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„Bringen Sie ihn hinein! So ist’s richtig … ‘rein mit dir“, sagte der Konnetabel. Er lehnte sich mit der Schulter gegen die offene Tür des Hubschraubers und bildete so mit seinem schweren Körper eine Wand des Korridors, durch den Mikey in das Innere des Luftfahrzeugs befördert wurde.

Es war am nächsten Morgen. Jef, der mit einem Marschcomputer und guten Ratschlägen versehen worden war, sollte mit Mikey und der Ausrüstung, die er für diesen Zweck mitgebracht hatte, ins Oberland geflogen werden. Dort wollte er sich auf die Suche nach Beau leCourboisier machen. Es war ein heller, warmer Tag und alles war bestens, nur daß Mikey nicht an Bord gehen wollte. Er gab Jef mit allen ihm möglichen Mitteln zu verstehen, sie sollten den Hubschrauber nicht besteigen, sondern sich zu Fuß nach Norden aufmachen. Eigentlich hatte er sich seit dem Zusammenstoß mit Chavel nicht mehr richtig beruhigt. Er zeigte jetzt die gleiche Aufregung wie auf dem Flug vom Raumhafen zum Haus des Konnetabels.

Hinein, Mikey!“ Endlich gelang es Jef, den Maolot durch den Einstieg zu schieben, und schnell quetschte er sich hinter ihm hinein. Als er saß und Mikey mit den Knien gegen die andere Seite der Kabine drückte, wandte Jef sich zurück, um Armage und Martin ein letztes Wort zu gönnen.

„Ich weiß dies alles zu schätzen“, versicherte er dem Konnetabel. „Sie werden hier ein Auge auf jeden haben, der Informationen über den Ort haben könnte, an dem sich das Grab meines Bruders befindet …?“

„Selbstverständlich“, antwortete der Konnetabel. „Und jetzt viel Glück! Sie haben verstanden, daß der Pilot keine Erlaubnis hat, Sie über die Grenze des Weidelandes hinauszubringen? Es gehört zu unseren Prinzipien, Treibstoff zu sparen und die Maschinen möglichst wenig abzunützen. Wer über das ebene Land hinaus will, muß dies zu Fuß oder mit einem Reittier tun, ausgenommen es handelt sich um eine amtliche Sache oder einen Notfall.“

„Das geht in Ordnung“, sagte Jef. „Ich weiß darüber Bescheid. Deshalb habe ich ja den Rucksack für meine Ausrüstung mitgebracht. Es wird schon nichts schiefgehen. Dann auf Wiedersehen. Martin …“

Martin, der ein halbes Dutzend Schritte entfernt stand, tat einen kleinen Schritt näher zum Hubschrauber hin.

„Ja?“

„Ich wollte Ihnen noch dafür danken, daß …“

„Schon gut. Machen Sie sich keine Gedanken darüber – gar keine Gedanken.“ Martin sprach schnell, als sei er im Geist anderswo und als tue ihm die Zeit leid, die er mit Höflichkeitsfloskeln verschwendete. So war er schon den ganzen Morgen gewesen, was einen völligen Umschwung seiner Stimmung von gestern abend darstellte, als Jef ihn zuletzt gesehen hatte. Jetzt schien Martin an Jef und Mikey das Interesse verloren zu haben – beinahe bis zu dem Punkt, daß er bedauerte, jemals etwas mit ihnen zu tun gehabt zu haben. Er hatte Jefs Brief nicht erwähnt.

Jef nahm sein Herz in beide Hände.

„Ich habe gestern eine Botschaft unter Ihrer Tür durchgeschoben …“ begann er leise, sobald Armage außer Hörweite war.

„O ja. Danke. Sehr nett von Ihnen“, meinte Martin. „Es ist jedoch kaum anzunehmen, daß ich Ihre Hilfe einmal brauchen werde, weil uns unsere Wege doch in verschiedene Richtungen führen. Aber auf jeden Fall danke ich Ihnen – und ich glaube, für Sie ist es jetzt Zeit.“

„Aber Sie haben gesagt, es sei möglich, daß Mikey und ich Ihnen einmal von Nutzen sein könnten, und aus diesem Grund wollten Sie immer Bescheid wissen, wo wir stecken“, erklärte Jef steif. „Wenn Sie immer noch glauben, das sei gut …“

„Gar nicht, ganz und gar nicht – jetzt, wo ich hier bin, kann ich die Situation besser überblicken. Vergessen Sie einfach, was ich gesagt habe, Herr Robini. Und nun …“

„Leben Sie wohl“, sagte Jef laut und deutlich. Er wollte sich nicht auf diese Art wegscheuchen lassen.

„Leben Sie wohl“, antwortete Martin.

Der Konnetabel knallte die Tür des Hubschraubers zu.

„Schnallen Sie sich an“, befahl der Pilot über die Schulter weg. „Fertig zum Start.“

Jef schnallte sich und auch Mikey an. Der Hubschrauber hob mit einem plötzlichen Satz ab, und der Boden fiel unter ihnen weg. Sie flogen in nördlicher Richtung, weg vom dem künstlich gestalteten Rasen und den sauberen Baumreihen vor dem Haus des Konnetabels.

Aber so, wie der Hubschrauber in die Luft stieg, hob sich merkwürdigerweise auch Jefs Stimmung. Mit einem Mal fühlte ersieh sehr erleichtert. Es fiel ihm ein, daß er jetzt von allen Verpflichtungen befreit war – sei es Martin oder sonst irgendwem gegenüber.

Auf unerwartete Weise hatte Martin ihm soeben die Freiheit gegeben. Wenn der Mann den Gedanken, Jef sei ihm etwas schuldig, akzeptiert hätte – und wenn es nur der Form halber geschehen wäre –, dann wäre Jef immer noch an ihn gebunden gewesen und durch ihn an seine dubiosen Geschäfte mit der Regierung von Everon in der Person von Armage und anderen wie ihm. Nun sah es aber so aus, als seien sowohl Martin als auch der Konnetabel froh, ihn los zu sein, und Jef wunderte sich, wie ungeheuer glücklich es ihn machte, daß er sie los war.

Zum ersten Mal wurde er sich klar über die verborgenen Tiefen der Gefühle, mit denen er nach Everon gekommen war. Ja, er hatte sich darauf vorbereitet, einer fremden Welt mit all ihren Unterschieden und Gefahren zu begegnen – aber er hatte auch mit der Hilfe und Unterstützung der Leute gerechnet, die vor ihm hierhergekommen waren.

Er hatte, ohne nachzudenken, vorausgesetzt, daß jeder, der auf eine neue Welt wie diese auswanderte, wie William sei. Niemals hätte er Freundschaft oder Hilfe unter den sich ständig vermehrenden Milliarden Menschen auf der Erde erwartet, aber hier draußen hatte er sie als selbstverständlich angenommen. Aus diesem Grund, so erkannte er jetzt, hatte ihn die Feindseligkeit der anderen Passagiere im Raumschiff und die des Konnetabels bei der Landung so schwer getroffen.

Alles war anders gekommen, als er gedacht hatte. Die Menschen von Everon hatten ihn kalt und argwöhnisch behandelt. Aber der fremde und gefährliche Planet, auf den er sich gefaßt gemacht hatte, streckte goldgrüne, warme und seltsam freundliche Arme aus, um ihn willkommen zu heißen und an sich zu ziehen.

Er lachte leise vor sich hin. Seine Phantasie ging mit ihm durch.

Tatsache war jedoch, daß er sich selten so frei gefühlt hatte wie in diesem Augenblick, und er konnte sich nicht erinnern, jemals glücklicher gewesen zu sein. Endlich war er unterwegs, um die Arbeit zu tun, die er sich immer zu tun gewünscht hatte, und bei ihm war Mikey, der ihm von jeher nähergestanden hatte als jeder außerhalb seiner engsten Familie. Und zudem standen, soweit er jetzt, wo er Everon-Stadt verlassen hatte, sehen konnte, keine Wolken am Horizont seiner unmittelbaren Zukunft, die diese Aussichten hätten trüben können.

Es war ein seltsames Gefühl, aber ein gutes. Er richtete den Blick auf die Landschaft unter sich. Zehn Minuten später gab es nicht das geringste Zeichen einer Stadt oder bebauter Felder mehr. Sie flogen nach Westen und Norden über eine See gelbgrünen Grases, die sich ohne Unterbrechung oder Makel bis zum Oberland und zu den dunstverhangenen Bergen erstreckte.

Sie flogen beinahe eine Stunde lang über das scheinbar endlose Gras und gelegentliche Wisentherden, die schultertief darin versteckt waren. Es überraschte Jef, wie klein die Variform des europäischen Büffels sein mußte. Soweit er es aus der Luft beurteilen konnte, waren die Tiere nicht viel größer als Schafe. Dann erschien eine dunkle Linie am Horizont und bildete sich zu einem Band grünen Waldes heraus, das sich in weite Fernen verlor. Der Hubschrauber näherte sich dem Waldrand bis auf hundert Meter, wurde langsamer und schwebte. Statt zu landen, behielt die Maschine ihre Position zehn Meter über dem Boden bei, und die Eingangstür öffnete sich in die Luft. Ein Stück Fußboden schob sich nach außen durch die Öffnung und wurde zu einer Plattform, die an beiden Seiten des Eingangs mit Kabeln aufgehängt war.

„Fertig zum Aussteigen“, sagte der Pilot. „Keine Bange, die Plattform hat schon viele Male eine Fracht getragen, die zehnmal soviel wog wie Sie und der Maolot zusammen.“

„Ich war eigentlich nicht besorgt“, gab Jef zurück, „nur überrascht. Warum landen Sie nicht?“

„Vorschrift“, erklärte der Pilot. „Fragen Sie mich nicht warum.“

Jef erhob sich von seinem Sitz und führte Mikey hinaus auf die Plattform. Er hatte befürchtet, Mikey werde sich diesen Augenblick wählen, um sich aufzuregen, wie er es beim Besteigen des Hubschraubers getan hatte. Aber der Maolot war jetzt ganz ruhig und gehorsam. Jef sah zum Horizont hin statt gerade nach unten. Zehn Meter stellten keine große Höhe dar, aber die Plattform maß nur eineinhalb mal drei Meter und hatte kein Geländer. Er fühlte die metallene Oberfläche unter seinen Füßen erzittern, als die Kabel sich dehnten. Langsam stieg der Boden zu ihnen hinauf, bis sie ihn berührten und das Gras flachdrückten.

Sobald sie unten waren, trat Jef von der Plattform und sah sich um. Das Gras reichte ihm bis an den Scheitel. Offensichtlich hatte er sich in der Größe der Variform-Wisente gründlich geirrt. Sie mußten beinahe so groß sein wie die Büffel auf der Erde. Doch es hatte keinen Sinn, sich darüber jetzt Gedanken zu machen. Glücklicherweise konnte er durch die Spitzen der Grashalme den Rand des Waldes sehen.

„Alles in Ordnung?“ rief der Pilot hinunter. Jef blickte hoch.

„In Ordnung“, winkte Jef. „Ziehen Sie die Plattform hoch. Danke.“

„Viel Glück!“ Die Plattform begann, wieder zum Hubschrauber emporzusteigen. Sie kam oben an, wurde eingezogen, und die Tür schloß sich. Der Pilot winkte hinter dem Glas der Windschutzscheibe. Die Maschine gewann an Höhe, wendete und entfernte sich in Richtung Süden.

„Jetzt geht’s los, Mikey!“ Jef wandte sich dem Maolot zu. Mikey stieß ihn fröhlich mit dem Kopf an. Jef betrachtete das Tier eine Sekunde lang schweigend.

„Ich begreife es nicht“, meinte er dann. „Du warst bei dem Konnetabel ganz aus dem Häuschen, und nun bist du friedlich wie ein Lamm. Was ist in dich gefahren – oder sollte ich sagen, was ist aus dir herausgefahren?“

Mikey schubste ihn nur von neuem. Jef gab es auf und schlug die Richtung zum Waldrand ein.

Sie erreichten den Schatten der nächsten Bäume. Darunter waren einige Variform-Koniferen, aber die meisten waren Willybäume, Exemplare einer dem Cottonwood ähnlichen Pflanze, die in diesen Regionen von Everon beheimatet war. Jetzt schrumpften die hohen Grashalme, bis sie kaum noch Zentimeter groß waren, und enthüllten das leuchtende Grün des sich verfilzenden, den Boden bedeckenden Teils der Pflanze, der ihr den Namen Moosgras gegeben hatte. Weiter hinten in den fernen Teilen des Waldes schien sich dieses Grün in alle Ewigkeit wie ein endloser Teppich zu erstrecken. Es war ein grelleres Grün als das der meist eher gedeckten Farben des Waldes, aber auf Everon war fast alles, was wuchs, grün, auch die Stämme und Äste der einheimischen Pflanzen wie des Willybaums. Die einzigen nichtgrünen Flecken waren hier und da pastellfarbene Stellen einer blumenartigen Vegetation und der braune Staub der getrockneten und zerfallenen fleischigen Auswüchse der Everon-Bäume, die hier die Stelle der Blätter einnahmen.

Jef blieb stehen, um sich den Marschcomputer anzusehen, den der Konnetabel ihm gegeben hatte. Es war ein Gerät, das etwa die Größe und das Aussehen eines Taschenbuchs hatte. Jedoch zeigte eine computergesteuerte Kompaßnadel im oberen Teil des Deckels ständig in die Zielrichtung, auf die sie eingestellt war. Unterhalb des Kompasses erschien unter einem Fenster ein Ausschnitt der Landkarte mit einer roten Linie. Sie gab die Richtung und die Entfernung an, die Jef seit Verlassen des Luftfahrzeugs zurückgelegt hatte.

Die Kompaßnadel zeigte jetzt geradeaus, und die rote Linie lief hübsch parallel zu der schwarzen Linie, die die geplante Route darstellte. Jef steckte das Kästchen voller Zufriedenheit wieder in eine der Taschen seiner Waldjacke. Nach der Karte und dem, was der Konnetabel gesagt hatte, lag bis zum Handelsposten Fünfzig am Voral-Fluß eine kurze Wanderung von zwei Tagen vor ihm. Er konnte sich darauf verlassen, für die Nacht einen guten Lagerplatz am Ufer des einzigen anderen, richtigen Flusses zwischen ihm und Posten Fünfzig zu finden. Dann, im Posten Fünfzig, würde er entweder diesen Beau leCourboisier antreffen oder jemanden, der ihm sagen konnte, wo sich der Mann aufhielt.

Seine Suche schien sich einfacher zu gestalten, als er gedacht hatte – dank dem Konnetabel oder vielmehr dank Martin Curragh, der den Konnetabel zur Mithilfe bewogen hatte. Zum ersten Mal seit Monaten fühlte sich Jef, wie er so dahinwanderte, voller Optimismus.

Die einfache Tatsache, daß die körperliche Übung ihn erwärmte und ihn munterer und optimistischer werden ließ, konnte Grund genug für seine wachsende Fröhlichkeit sein. Aber ebenso war es eine Tatsache, daß das Land, durch das er reiste, merkwürdig erfreulich und aufregend war. Jef hielt beim Gehen Ausschau und versuchte festzumachen, was es war, das seine Empfindungen in so besonderem Maße stimulierte.

Es ließ sich kein einziger bestimmter Grund finden. Irgend etwas Märchenhaftes lag über dem ganzen Land ausgebreitet. Alles war so grün wie im Lande Oz, was dem Wald ein unwirkliches, magisches Aussehen gab. Aber es war nicht die grüne Farbe allein, dachte Jef, die diese magische Wirkung hervorrief. Es war die Art, wie die übergroße gelbe Sonne ihr Licht über diese grüne Welt ausgoß, so daß alles Grün mit einem Hauch von Blattgold überzogen schien und sogar die Luft golden-grün und eigentümlich lebendig war. Zu alldem kam der gelegentliche musikalische Ruf eines Glockenvogels. Das war ein kleines einheimisches Geschöpf, ähnlich einer fliegenden Eidechse, mit einem Ruf wie ein helles Silberglöckchen, der mit genau eingehaltenen Pausen vier bis sieben Mal hintereinander wiederholt wurde. Der Ruf war, wie Jef wußte, in Wirklichkeit eine Herausforderung an jeden, der das Territorium des Glockenvogels durchquerte. Aber der süße, klare Ton in der stillen Luft trug trotzdem zu dem Eindruck eines Zauberlandes bei.

Doch auch wenn man dies alles in Betracht zog, war es seltsam, ja schon beinahe lächerlich, daß er vor Glück und Vorfreude beinahe platzte. Es konnte nur so sein, daß seine Liebe zu dieser Welt wieder mit ihm durchging.

Ein Ruck an seiner rechten Hand, in der er Mikeys Leine hielt, brachte seine Aufmerksamkeit zurück zu dem Maolot. Mikey lief ihm auf ihrem Weg nicht nur voraus. Schon seit einiger Zeit versuchte er, sich von Jef loszureißen, und das war verblüffend. Jef machte ein paar schnelle Schritte, faßte den Kopf des Maolots und drehte ihn seinem eigenen Gesicht zu. Er wollte sehen, ob Mikey seine Kindheitsblindheit plötzlich verloren und das Sehvermögen erlangt hatte, wie dies mit Erreichen der geschlechtlichen Reife zu erwarten war. Aber Mikeys Augenlider waren so fest über seinen Augen geschlossen wie eh und je. Der Maolot riß seinen Kopf ungeduldig aus Jefs Händen und zog von neuem an der Leine, als könne er es nicht erwarten, ein lang gesuchtes Ziel zu erreichen, das gleich hinter der nächsten Bodenerhebung lag.

Das Bemerkenswerte an diesem Benehmen war, daß Mikey vor unbekanntem Gelände immer Angst gehabt hatte. Bis er einen Ort gründlich erkundet hatte, war er immer zurückgeblieben und hatte den Kopf gegen Jefs Bein gedrückt, um Hinweise auf die Richtung und das Tempo zu erhalten. Aber jetzt wollte der Maolot offensichtlich die Führung übernehmen. Natürlich war das hier in gewissem Sinn kein unbekanntes Gebiet. Der Instinkt mochte ihn leiten. Um ein Experiment zu wagen, zog Jef sich bis an Mikeys Halsband heran und hakte die Leine los.

Mikey rannte in der gleichen Sekunde davon. Er sprang, lief völlig sicher zwischen zwei Bäumen hindurch, umging einen anderen in einem Halbkreis, bevor er stehenblieb und seinen Kopf über die Schulter zu Jef zurückwandte, als könne er ebenso gut sehen wie Jef, wenn nicht besser.

„Ich komme!“ rief Jef ihm zu. „Verlauf dich bloß nicht.“

Mikey setzte sich von neuem in Galopp und verschwand zwischen den Bäumen. Einen Augenblick lang war Jef besorgt. Wenn Mikey es fertigbrachte, sich zu verlaufen … Aber innerhalb von Sekunden tauchte der Maolot wieder auf. Mit unfehlbarer Sicherheit sprang er beinahe bis zu Jef zurück. Dann drehte er sich um und rannte von neuem los wie ein übermütiger Hund, der nicht imstande ist, sich ruhig zu verhalten, seinen Herrn aber auch nicht zu weit zurücklassen möchte.

In all den Jahren, die er ihn kannte, hatte Jef den Maolot niemals so glücklich und aufgeregt gesehen. Er platzte beinahe vor Glück und Vorfreude.

Jef blieb mit einem Fuß in der Luft stehen. Er wartete.

Drei Sekunden später erschien Mikey wieder. Er galoppierte mit Höchstgeschwindigkeit, kam schlitternd vor Jef zum Stehen und berührte mit seiner Nase besorgt Jefs Hand.

„Alles in Ordnung“, sagte Jef. „Ich denke nur nach.“

Er dachte tatsächlich sehr angestrengt nach. Es war schon einige Jahre her, daß er den starken Eindruck, manchmal könne er auffangen, was der Maolot empfand – und umgekehrt –, als Tatsache akzeptiert hatte. So war es geschehen, daß er durch bestimmte Ereignisse erzürnt oder verärgert nach Hause gekommen war und festgestellt hatte, daß Mikey offenbar diese Gefühle nachvollzog.

Aber bei diesen schwachen Hinweisen auf eine Kommunikation war es geblieben; nie hatte sich etwas ereignet, das Jef als eindeutiger Beweis hätte dienen können. Es war nichts als ein allgemeiner Eindruck, den er zuweilen hatte, es gab keine Möglichkeit, das nachzuprüfen. In den acht Jahren, die Mikey in Jefs Obhut verbracht hatte, war er vom Amt für xenologische Forschung eingehend studiert worden, und auch dadurch war kein Beweis erbracht worden.

Aber hier war Mikey, offensichtlich berauscht davon, daß er wieder auf seiner Heimatwelt war, an die er nur noch ganz schwache Erinnerungen haben konnte. Und hier war Jef, der sich ebenfalls berauscht fühlte und keinen richtigen Grund dafür hatte …

Jef prüfte seine inneren Empfindungen. Ja, er war voller Aufregung und Freude … und für ein so überschäumendes Glücksgefühl hatte er keinen Grund. Er hatte überhaupt keinen Grund, es sei denn, er empfing Mikeys Gefühle und vollzog sie nach.

Jef setzte sich wieder in Marsch, aber seine Füße bewegten sich ganz automatisch. Er war immer noch tief in Gedanken versunken. Wenn zwischen ihm und Mikey wirklich eine Art von empathischer Verbindung bestand, die jetzt, wo sie hier auf Everon waren, stärker wurde, dann war das allein schon eine Untersuchung wert.

Dabei erhob sich die Frage: Wenn es diese Verbindung gab, wie konnte er es beweisen? Wie konnte er sie experimentell nachprüfen?

Antworten auf diese Fragen fielen ihm nicht ein. Jef ging weiter und wälzte das Problem in seinem Kopf, bis seine Gedanken aus purer Müdigkeit abzuschweifen begannen. Er hatte sich zu lange auf ein und dasselbe Thema konzentriert. Allmählich schob er die Fragen beiseite und achtete mehr auf das bewaldete Oberland, das er durchquerte. Er überließ sich der gehobenen Stimmung, von der er vermutete, daß Mikey sie ihm vermittelte. Mikey lief schon längst wieder immerzu ein Stück vor und kehrte dann um. Unter dem Einfluß der gemeinsam erlebten Empfindungen wurde sich Jef des Waldlandes, das er durchwanderte, besonders stark bewußt. Er begann, Feststellungen zu treffen, auf welche Weise es einem vergleichbaren Wald auf der Erde glich und in welcher Beziehung es sich davon unterschied. Unmerklich wandelte sich dabei die Grundeinstellung, von der er ausgegangen war, und er fing an, all die heimatlichen Bäume – die Variformen von Schwarzeichen, schottischen Kiefern, norwegischen Fichten und Balsamtannen – als Eindringlinge anzusehen und die seltsamen Formen der einheimischen Vegetation, die er bisher nur von Bildern kannte, wie angenehm vertraute Gestalten zu begrüßen.

Er entdeckte auch mehrere Parasolbäume. Das war eine Spezies, die einem niedrigen, die Äste waagerecht ausstreckenden Baum der Erde stark ähnelte. Der Unterschied lag in der Tatsache, daß der Parasolbaum von Everon keine richtigen Blätter hatte, sondern über die gleichen fleischigen Ast- und Zweigauswüchse wie der höhere, schlankere Willybaum – und übrigens die gesamte Vegetation auf dieser Welt – verfügte. Nur waren bei dem Parasolbaum die Auswüchse von einem leuchtenden Grün und drängten sich an jedem frischen Zweig auf etwa einem halben Meter dicht zusammen, so daß der Baum aussah, als halte er einen dicken Regenschirm über jeden Wanderer, der unter ihm vorbeikam.

Weniger häufig anzutreffen – aber Jef entdeckte einen noch vor Mittag – war der „Wegweiser“, ein niedriger Vertreter der Everon-Vegetation mit einem dicken Stamm, der jetzt in dieser Jahreszeit – Spätsommer auf der nördlichen Halbkugel – schlief und selten höher als drei Meter war. Doch im Winter wurde der Baum aktiv. Dann sprossen schlanke Schößlinge mit federartigen Spitzen aus dem dicken Stamm. Sie fingen die Pollen und mikroskopischen Sporen ein, die die anderen Everon-Pflanzen in dieser Jahreszeit aussandten, und benutzten sie als Nahrung. In der kurzen Zeit von wenigen Wochen verleibte sich der Wegweiser die Nahrung für ein ganzes Jahr ein. Dann welkten die Schößlinge und starben ab, bis im nächsten Winter neue wuchsen. Zu der Höhe des dicken Stammes wurde weniger als ein Zentimeter hinzugefügt.

Der Wegweiser, der Willybaum, der Parasolbaum und ein paar Dutzend weniger auffällige Exemplare von Flora und Fauna, die Jef identifizierte, waren Jahrtausende, bevor es den Menschen einfiel, diese Welt zu kolonisieren, Bestandteil eines funktionierenden Ökosystems gewesen. Als dann die menschliche Rasse den Entschluß faßte, sich hier anzusiedeln, hatte sich das Ökokorps an die komplizierte, viel Fingerspitzengefühl verlangende Arbeit gemacht, auf dem Planeten jene Variformen irdischer Flora und Fauna einzuführen, die gemeinsam mit den einheimischen Formen ein neues, lebensfähiges Ökosystem zu bilden vermochten. Daß eine solche Kombination überhaupt erzielt werden konnte, war ein Wunder, das von dem Zusammenleben irdischer Pflanzen und Tiere mit den einheimischen bezeugt wurde – von den einfachen Variform-Regenwürmern bis zu den hochentwickelten, mächtigen Maolots selbst.

Aber es genügte nicht, die beiden einfach zusammenzufügen. Mehrere hundert Jahre sorgfältiger Kontrolle der Kolonisten und eingehender Beobachtung der neuen Ökologie würden notwendig sein, um alle Geheimnisse der Lebensformen auf diesem Planeten zu entdecken, sowohl der einheimischen als auch der importierten. Selbst dann würde man mindestens noch ein paar hundert Jahre brauchen, um sicher zu sein, daß sich aus der Verschmelzung nichts Gefährliches entwickelte. Zu viele Fragen waren immer noch unbeantwortet geblieben.

Zum Beispiel: Welchen Nutzen hatte das ursprüngliche System von den Wegweisern, die, soweit es durch Untersuchungen festgestellt werden konnte, als Teil des Ökosystems von Everon funktionierten, ihm aber nichts weiter lieferten als nach ihrem Absterben die Materie ihrer Stümpfe? Warum waren die Maolots in ihrer Jugend blind? Ließ sich aus dem empathischen Kontakt, den er, wie er zu schwören bereit war, im Augenblick mit Mikey erlebte, darauf schließen, daß zwischen den Jungen dieser Spezies und den Erwachsenen, mit denen sie zusammenlebten, eine ähnliche Kommunikation stattfand? Verständigten sich auch die Erwachsenen auf diese Weise?

Jef wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als er beinahe über Mikey gefallen wäre, der sich quer über den Pfad und damit ihm mitten in den Weg gelegt hatte.

„Mikey! Was machst du?“

Jef wollte um den Maolot herumgehen, aber Mikey rückte nach und bildete mit seinem Körper von neuem eine Barriere.

„Laß das, Mikey!“

Jef machte noch einen Versuch, den Maolot zu umgehen, doch dann dämmerte es ihm, daß Mikey für das, was er tat, einen anderen Grund haben könne als reine Verspieltheit. Jef stellte seine Versuche ein, blieb stehen und blickte ringsum.

Er war beinahe bis an das Ufer eines sehr kleinen und seichten Baches gekommen, nicht mehr als zehn Meter breit und, wie das klare Wasser zeigte, nur wenige Zentimeter tief. Jef befand sich im Mittelpunkt einer schmalen, gewundenen Lichtung, durch die das Flüßchen lief. Hinter ihm und vor ihm war Wald, jenseits des Wassers erstreckte sich entlang dem Flüßchen ein offener Streifen Bodens, der mit Schlingpflanzen bedeckt war. Es schien keinen Grund zu geben, nicht durch das Wasser zu waten und weiterzuwandern, aber es war ganz deutlich, daß Mikey ihn das nicht tun lassen wollte.

„Warum?“ fragte Jef den Maolot. „Was ist, Mikey?“

Mikey drückte sich an ihn. Seine Ausstrahlung – wenn dies das richtige Wort dafür war – vermittelte Jef eine eindringliche Warnung. Es war nicht die Art Warnung, die sich mit dem Erkennen einer unmittelbaren Gefahr verbindet, sondern so etwas wie eine strenge Ermahnung, sich ja auf geziemende Weise zu verhalten.

„Schon gut“, sagte Jef. „Ich bleibe hier stehen, Mikey. Und was nun?“

Mikey vermittelte durch ein erneutes Anschmiegen Zuspruch, aber auch wiederum Warnung.

Konnte es sein, daß sein Aufenthalt auf der Erde ihn der auf Everon normalen Wahrnehmungsfähigkeit in gewissem Ausmaß beraubt hatte? Jef versuchte, diese Frage aus seinen Gedanken zu verbannen. Er bewegte sich allmählich von der vernünftigen Überlegung weg und auf reine Phantastereien zu.

Dennoch ließen sich diese und ähnliche Gedanken nicht verscheuchen, während er und Mikey ihren Weg durch das golden angehauchte Grün des Everon-Waldes fortsetzten. Als der Tag sich neigte, hatte Jef noch auf keine der Fragen eine Antwort gefunden. Zu der Zeit, als sie die Furt des Voral-Flusses erreichten, an dessen diesseitigem Ufer sie lagern wollten, hatte er es sogar aufgegeben, Mikeys Vor- und Zurücklaufen zu beachten. Es wurde bereits dunkel. Zwar zeigte die Karte, daß die Furt nirgendwo tiefer als einen Meter war und einen glatten, kiesigen Grund hatte, aber Jef fand gar kein Gefallen an der Vorstellung, den ziemlich breiten, dunklen Fluß zu überqueren, wenn die Sonne schon untergegangen war.

Deshalb baute er, bevor das Tageslicht völlig verschwunden war, sein Schutzzelt auf und zündete ein Feuer an. Der eine der beiden kleinen Monde Everons würde erst später aufgehen. Das Abendessen für Jef und Mikey bestand aus den Rationen Konzentratnahrung, die Jef bei sich trug. Sie enthielten für Mikey nicht genug Masse, aber für die zwei Tage, die sie bis zu dem ersten Vorratsposten benötigten, würde es gehen. Sobald sie einmal dort waren, konnte Jef, wenn nichts anderes, so doch bestimmt Antilopenfleisch kaufen – falls Mikey in der Zwischenzeit in sich nicht die Fähigkeit zum Jagen wiederentdeckte.

Jef saß am Feuer und blickte in die Flammen. Mikey hatte sich auf der anderen Seite des Feuers zusammengerollt. Der Schlafsack war ausgebreitet und wartete, aber es war erst kurz nach Sonnenuntergang, und trotz des langen Tagesmarsches war es Jef noch nicht nach Schlafen zumute. Immer noch hatte er das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden, aber jetzt war es so, als hätten sich die Beobachter zurückgezogen, als respektierten sie sein durch den Feuerschein markiertes, kleines privates Reich. Seltsamerweise hatte er von Anfang an nicht den Eindruck gehabt, die Beobachter seien ihm feindlich gesinnt. Es war eher so, als fasziniere er einen Kreis von scheuen, aber neugierigen Waldtieren.

Er brauchte dem Gefühl nur keine Beachtung zu schenken, und schließlich gelang ihm dies auch. Doch nun überkam ihn ein neues Gefühl – eine eigentümliche Traurigkeit, etwas wie Einsamkeit. Er hatte einige Zeit über das Rätsel der Wegweiser und die Tatsache nachgedacht, daß sie nichts zu dem Ökosystem beizutragen schienen, und von dort aus waren seine Gedanken weitergewandert zu den Kolonisten, denen hier und denen auf anderen neubesiedelten Planeten, schließlich zu seinen Mitmenschen auf der Erde.

In gewissem Sinn war Jef sein ganzes Leben lang unter den anderen Angehörigen seiner eigenen Rasse so etwas wie ein Fremder gewesen. Er hatte soviel Zeit wie möglich im Freien verbracht, in den Wildparks und den Zoos, und unter seine Mitmenschen hatte er sich nur gemischt, soweit es notwendig war, um seine Verpflichtungen zu erfüllen, eine Ausbildung zu erwerben und eine Beschäftigung zu finden. Instinktiv hatte er immer das Gefühl gehabt, man müsse sein Leben zu einem bestimmten Zweck führen. Aber, verloren unter den unübersehbaren Menschenmassen auf der Erde, konnte er nicht glauben, daß er jemals einen Zweck für seine eigene Existenz finden werde, solange er in diesem endlosen Strom mitschwamm, ein Fischlein unter zahllosen anderen.

Es hätte ihm nichts ausgemacht, einer aus der Masse der unzählbaren Milliarden zu sein, wenn er an seinesgleichen etwas zu lieben und zu bewundern gefunden hätte. Aber als Masse hatten seine Mitmenschen diese Empfindungen niemals in ihm erweckt. Als Individuen konnten sie freundlich und empfindsam und teilnahmsvoll sein. Doch sobald sie sich zu irgendeinem Gebilde von einer Gemeinde bis zum Staat zusammenschlossen, fingen sie an, sich gemäß dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu verhalten. Aus dem Bedürfnis, freundlich zu sein, wurde Selbstsucht, die Empfindsamkeit ging unter in der Verhärtung des Gefühls, und die Teilnahme verlor sich in dem Drang, andere zu überrunden, auf Kosten von jedem anderen und allem anderen zu überleben. In Jefs bewußt erlebten Jahren auf der Erde hatten sich die beiden Giganten, die Regierungsbürokratie – die sechzig Prozent aller Arbeitsfähigen beschäftigte – und das organisierte Verbrechertum – das zwanzig Prozent, wenn nicht beschäftigte, so doch beherrschte –, in einem endlosen Machtkampf ineinander verkeilt. Und das Schlachtfeld war durch die Existenz der großen Masse von Erwerbslosen geschaffen worden, die auf Kosten der anderen Bürger lebten.

Nur auf dem kleinen Randgebiet der internationalen Ämter und der Forschung konnten Altruismus und die Hoffnung auf eine edlere Bestimmung der Menschheit existieren. Und selbst hier – wie es sich im Falle von Wills Tod erwiesen hatte – konnten die egoistischen Interessen der Regierungsbehörden hineinspielen und die Vorherrschaft gewinnen.

Dreiundzwanzig Jahre des Lebens auf der Erde, so sagte Jef jetzt zu sich selbst, sollten ihn gelehrt haben, daß die menschliche Rasse nicht besser wurde, wenn man sie auf andere Welten verpflanzte. Und doch war er in genau dieser Erwartung nach Everon gekommen. Er hätte nicht enttäuscht sein dürfen, als er entdeckte, über welche Gesinnung Martin, Armage und die anderen, die er im Haus des Konnetabels getroffen hatte, verfügten. Es war unlogisch, aber enttäuscht war er trotzdem.

Seine Stimmung hatte sich verdüstert. Er stocherte mit einem Zweig im Feuer herum, und ein Regen rotgoldener Funken schoß in die Dunkelheit wie der Raketenschweif eines winzigen, unsichtbaren Raumschiffes. Die Menschheit war, wenn man es recht bedachte, noch weniger wert als der Wegweiser-Baum. Sie gab nicht nur nichts, sondern hatte dazu noch die Absicht, niemals etwas anderes zu tun als zu nehmen. Hier auf Everon und zu Hause auf der Erde, wo eine ganze Welt darauf zugeschnitten und verändert worden war, die sich wie ein Seuchenvirus ausbreitetende menschliche Rasse zu erhalten, boten seine Rassegenossen nichts an und planten, alles zu nehmen.

Dabei mußte das nicht sein. Inmitten aller Untaten seiner Rasse, durch die ganze blutgetränkte Geschichte der Menschheit hatte ein Funken der Wärme und Freundlichkeit, wie Jef ihn bei den Mitgliedern seiner eigenen Familie gefunden hatte, weiterbestanden. Er war festgehalten worden in Schrift und Bild und Musik, er wurde in stillen Winkeln gelehrt, und in stillen Winkeln der menschlichen Seele glühte er fort. Menschliche Selbstsucht war die eine Seite der Medaille, aber die andere hatte es immer ebenfalls gegeben. Nur – sie schien niemals die Oberhand zu gewinnen, niemals den Sieg zu …

Plötzlich sprang Mikey, der die ganze Zeit stillgelegen hatte, auf die Füße. Mit einer einzigen Bewegung seines schweren Kopfes warf er Jef um, trat vor und stellte sich über ihn. Zum ersten Mal, seit sie die Erde verlassen hatten, drang aus der Kehle des Maolots der tiefe grollende Ton, der einem warnenden Knurren entsprach.

„Mikey!“ rief Jef und versuchte aufzustehen. Mikey setzte eine schwere Vorderpfote auf ihn und hielt ihn unten, und dabei starrte er weiter blind in die Dunkelheit und stieß sein Warnungsgrollen aus.

Dann kam aus der Nacht, und unheimlich war es, eine hohe menschliche Stimme zurück. Sie rief: „In Ordnung! Frieden – niemand tut irgendwem was – ich komme ans Feuer. Einverstanden?“

Mikey nahm seine Pfote von Jef fort und trat zurück. Sein Knurren verstummte. Jef stolperte auf die Füße. Er sah erst den Maolot an und dann in die vollkommene Finsternis des Waldes, in die Mikey immer noch das Gesicht richtete.

Ein paar Sekunden vergingen mit Warten. Dann erklang ein schwaches Rascheln in der Schwärze, und gleich darauf tauchte im Feuerschein eine schmale Gestalt auf, einen Kopf kleiner als Jef, gekleidet in eine Lederjacke und grün-braun karierte Hosen aus dickem, handgewebtem Tuch. Sie trug einen Gegenstand auf dem Rücken, von dem ein Ende wie ein Ladestock über die linke Schulter hervorragte. Am Gürtel hing ein Köcher mit Dingen, die wie kurze Pfeile aussahen. Jef riß die Augen auf. Es war ein zwölfjähriger Junge – nein, es war ein junges Mädchen mit kurzgeschnittenem braunem Haar und einem schmalen, sonnengebräunten Gesicht.

„Frieden“, sagte sie noch einmal und blieb auf der anderen Seite des Feuers stehen. „Alles Freunde – niemand tut irgendwem was, wie ich schon sagte. Aber du hast wirklich Glück, daß es dir gelungen ist, aus einem Maolot einen Wachhund zu machen. Ehe ich das sah, war ich schon halb entschlossen, dich erst mit einem Bolzen zu durchbohren und dir dann Fragen zu stellen.“

„Bolzen … durchbohren …“ Jef schüttelte den Kopf. Die Wörter hatten keinen Sinn für ihn. „Warum?“

„Warum bist du auf meinem Grund und Boden – und hast keine Botschaft geschickt, daß du passieren möchtest?“ wollte das Mädchen wissen.

Von neuem riß Jef die Augen auf. Ihr Grund und Boden? Sie sah aus, als liege ihr Alter irgendwo zwischen zwölf und sechzehn.

„Fremde“, erklärte sie nun, „werden heutzutage in diesen Wäldern ohne Anruf erschossen, wenn sie sich unangemeldet blicken lassen. Das weiß jeder. Warum weißt du es nicht?“