehen wir zurück zum Diner?“ erkundigte Martin sich bei Armage.

„Unbedingt“, antwortete der Konnetabel.

Armage verließ das Zimmer als erster. Hinter dem Rücken des großen Mannes verhielt Martin den Schritt, um Jef zuzuzwinkern, dann folgte er ihm.

Jef wollte auch gehen, aber Mikey erzeugte tief in seiner Kehle ein kurzes, fragendes Brummen. Als Jef sich zurückwandte, sah er den Maolot mitten im Raum stehen und den Kopf blindlings suchend von Seite zu Seite wenden. Ein Zittern durchlief die massigen Schultern.

„Ist ja gut.“ Jef kehrte zu Mikey zurück und legte ihm die Hand auf den Kopf. „Ich gehe nicht. Ich bleibe hier bei dir.“

Dankbar stupste Mikey Jef mit seiner stumpfen Schnauze an und warf ihn beinahe über den Haufen. Jef setzte sich auf einen Sessel, und der Maolot ließ seinen Kopf auf ein Knie sinken.

„Sie werden mir ein Sandwich heraufschicken – hoffe ich“, bemerkte Jef.

Wie sich herausstellte, wurde ihm ein wenig mehr als nur ein Sandwich gebracht. Tibur fuhr einen mit Rädern versehenen Tisch mit dem gleichen Diner herein, das die anderen, die unten im Speisesaal waren, in etwa einer halben Stunde serviert bekommen würden.

Jef aß und fütterte Mikey mit dem Wisentfleisch, das Tibur für den Maolot besorgt hatte. Danach jedoch, als er dasaß und auf die schwachen Stimmen lauschte, die vom Erdgeschoß heraufklangen, merkte er, daß er wieder über die alten Probleme nachgrübelte. Von neuem war Martin zu seiner Rettung gekommen, diesmal mit einer zungenfertigen Erklärung, warum Mikey keine Spritze erhalten sollte.

Es war nicht so, daß Jef Martins Bemühungen nicht zu schätzen wußte. Sie waren nur zu häufig geworden, als daß ihm dabei noch ganz wohl zumute hätte sein können, und die unbeantwortete Frage, warum Martin sich so anstrengte, ertönte in Jefs Kopf immer lauter. Wenn der Grund dafür gut und ehrenhaft war, warum hatte Martin sich dann gescheut, ihn zu nennen, als Jef ihn gefragt hatte? Der stark empfundene Argwohn, daß mit Martin etwas ganz und gar nicht stimmte, war bei Jef schon seit geraumer Zeit immer heftiger geworden.

Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, mehr über den Mann herauszufinden! Jef stand auf und ging im Zimmer hin und her. Mikey hob den Kopf und folgte mit ihm dem Geräusch von Jefs Bewegungen.

„Ich komme gleich zurück“, sagte Jef nach ein paar Minuten zu dem Maolot. „Ich sehe nur hinter der nächsten Tür einmal nach.“

Er trat aus der Tür seines eigenen Zimmers, schloß sie hinter sich und ging zu der Tür von Martins Suite. Aber auch sie war, wie er erwartet hatte, fest verschlossen. Als er die Hand auf die Türfüllung legte und schob, öffnete die Tür sich nicht – aber sie bewegte sich ein wenig und gab ein klapperndes Geräusch von sich.

Jef nahm seine Hand weg und schob dann noch einmal. Wieder hörte er das Geräusch. Er versuchte mehrere Male, die Tür auf diese Weise zur Seite zu schieben, und stellte fest, daß nicht nur die Tür, sondern der Rahmen und die Tür zusammen sich leicht bewegten, wenn er schob. Eine kurze zusätzliche Untersuchung lieferte ihm den Grund. Trotz seines eindrucksvollen Kolonialstils war Armages Haus entweder hastig oder achtlos montiert worden. Die Tür stammte aus einem Raumfrachter. Aber sie war offensichtlich in der Wand des Korridors in einen Rahmen gesetzt worden, der ein klein wenig zu weit ausgeschnitten worden war.

Jef prüfte, wie groß der Spielraum war. Die Tür konnte beinahe hoch genug gehoben werden, daß die Verriegelung im unteren Teil des Rahmens freilag. Aber nicht ganz. Sie hielt gerade noch genügend fest, daß er aus Martins Räumen ausgeschlossen war. Jef stand da und starrte auf die Tür, und eine Sekunde lang wurde er sich der Unsinnigkeit seines Zorns über ein lebloses Objekt bewußt, das seine Versuche zunichte machte, sich ungesetzlich Eintritt zu verschaffen. Dann wurde der gesunde Menschenverstand beiseite gefegt. Er mußte hineingelangen – irgendwie.

Einen Halt an der Tür fand er nur mit den äußersten Enden seiner Fingerspitzen in der ganz schwach erhabenen Zierleiste, die auf halber Höhe quer über die Tür lief. Daran konnte er die Tür hochheben. Aber in dem Augenblick, wo er sie mehr als einen Zentimeter in die Höhe gebracht hatte, gerieten seine Fingerspitzen in einen solchen Winkel, daß er loslassen mußte. Wenn er auf irgendeine Weise anheben, loslassen und nach der unteren Kante greifen könnte, die er gerade eben so weit vom Fußboden gelöst hatte, daß sie zu fassen war …

Er versuchte es. Es war unmöglich. Seine Verzweiflung wuchs. Es war nicht so, daß die Tür zum Heben zu schwer war. Es lag an der Tatsache, daß er sie nicht richtig in den Griff bekam.

Er wollte schon aufgeben, als ihm ein Einfall kam. Er ging zurück, öffnete die Tür seines eigenen Zimmers und rief Mikey heraus. Er hob die Tür an und gab Mikey die ganze Zeit Erklärungen.

„… siehst du, Mikey? Versuch, ob du deine Klauen unter die Kante der Tür bringen kannst, wenn ich sie hochhebe. Gib mir deine Pfote. So – nein, ich möchte nicht mit dir spielen …“

Mikey hatte sich auf die Seite gerollt, als Jef eine seiner Pfoten ergriff und behutsam versuchte, sie umzudrehen.

„Na gut, dann bleib dort liegen. Und wenn ich die Tür anhebe, steckst du deine Klauen und, wenn du kannst, die ganze Pfote unter die Kante und drückst nach oben. Versuch es, Mikey – jetzt.“

Jef hob die Tür mehrere Male an. Mikey lag da und schenkte ihm seine Aufmerksamkeit, offensichtlich verwirrt. Der Maolot hatte eine ausgezeichnete Auffassungsgabe und war sehr intelligent, aber er hatte noch nie die Fähigkeit gezeigt, direkt auf Worte zu reagieren, wie es ein Hund oder ein anderes ausgebildetes irdisches Tier zu tun pflegt. Für gewöhnlich erfaßte er schließlich bemerkenswert richtig, was Jef ihm mitzuteilen wünschte. Aber das gelang ihm durch eine Methode oder unter Bedingungen, über die Jef niemals letzte Gewißheit erlangt hatte. Offensichtlich hatten Gefühl und Empathie sehr viel damit zu tun, was Mikey bewerkstelligte. In diesem Fall schien der Maolot nach kurzer Zeit zu erfassen, daß Jef alles andere als ein Spiel im Sinn hatte, daß er sich mit etwas Wichtigem beschäftigte. Doch Mikey hatte Schwierigkeiten zu verstehen, was genau von ihm verlangt wurde.

Jef sprach weiter mit ihm und hob immer wieder die Tür an. Er war sich dessen bewußt, daß er studiert wurde – aber er hatte sich daran gewöhnt, daß Mikey dies tat. Der Prozeß des Studierens war etwas, das niemand sonst erkannt hätte. Jef jedoch hatte gelernt, die beinahe unsichtbaren Zeichen zu deuten, mit denen der Maolot sich verriet. Er machte deshalb weiter, und nach ein paar Minuten wurde seine Geduld belohnt.

Mikey streckte eine Pfote aus, als Jef die Tür zum fünften Mal anhob, und drückte die Ballen dieser Pfote nicht in die Ritze, die Jef geschaffen hatte, sondern flach gegen die Türfüllung. Seine Pfote und die Tür waren durch nichts verbunden als die Reibung, aber mit den mächtigen Muskeln des Vorderbeins, die dahintersteckten, gelang es ihm, die Tür zu halten.

„Gut!“ stellte Jef mit Nachdruck fest. Er faßte nach unten, hakte seine eigenen Finger in den freien Raum zwischen der unteren Kante der Tür und dem Fußboden, den Mikeys Druck offenhielt, und hob. Mit einem leisen Quietschen, gefolgt vom Klicken des Riegels, der sich aus der Verankerung löste, öffnete sich der Verschluß.

„In Ordnung, Mikey, laß sie hinunter.“

Mikey nahm seine Pfote weg, und Jef selbst ließ ebenfalls los. Die Tür senkte sich auf den Teppich, der vom Flur aus in Martins Suite führte. Jef öffnete die Tür, und eine Sekunde später war er drinnen. Mikey folgte ihm.

Martin reiste offensichtlich mit leichtem Gepäck. Im Wohnzimmer der Suite war nichts von persönlichen Dingen zu sehen. Im Schlafzimmer befand sich ein einziges Gepäckstück, ein Rahmenkoffer mit ein paar Stücken Allzweck-Kleidung und einem Toilettenbeutel. Jef wollte den Koffer schon wieder schließen und das Zimmer verlassen, als Mikey den Kopf an seinem Ellenbogen vorbeischob und mit der Nase über die Innenseite des Kofferdeckels fuhr.

„Was ist, Mikey?“ Jef betastete die Ecken, fühlte aber nichts als die harten Platten, die den Innenrahmen des Koffers zusammenhielten. Plötzlich setzte Mikey eine Pfote neben Jefs Hand und hakte die Klauen in den Bezug.

„Paß auf, Mikey. Du zerreißt…“ Aber der Bezug zerriß nicht, sondern rollte sich von einer unsichtbaren Linie zurück, die den Stoff an der Stelle teilte, wo die Rückseite des Deckels in einem Winkel von neunzig Grad auf der Kante stand. Enthüllt wurde das stumpfe Metall der Platte – und darunter etwas Dunkelrotes.

Jef faßte nach der Ecke des dunkelroten Dings und zog. Eine Ausweismappe glitt hervor.

„Das sind seine Papiere, Mikey“, erzählte Jef. „Aber ich dachte, der Konnetabel habe sie zusammen mit den Unterlagen aller Passagiere, die rote Aufkleber hatten, an sich genommen. Vielleicht hatte Armage sie ihm zurückgegeben?“

Jef nahm die Papiere aus der Mappe. Es waren nicht die Papiere eines John Smith vom ökologischen Korps. Sie zeigten ein Bild von Martin, identifizierten ihn jedoch als Martin Curragh, Bergbau-Ingenieur, der von einer auf der Erde ansässigen Gesellschaft nach Meeresgürtel entsandt wurde, einen kürzlich besiedelten Planeten in einem Sonnensystem, das sich Lichtjahre von der Sonne Comofors befand. Jef starrte auf die Blätter in seiner Hand. Wenn Martin tatsächlich ein John Smith war, mußte er natürlich eine Anzahl von Decknamen haben. Aber während die John-Smith-Papiere, die Jef gesehen hatte, als Martin sie Armage übergab, verdächtig neu und sauber gewirkt hatten, waren diese Identifikationspapiere offensichtlich viele Male auseinandergefaltet und wieder zusammengelegt und angefaßt worden.

Jef stand da mit der Martin-Curragh-Identifikation in der Hand. Alle Identifikationen konnten leicht innerhalb weniger Wochen nachgeprüft werden, einfach indem man eine Anfrage an jene Behörde auf der Erde schickte, die sie ausgestellt hatte, denn alle diese Papiere hatten ihren Ursprung auf der Erde. Tatsächlich war die Hin- und Rückreise per Raumschiff der kleinere Teil der Zeit, die die Beantwortung einer solchen Anfrage erforderte. Wenn es eine Verzögerung gab, dann entstand sie durch die Arbeit, die Angaben mit den Aufzeichnungen auf der Erde zu vergleichen.

Das Vortäuschen einer falschen Identität war deshalb nichts als Zeitverschwendung. Sie konnte zu leicht nachgeprüft werden, und jede Identität wurde häufig nachgeprüft. Im normalen Verlauf der Dinge wurden alle Ausweise, ausgenommen vielleicht die eines John Smith, kontrolliert. Aber wer stellte sich vor, daß einer so tollkühn sein würde, sich fälschlicherweise als ein John Smith auszugeben?

Möglich war das nur bei einem so merkwürdigen und zungenfertigen Typ wie Martin.

Das waren alles nur Mutmaßungen, sagte sich Jef, als er dastand und Martin Curraghs Ausweise in der Hand wog. Aber auch wenn er sich selbst zur Vorsicht mahnte, wurde das Gefühl in ihm doch übermächtig, Martin sei tatsächlich Martin Curragh und nichts weiter als Martin Curragh und beileibe kein John Smith.

Unglücklicherweise blieb seine merkwürdige Sympathie für den Mann erhalten. Er wünschte sich, er hätte alles andere, nur nicht gerade einen Beweis dafür gefunden, daß Martin zumindest ein Betrüger und beinahe sicher in eine noch schlimmere Ungesetzlichkeit verwickelt war. Mit einem Mal war ihm, als falle das letzte Teilchen eines Puzzles, das das ganze Bild sichtbar werden ließ, an seinen richtigen Platz, und Martins Motive dafür, daß er Mikey und ihm geholfen hatte, stimmten nur zu gut mit den übrigen Beobachtungen und Schlüssen überein.

Hier auf Everon ging insgeheim ganz bestimmt etwas vor, das faul war. Das ging hervor aus dem ungewöhnlichen Verhalten des Konnetabels, aus der Tatsache, daß die Gäste dort unten alle in der neuesten Mode der Erde umherstolzierten, und aus der Konstruktion und dem Aussehen dieses Hauses. Die ganze Situation roch nach persönlichen Interessen und nach möglicher Korruption in den Regierungskreisen dieser neubesiedelten Welt. Wenn Martin selbst auf der falschen Seite des Gesetzes stand, konnte man sich leicht vorstellen, daß er hier war, um sich eine Scheibe des Profits – worin er auch bestehen mochte – abzuschneiden.

Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, bekam die Jef und Mikey geleistete Hilfe einen ganz anderen Sinn. Martin es hatte dann nicht gesehen, daß sie ihn brauchten, sondern hatte erkannt, daß er sie brauchte, um seine Position zu festigen. Jefs Papiere waren über jeden Zweifel erhaben. Wenn Martin als Verteidiger desjenigen auftrat, der diese Papiere besaß, stützte das die Glaubwürdigkeit des John-Smith-Bildes auf nicht geringe Weise. Welche bessere Methode konnte es für Martin geben, seine Autorität zu beweisen, als aufzutreten wie ein Mann, der die Macht besaß, außer sich auch noch andere zu schützen?

Und was hatte Martin denn tatsächlich für Mikey und ihn, Jef, getan? Nichts, außer daß er mit seiner flinken Zunge den Leuten, die Jef und den Maolot zu bedrohen schienen, Vorsicht und Mäßigung geraten hatte. Nie und nirgends hatte er wirklich die Macht, über die er als ein John Smith verfügen mußte, eingesetzt, um ihnen direkt zu helfen.

Wenn man zu all diesen Dingen seine schlüpfrige Art rechnete, mit der er jeder ihm von Jef gestellten Frage auswich, und dazu noch seine einem John Smith ganz und gar nicht entsprechende Erscheinung – dann mußte ein Mensch schon sehr dumm oder sehr vertrauensselig sein, wenn er ihm weiterhin glaubte. Jef hielt sich weder für dumm noch für besonders vertrauensselig.

Sorgfältig steckte er die Ausweismappe dahin zurück, wo er sie gefunden hatte, und drückte den Bezug des Kofferdeckels an. Das Loch, das Mickeys Klaue gerissen hatte, war klein und kaum zu sehen. Wenn Jef ein bißchen Glück hatte, würde Martin es nicht bemerken, zumindest nicht sofort. Andererseits, wenn er es entdeckte, war Jef bereit, dem anderen geradeheraus zu sagen, warum er nachgeforscht, was er gefunden und welcher Verdacht sich bei ihm dadurch zur Gewißheit verstärkt hatte.

Nun schloß er den Koffer und führte Mikey aus dem Schlafzimmer. Aber an der Tür der Suite wurde ihm bewußt, daß sein Gewissen ihm zu schaffen machte. Er zögerte. Nach einer Sekunde ging er jedoch hinaus, stellte den Riegel so, daß er hinter ihm einrasten würde, brachte Mikey auf den Flur und schloß die Tür leise, aber energisch hinter sich. Der Riegel klickte und saß fest.

Immer noch zögerte Jef. Ganz gleich, was Martin sonst noch sein mochte, ob er aus Gewinnsucht oder Selbstschutz zu seinen Gunsten gesprochen hatte, Tatsache blieb, daß er sowohl dem Maolot als auch Jef damit einen großen Gefallen getan hatte. Und, verdammt, in keinem Fall brachte Jef es über sich, ihn zu verabscheuen. Es nagte an ihm, daß seine Schlußfolgerungen zwar brillant sein mochten, es aber an Nächstenliebe gegenüber einem, der sich zumindest durch seine Handlungen als Freund erwiesen hatte, fehlen ließen.

Nach einem Augenblick kehrte Jef in sein eigenes Zimmer zurück, griff nach einem Schreibblock und warf impulsiv eine kurze Nachricht für Martin auf das Papier.

 

Lieber Martin,

Mikey und ich stehen in Ihrer Schuld für das, was Sie für uns getan haben. Wir brechen morgen früh in das Oberland und die Berge auf. Aber ich wollte Sie noch darum bitten, daß Sie es mich wissen lassen sollen, wenn wir auch Ihnen einmal helfen oder uns revanchieren können, soweit es in unserer Macht steht.

Mit besten Grüßen

Jef Aram Robini

 

Er riß das Blatt ab und schob es unter der Tür der Suite hindurch. In sein Zimmer zurückgekehrt, empfand er den Frieden eines beruhigten Gewissens. Wenn Martin wirklich in eine entweder illegale oder anrüchige, anfechtbare Sache – oder beides – verwickelt war, hatte er ihm alle Hilfe angeboten, die er geben konnte, um ihm herauszuhelfen. Die Nachricht sagte nicht ausdrücklich, welche Art von Hilfe es sein sollte. Aber Jef konnte Martin genau sagen, was er tun oder nicht tun würde, sobald Martin zu ihm kam und um diese Hilfe bat. Und wenn Martin sich niemals meldete – nun, das Angebot war gemacht worden.

Jef setzte sich auf das Bett. Was er jetzt auf der Stelle tun sollte, war, die Dinge auszusortieren, die er morgen, wenn er ins Oberland aufbrach, in seinem Rucksack mitnehmen wollte. Die schwereren Vorräte und Ausrüstungsgegenstände sowie das meiste Gepäck, das vom Schiff gebracht worden war, würde ihm mit einem der Lastwagen nachgeschickt werden müssen, die einmal im Monat die Versorgungslager in den Bergen anfuhren. Jef selbst hatte keine Lust, mehrere Wochen zu warten, nur damit er einen Teil seines Weges bis zu seinem Zielort fahren konnte. Lieber wollte er laufen. Und noch wichtiger war, daß er darauf brannte, Mikey wieder in seine angestammte Umgebung zu bringen und mit den Beobachtungen zu beginnen, derentwegen er hergekommen war.

Im Augenblick fühlte er sich jedoch von den Ereignissen eines Tages voller Unruhe, Spannungen und unwahrscheinlicher Abenteuer überwältigt. Er merkte plötzlich, daß er wie betäubt vor Müdigkeit war. Er schleuderte die Schuhe von den Füßen, streckte sich auf dem Bett aus, faßte nach der Kontrolltafel und schaltete das Licht im Zimmer ab.

Nur eine halbe Stunde, dann wollte er aufstehen und packen … Er erwachte schlagartig im Dunkeln. Er lag still, sich vage der Empfindung bewußt, daß irgend etwas, irgendein Geräusch, ihn geweckt hatte. Aber als er dalag und lauschte, hörte er nichts. Die Tür war verschlossen, und Mikey würde gewiß nicht still liegenbleiben, wenn jemand versucht hatte, ins Zimmer zu gelangen.

Jef, halb wach, rührte sich nicht. Er versuchte sich zu erinnern, welche Zeit des Tages oder der Nacht es war und was er getan hatte, als er eingeschlafen war. Offenbar war er sofort weggewesen, als er sich hingelegt hatte, und sein benebeltes Gehirn arbeitete nun sehr langsam.

Nach und nach fielen ihm die Ereignisse wieder ein, auch der Brief, den er Martin unter der Tür hindurchgeschoben hatte. Jetzt, als sich sein langsam arbeitendes Gehirn in einem schlafbefangenen Körper daran erinnerte, kam ihm das Hinterlassen der Nachricht nicht mehr so vernünftig vor wie zu der Zeit, als er es getan hatte. Es stimmte, daß das, was er geschrieben hatte, Mikey und ihn zu gar nichts verpflichtete. Aber er war damit gegenüber jemandem, der bis über die Ohren in verbrecherischen Unternehmungen steckte, eine moralische Verpflichtung eingegangen. Im allerbesten Fall hatte er damit Martin eine Tür weit geöffnet, ihm ermöglicht, daß er zu irgendeiner Zeit in der Zukunft an ihn Forderungen stellen konnte, und das in einem Augenblick, wenn diese Forderungen von unbequem bis zu regelrecht gefährlich alles umfassen konnten. Kurz, Jef bereute, den Brief geschrieben zu haben.

Er versuchte, sich selbst vom Gegenteil zu überzeugen, aber es gelang ihm nicht. Sein Verstand produzierte ohne seinen Willen fortlaufend Bilder von Martin, der auf der Flucht vor den Behörden war, der versteckt werden wollte, der in einen Kampf mit anderen verbrecherischen Elementen verwickelt war und Jefs – und Mikeys – Hilfe in diesem Kampf verlangte. Das ging einige Minuten lang im Dunkeln so weiter. Jefs Phantasie-Bilder von dem, was geschehen mochte, wurden immer wilder – bis er schließlich mit einem angewiderten Grunzen die Decke zurückschlug und sich aufsetzte.

Wenn du einen Fehler gemacht hast, sagte er zu sich selbst, dann gib es zu.

Er zog seine Schuhe wieder an, stand auf und öffnete die Zimmertür. Er trat auf den Flur, gefolgt von einem neugierigen Mikey, um die Lage zu prüfen. Vielleicht konnte er das Blatt wieder unter der Tür herausangeln …

Aber als er die Tür zu Martins Suite erreicht hatte, blieb er stehen. Stimmengemurmel drang aus dem Zimmer.

Zu spät.

Ein paar Sekunden lang war das alles, was er denken konnte. Dann erkannten seine Ohren die Stimmen. Es waren zwei. Die eine gehörte Martin, und die andere, die tiefere und weichere Stimme, war die von Armage.

Unwillkürlich trat Jef näher an die Tür heran. Selbst als er mit dem Ohr jetzt dicht an der Tür war und sich anstrengte, etwas zu verstehen, bekam er nicht mit, was der Konnetabel sagte, und von der schärferen Stimme Martins wurde nur ab und zu etwas verständlich.

„… überhaupt nicht, mein lieber Avery. Überhaupt nicht …“

„… andernfalls würde ich nicht viel auf die Möglichkeit setzen, daß …“

„… im Oberland natürlich …“

„… weil ich nicht den Wunsch habe, das ist der Grund …“

Die Stimmen brachen plötzlich ab. Den Bruchteil einer Sekunde lang lauschte Jef noch angestrengt. Dann fiel ihm ein, daß vielleicht irgend etwas den Argwohn der beiden Männer im Zimmer erregt hatte und einer oder beide gerade auf die Tür zugingen, um sie zu öffnen und hinauszusehen.

Schnell trat er zurück, zog Mikey mit sich in sein eigenes Zimmer und schloß seine Tür so leise wie möglich. Hinter der geschlossenen Tür horchte er angestrengt noch mehrere Minuten lang. Aber wenn die Tür der Suite geöffnet wurde, geschah dies so geräuschlos, daß er es nicht hören konnte.

Auf jeden Fall, so sagte er zu sich selbst, war nichts weiter dabei zu gewinnen, wenn er sein Lauschen fortsetzte. Was auch zwischen Martin und Armage vor sich gehen mochte – und es war verdächtig, daß Martin den anderen beim Vornamen genannt hatte, wo er doch immer so sorgsam darauf achtete, Jef in aller Form anzureden –, er mußte abwarten, bis die Ereignisse Licht auf die Angelegenheit warfen, wenn sie überhaupt jemals erhellt wurde. Auf jeden Fall waren Jef die Dinge nun aus der Hand genommen worden. Es gab nichts mehr zu sagen oder zu tun, bis Martin zu ihm kam. Dann konnte er ihm ein paar klare Fragen stellen und ebensolche Antworten darauf verlangen.

Sprich die Wahrheit und beschäme den Teufel.

Beinahe wütend machte Jef sich ans Packen für die Wanderung über Land, die er morgen beginnen wollte.