Jef träumte, er sei draußen inmitten der See aus Moosgras, die er in der Nacht gesehen hatte. Es war Tag; dunkle Wolken zogen auf. Es begann zu regnen, und der Regen fiel mit besonderer Wucht. Ein Tropfen traf ihn so stark auf die Stirn, daß es sich wie der Aufschlag fester Materie anfühlte. Jef erwachte, aber der Regen fiel immer noch. Etwas, das zweifellos aus festem Stoff war, prallte von seinem Kinn ab.
Er setzte sich in seinem Schlafsack auf und blickte über den Körper des schlafenden Mikey hin. Etwa fünf Meter entfernt hockte ein Mann und warf Steinchen in Jefs Richtung. Der Mann war klein und untersetzt und hatte ein rötliches Gesicht, und er trug die gleiche Tracht der Waldbewohner wie Jarji.
In dieser Minute wachte Mikey auf, hob den Kopf und sandte dem Fremden ein Warnungsknurren zu.
„Schsch. Ruhig, Mikey …“ Jef faßte nach dem Maolot. Denn der Neuankömmling hielt eine gespannte Armbrust auf den Knien, und sie zielte in Mikeys Richtung.
„Sehr vernünftig“, lobte der Fremde. Er zielte mit seiner Armbrust in eine neue Richtung, und Jef sah, daß Jarji sich ebenfalls in ihrem Schlafsack aufgerichtet hatte. „Bleibt alle ganz ruhig. Halte deine Hände so, daß ich sie sehen kann, Freund.“
Sein Blick wanderte zu Jef zurück.
„Du bist Jefrey Aram Robini. Ist das richtig?“ fragte er.
„Ja“, antwortete Jef mit einer heiseren Stimme, die immer noch vom Schlaf verschleiert war. Er räusperte sich. „Äh – kennst du Jarji Hillegas? Das ist sie.“
„Habe von ihr gehört“, erklärte der Mann mit der Armbrust. „Freut mich, dich kennenzulernen, Jarji. Habe deine Mama und deinen Papa gekannt. Ich bin Morrel McDermott. Du, Jef Robini: Ich habe eine Botschaft für dich.“
„Eine Botschaft?“
„Von Beau leCourboisier, dem Mann, nach dem du suchst. Beau hat erfahren, daß du ihm nachjagst. Er schickt dir die Nachricht, du sollst kommen. Ich sage dir, wie du ihn finden kannst.“
„Wie … wie hat leCourboisier herausgefunden, daß ich auf der Suche nach ihm bin?“ Jef versuchte immer noch, richtig wach zu werden und sein Gehirn zum Funktionieren zu bringen.
McDermott sah zu Jarji hinüber.
„Ist er immer so, daß er nichts tut als herumzulaufen und Fragen zu stellen?“ wollte McDermott von ihr wissen.
„Du hast auch nicht gleich alles gewußt, als du zum ersten Mal in die Wälder des Oberlandes gekommen bist“, gab Jarji scharf zurück.
„Entschuldige, entschuldige“, sagte McDermott.
„Zum Teufel!“
„Typisch Hillegas.“ McDermott richtete den Blick wieder auf Jef. „Die Familie hat das schlimmste Temperament auf ganz Everon. Die einzigen Leute, mit denen sie nicht streiten, sind die eigenen Angehörigen. Trotzdem, wenn du herumläufst und Fragen stellst, ohne einen Augenblick nachzudenken, wird das Ende wahrscheinlich sein, daß du erschossen wirst …“
Das Schwirren einer Aufzugfeder unterbrach ihn. Er hatte sich ein bißchen zu sehr in Sicherheit gewiegt und sich ein bißchen zu sehr auf Jef konzentriert. Nun saß Jarji da und hatte ihre eigene Armbrust gespannt und auf ihn gezielt.
„Ist doch schon gut“, wehrte McDermott ab. „Ich habe von anderen Leuten gesprochen, nicht von mir. Glaubst du, Beau würde einen Mann rekrutieren, der ein Heißsporn ist?“
„Denke daran, daß du das gesagt hast, mehr will ich gar nicht.“ Jarji löste einen Riegel an ihrer Armbrust, und die Sehne entspannte sich. „Frieden.“
„Frieden“, wiederholte McDermott. Er entspannte seine eigene Armbrust und legte sie beiseite. Jarji legte die Waffe auf den Boden. McDermott wandte den Kopf und blickte zu Mikey hinüber.
„Oh, Mikey tut nichts“, versicherte Jef. „Ich brauche ihm nur sein Frühstück zu geben …“
„Wenn er es haben will“, meinte McDermott. „Er hat sich den Bauch an der toten Antilope dahinten ganz schön vollgeschlagen.“
„Antilope …“ Jef befreite sich hastig aus dem Schlafsack. „Sie war doch vergiftet! Mikey …“
Er fuhr schnell mit den Händen über Mikeys Bauch und Schnauze. Aber er fand keinen Hinweis darauf, daß der Magen des Maolots sich spannte oder daß sich an der Schnauze Feuchtigkeit bildete. Wenn es an Mikey überhaupt etwas zu bemerken gab, dann die Tatsache, daß er seit ihrer Abreise von der Erde noch nie so glatt und zufrieden ausgesehen hatte. Nun faßte er die Berührung von Jefs Händen als Einladung zum Spielen auf, schnappte harmlos nach ihnen und rollte sich auf den Rücken.
„Es scheint ihm nicht geschadet zu haben“, bemerkte McDermott. „Vielleicht ist das einer der Gründe, warum die Wisent-Rancher die Maolots so hassen – kann sein, daß ihr Gift bei ihnen nicht wirkt.“
„Wie ist das möglich?“ wunderte sich Jef.
McDermott zuckte die Schultern.
„Ich glaube, du wolltest uns gerade sagen, wie wir Beau finden können“, mischte Jarji sich ein. Sie war bereits aus ihrem Schlafsack geklettert und stand McDermott gegenüber.
„So ist es. Wirf mir deinen Marschcomputer herüber.“
Jef holte den Marschcomputer hervor und warf ihn dem anderen Mann zu. McDermott stand auf und fing ihn mühelos mit einer Hand.
Er hockte sich wieder hin, gab auf der Tastatur des Kästchens Koordinaten ein, zog den Griffel aus seiner Halteklammer und markierte auf dem Kartenabschnitt, den er eingegeben hatte, eine Route. Dann befestigte er den Griffel wieder und warf Jef den Marschcomputer zurück.
„Wandere tagsüber“, riet er. „Wahrscheinlich werden Luftfahrzeuge aus der Stadt nach dir suchen. Halte dich am Waldrand und verstecke dich im hohen Gras, wenn du eine Maschine in der Luft entdeckst. Von den Grasspitzen wird genug Sonnenlicht reflektiert, daß deine Körpertemperatur vor den Wärmespürern eines Fliegers abgeschirmt wird, falls er sich nicht genau über dir befindet.“
Er nickte Jef aufmunternd zu.
„Aber wenn sie landen und dich jagen, lauf in den Wald“, setzte er hinzu. Er wandte sich an Jarji. „Ich werde Beau berichten, daß du Robini nicht nur gesagt hast, er solle hierherkommen, sondern ihn selbst gebracht hast. Er wird dir dafür dankbar sein. Grüße deine Familie von mir, wenn du nach Hause kommst.“
„Ich werde es Beau selbst erzählen“, erklärte Jarji. „Ich gehe mit Jef.“
McDermotts Augenbrauen wanderten in die Höhe.
„Also, soviel ich weiß, war davon überhaupt nicht die Rede“, brummte er. „Ich weiß nicht, was Beau dazu sagen wird. Wir dachten, Robini könne allein kommen. Da ist die Wahrscheinlichkeit geringer, daß wir durch ihn aufgespürt werden.“
„Und die Wahrscheinlichkeit, daß er sich verläuft, ist größer!“ erwiderte Jarji. „Ich bringe ihn. Und wenn dir und Beau und allen anderen das nicht paßt – ihr habt mir gar nichts zu sagen!“
McDermott zuckte die Schultern.
„Das mußt du mit Beau ausmachen.“ Er stand wieder auf und nickte Jef zu. „Es ist so ungefähr ein Fünftagemarsch. Viel Glück!“
Er drehte sich um und verschwand im Wald. Kein Schritt von ihm war zu hören.
„Gut“, sagte Jarji. „Wir sollten lieber vor dem Aufbruch essen. Zeig mir diesen Marschcomputer.“
Jef sah sie an.
„Jetzt warte mal eine Minute. Nur eine Sekunde. Ich habe dir gesagt, daß ich dir für alles, was du für mich getan hast, dankbar bin. Aber das geht über die Nachbarschaftshilfe hinaus. Ich habe den Marschcomputer. Du brauchst mich auf dem letzten Stück des Weges nicht zu begleiten.“
„Es ist meine eigene Wahl“, stellte sie fest.
„Warum? Du brauchst es nicht zu tun. Und ich habe nicht den Eindruck, daß du besonderen Wert auf mich legst.“
„Ich brauche niemandem meine Gründe zu nennen“, fauchte sie. „Auch dir nicht.“
„Aber – du hältst wirklich nicht viel von mir, nicht wahr? Du magst mich nicht einmal leiden.“
„Das habe ich nicht gesagt.“ Sie sah ihn ärgerlich an. „Also gut, du bist von der Erde. Du verstehst von Everon weniger als die Wisent-Rancher und die Leute unten in der Stadt – und die verstehen überhaupt nichts. Ihr Leute von der Erde kommt hierher im Auftrag des Ökologischen Korps oder aus beruflichen Gründen, die dasselbe in Grün sind, und ihr sitzt in euren Büros unten am Raumhafen und bildet euch ein, ihr wäret auf Everon gewesen. Was mich betrifft, so könntet ihr alle zu Hause bleiben. Nein, ich mag dich nicht besonders, Robini!“
„Mein Bruder“, antwortete Jef, „hatte ein Büro unten am Raumhafen. Aber er kannte Everon und liebte diese Welt ebenso, wie du es tust. Das weiß ich, weil er uns über seine Arbeit erzählt hat, als er auf Urlaub zu Hause war.“
„Schon möglich“, knurrte Jarji. „Aber ich habe ihn nicht gekannt. Wenn er so empfunden hat, dann war er der einzige importierte Beamte dieser Art, den ich je gesehen habe.“
„Weißt du, was mit dir los ist?“ fragte Jef. Er hatte nicht die Absicht gehabt, soweit zu gehen, aber jetzt fühlte er sich dazu verpflichtet. „Du bist eine Kolonistin auf einer neuen Welt, die es gerade geschafft hat, unter primitiven Bedingungen selbständig zu werden, und du hast einen Minderwertigkeitskomplex, was Leute von der Erde betrifft. Also verdrehst du die Tatsachen und tust so, als sei ich derjenige, der nichts weiß und nichts empfindet.“
„Das ist hübsch“, sagte sie. „Wo hast du das gelesen?“
„Ich habe es nicht gelesen …“
Sie stellte sich auf die Füße und warf sich die Armbrust über den Rücken. „Du solltest lieber sofort aufbrechen. Ich kann im Kreis um dich herumlaufen. Ich kann dir Löcher in den Bauch reden. Ich kann dir Löcher in den Bauch schießen. Ich kenne diese Wälder, und du kennst sie nicht. Wenn ich mit dir zu Beau gehen will, gibt es, verdammt noch mal, nichts, was du dagegen tun kannst.“
Jef öffnete den Mund, um zu antworten, und schloß ihn wieder. Leider hatte sie recht.
„Andererseits“, fuhr sie nach einer Pause fort, „hast du bei mir einen Pluspunkt, und das ist dein Maolot. Nur weil ich ihn bei dir gesehen habe, ist es mir überhaupt eingefallen, einen zweiten Gedanken an dich zu verschwenden. Du magst ihn, und er mag dich. Deshalb behalte ich mir mein endgültiges Urteil über dich vor, weil er es auch tut. Schätze dich glücklich, daß du einen Freund wie ihn hast, der für dich bürgt, das ist alles. Jetzt gibst du mir den Marschcomputer, und du gehst und suchst uns trockenes Holz für ein Feuer. Wie ich schon gesagt habe, müssen wir essen, bevor wir aufbrechen.“
„Hast du immerzu Hunger?“ erkundigte Jef sich.
„Nein. Und ich bin auch jetzt nicht besonders hungrig“, antwortete sie. „Aber wenn uns ein Flieger entdeckt und wir einen Tag und eine Nacht laufen und uns verstecken und wieder laufen müssen, ohne anhalten zu können, haben wir wenigstens zu Beginn einen vollen Magen gehabt.“
Jef kapitulierte. Er ging in den Wald und hielt Ausschau nach abgefallenen Baumauswüchsen oder anderem Material, das leicht brennen würde.
Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Nichts, was sie sagte, war ohne Sinn und Verstand. Nur … es ärgerte ihn, daß er bei jedem Streit den kürzeren zog. Es war nicht gut möglich, daß er immer unrecht und sie immer recht hatte.
Aber zweifellos hatte sie recht damit, daß sie essen sollten, solange sie noch die Möglichkeit dazu hatten … Der Gedanke an das Essen erinnerte Jef an Mikey.
Der Maolot war neben ihm hergetrottet, als er zum Holzsammeln in den Wald ging. Nun blieb Jef stehen und untersuchte Mikey noch einmal. Aber Mikey hatte nie besser ausgesehen, und sein Benehmen war nie munterer gewesen. Jef ging zu dem Kadaver der Antilope zurück. Er war überrascht, als er feststellte, wieviel Mikey gefressen hatte. Beide Vorderteile und ein Hinterviertel waren bis auf die Knochen abgerissen. Die Magengegend war unberührt – wahrscheinlich der Grund, warum Mikey selbst keinerlei Schaden genommen hatte.
Jef sah sich auf dem Fleck zerwühlten Moosgrases und Unterholzes um, wo die Antilope im Todeskampf um sich geschlagen hatte. Doch er fand keinen Hinweis auf ein Gift. Er prüfte sorgfältig Büsche und Boden. An ihnen war nichts Außergewöhnliches zu entdecken, und das Moosgras war die typische Mischung aus der niedrigen Vegetationsform und dünnen Halmen, die halb so hoch waren wie die auf freiem Feld. An den Spitzen trugen sie winzige gelbe Samenstände, wie dies bei jungem Hafer der Fall war. Plötzlich erwachte in Jef der Wunsch, den Mageninhalt des toten Tieres zu untersuchen und zu sehen, ob er daraus etwas erfahren konnte. Aber in diesem Augenblick erinnerte ihn ein Zuruf von Jarji an das Feuerholz, das er suchen sollte.
Er suchte es und trug es zum Lagerplatz. Sie aßen, packten ihre Sachen zusammen und brachen auf.
Es war immer noch früher Morgen, als sie die Wanderung begannen. Sie hielten sich gerade innerhalb der Baumdeckung am Rande des Waldgebietes, des Schattens wegen. In dem starken Sonnenlicht von Everon war es im offenen Grasland in der Tat heiß – obwohl sie sich in den oberen Breitengraden des nördlichsten Kontinents auf diesem Planeten befanden und der Sommer beinahe vorbei war. Die Route, die McDermott für sie markiert hatte, folgte dem Waldrand in nordwestlicher Richtung und führte sie weg von der breitesten Stelle des Prärie-Landes, durch das es hinunter zur Raumhafenstadt ging.
An diesem ersten Tag mußten sie sich nur einmal vor einem Luftfahrzeug verstecken. Plötzlich fingen alle Glockenvögel an zu rufen. Ein solches Geläut hatte Jef von diesen Everon-Geschöpfen bisher noch nicht gehört. Gleich darauf war aus der Ferne das singende Summen einer sich nähernden Maschine mit Zweistromtriebwerk zu hören. Jef, Jarji und Mikey rannten hinaus in das offene Grasland, tauchten in die hohen Halme ein und krochen ein Stück weiter, bis die federigen Spitzen sich über ihnen schlossen.
Ein Blick nach oben durch die Moosgrasbüschel zeigte ihnen, wie die Maschine sich näherte und niedrig über die Bäume flog, offenbar auf der Suche nach ihnen. Sie blieb aber ein gutes Stück vom Grasland entfernt. Einen Augenblick lang dröhnte ihnen das Geräusch der Triebwerke in den Ohren. Dann flog die Maschine zwischen ihnen und der goldenen Sonne hindurch. In diesem Augenblick sahen ihre Flügel schwarz aus, bis auf einen grauen Kreis in jeder Tragfläche, wo ein Düsenfächer sich innerhalb seines Gehäuses mit Höchstgeschwindigkeit drehte.
Dann flog die Maschine davon, das Geräusch wurde schwächer und verstummte. Sie standen auf, kehrten an den Waldrand zurück und setzten ihre Wanderung fort.
Während der nächsten Tage mußten sie sich häufig verstecken. Jef wunderte sich darüber, daß der Konnetabel für die Suche nach ihnen so viele Flieger in die Luft schicken konnte beziehungsweise wollte. Aber Jarji wies ihn darauf hin, daß ein einziges Luftfahrzeug die Strecke, die einen Tagesmarsch ausmachte, innerhalb von Minuten zurücklegen konnte und daß sie wahrscheinlich immer wieder die gleiche Maschine sahen, die hin und her flog.
Auf ihrem Weg stießen sie Tag für Tag auf weitere vergiftete und tote Antilopen. Sie lagen immer dicht am Waldrand, wo die Bäume vom Grasland abgelöst wurden und die jungen Halme des Moosgrases die Waldvegetation ersetzten. Wenn eine Antilope erst kurze Zeit tot war, wollte Mikey immer von ihr fressen. Nach verschiedenen Gelegenheiten, bei denen Mikey gefressen und offenbar ohne Schaden überlebt hatte, hörte Jef auf, es ihm zu verbieten, und erlaubte dem Maolot, sich vollzustopfen. Bei Mikeys gegenwärtigem Appetit, dachte Jef, würden alle Rationen im Rucksack für ihn ohnehin kaum mehr als einen kleinen Imbiß bedeuten.
Vom dritten Tag an riß sich Mikey Fleischstücke von jeder toten, noch in eßbarem Zustand befindlichen Antilope, an der sie vorbeikamen. Zum ersten Mal erlebte Jef es, daß der Maolot sich weigerte, zu ihm zu kommen, wenn er es ihm befahl. Er kam erst, wenn er soviel gefuttert hatte, wie in ihn hineinging. Er duckte sich zu Boden, wenn Jef zornig nach ihm rief; er gab entschuldigende Laute von sich. Aber er ließ nicht von seiner Beute ab, bis seine Flanken sich vor Fleisch trommelfest spannten.
Jef war ehrlich verblüfft. Mikey war immer ein starker Esser gewesen, aber das hier war nicht mehr zu verstehen, ja, es war unnatürlich. Ebenso erstaunlich war, daß Mikey mit solcher Schnelligkeit wuchs. Er hatte jetzt gut anderthalb Meter Schulterhöhe.
Irgendwann am Nachmittag des vierten Tages brachte Jarji das Thema offen zur Sprache.
„So, wie dein Tier wächst“, bemerkte sie, „wird er in vierzehn Tagen die Größe eines Erwachsenen erreicht haben.“
Jef grunzte. Er konnte es nicht abstreiten. Mikey hatte ihm sonst immer mit dem Kopf in die unteren Rippen geboxt. Jetzt befand sich sein Kopf beinahe auf gleicher Höhe mit Jefs eigenem. Ging es noch zwei Wochen so weiter, würde Mikey auf ihn herabsehen.
„In einigen wenigen Tagen?“ protestierte Jef trotzdem. „Das ist nicht möglich!“
Da es nicht nur möglich, sondern eine offenkundige Tatsache war, würdigte Jarji diese Bemerkung keiner Antwort. Sie schritt weiter, während Jef erst stehenbleiben und Mikey abwehren mußte. Der Maolot, der sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit fühlte, hatte sich nämlich Jef in den Weg gestellt und versuchte, Jefs Gesicht abzulecken. Es kostete Jef einige Mühe, ihn davon abzubringen.
„Jedenfalls“, sagte Jef, als es ihm gelungen war, den ganzen Trupp wieder in Marsch zu setzen, „bin ich froh, daß er mit dem Futter, das er verschlingt, etwas anzufangen weiß. Ich hatte schon befürchtet, er werde eines Tages vor unseren Augen explodieren.“
Gleich darauf wurde er wieder ernst.
„Andererseits hoffe ich, daß er nicht zu schnell wächst.“
„Wie kann er denn zu schnell wachsen?“ gab Jarji zurück.
„Ich dachte – für den Fall, daß wir einem erwachsenen Maolot-Mann begegnen.“ Jef erzählte ihr, wie er und Mikey auf ihrem Weg zum Posten Fünfzig, nachdem Jarji sie verlassen hatte, mit dem großen Maolot zusammengetroffen waren.
„Und du glaubst, der Große hat euch gehenlassen, als er sah, daß Mikey noch nicht ganz ausgewachsen war?“ fragte Jarji, als Jef zu Ende war.
„Das hast du mir selbst erzählt – daß die erwachsenen Maolot-Männer Junge in Ruhe lassen, weißt du nicht mehr?“ erwiderte Jef. „Übrigens war das etwas, das ich bereits wußte: Maolot-Männer greifen nur andere Maolot-Männer an. Wenn der, dem wir über den Weg liefen, die Absicht hatte, uns anzugreifen, dann hat er seine Meinung geändert, als er Mikey erblickte. Er ließ Mikey gehen und mich mit ihm.“
„Man kann nie vorhersagen, was ein Maolot tun wird,“ meinte Jarji. Der Klang ihrer Stimme veranlaßte Jef, zu ihr hinzusehen. Sie schritt mit einem so geistesabwesenden Ausdruck voran, wie er ihn bei ihr noch nie gesehen hatte.
Sie setzten ihren Marsch fort, ohne sich weiter zu unterhalten. Jefs Gedanken wanderten zu den Fragen zurück, die die Person Beau leCourboisiers in ihm hervorriefen. Armage hatte ihn den schlimmsten Gesetzlosen im Oberland genannt. Aber Jarji hatte erzählt, Beaus Antilopen seien fortgetrieben und vergiftet worden, damit irgendein Wisent-Rancher ein Recht darauf bekam, diesen Teil des Waldes zu roden und Weide daraus zu machen. Wenn das stimmte, mußte es zwischen den beiden Gruppen schon vor einiger Zeit zu offener Gewalttätigkeit gekommen sein. Und jeder, der in diesen Krieg hineingezogen wurde …
Andererseits war es schwer zu glauben, daß solche Dinge auf Everon passieren konnten. Diese Welt war erst vor so kurzer Zeit besiedelt worden, daß sie immer noch der Überwachung durch das Ökologische Korps unterstand. Eine oder zwei Personen mochten sich dazu haben hinreißen lassen, die Tiere eines anderen fortzutreiben, aber sie vergiften …? Es war ein richtiger Schock für Jef, als ihm einfiel, daß er selbst schon Antilopen gesehen hatte, die vermutlich vergiftet worden waren – Mikey hatte von ihnen gefressen. Aber woher sollten die Rancher der Ebene Gift in so großen Mengen bekommen, wie es notwendig war, um eine Wirkung auf Tiere zu haben, von denen jedes einzelne sich auf einem mehrere Quadratmeilen großen Gebiet bewegte, während die ganze Herde dünn verteilt war? Und wie stellten sie es an, soviel Gift zu streuen, ohne früher oder später von den Wild-Ranchern auf frischer Tat ertappt zu werden?
„Bei der nächsten vergifteten Antilope, die wir finden, sehe ich mir den Mageninhalt an“, kündigte Jef an. „Vielleicht kann ich herausfinden, was sie gefressen hat, als sie vergiftet wurde.“
Jarji antwortete nicht. Sie ging weiter und hatte immer noch diesen nachdenklichen Ausdruck auf ihrem Gesicht.
Später an diesem Tag rannte Mikey plötzlich von den beiden Menschen weg und kam nicht wieder. Jef verlangsamte seine Schritte und wartete darauf, daß der Maolot ihn einholte, aber Mikey blieb unsichtbar. Jef blieb stehen und machte kehrt.
„Ich gehe zurück und suche Mikey.“
„Er futtert bestimmt gerade wieder irgendwo“, meinte Jarji. Sie setzte sich mit dem Rücken zum Stamm eines Willybaums, lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen. „Wecke mich, wenn er bereit ist weiterzugehen. Sonst laß mich in Frieden. Ich möchte gern ein bißchen schlafen.“
Jef betrachtete ihr Gesicht und war überzeugt, daß es ihr weniger um ein Nickerchen als um eine Gelegenheit ging, in Ruhe über das nachzudenken, was ihr im Kopf herumspukte.
Aber für ihn war es gleichgültig, warum sie allein bleiben wollte. Er ging auf ihrer Spur zurück und hielt dabei nach Mikey Ausschau. Aber obwohl der Maolot sich, als Jef ihn fand, nur zwanzig Meter abseits der Route aufhielt, war bis dahin eine gute halbe Stunde vergangen. Mikey hatte sein Mahl gerade beendet.
Einigermaßen angewidert sah Jef sich an, was von dem Kadaver übriggeblieben war. „Na, wenigstens hast du für mich ein Objekt zum Sezieren gefunden“, sagte er zu Mikey.
Es war eine unangenehme Arbeit, da er nur das Messer in seinem Gürtel hatte und sich kein Wasser in der Nähe befand, in dem er sich hinterher waschen konnte. Als Notbehelf wischte Jef sich Hände und Arme mit Büscheln jungen Moosgrases ab, um sich zu säubern, so gut es eben ging. Aber er war imstande, den Mageninhalt der Antilope zu identifizieren. Er bestand aus den gleichen halbhohen Halmen wie jenen, in denen das Tier lag und die er benutzt hatte, um sich die Hände zu reinigen. Die goldenen Samenkörnchen an den Spitzen sahen ein bißchen verfärbt aus, aber sonst wirkten sie, als könnten sie sofort erfolgreich ausgesät werden.
„Da steckst du also“, erklang Jarjis Stimme trocken hinter ihm. „Was hast du denn getrieben?“
Jef fuhr fort, Halme und Samenkörner aus dem Magen in einen Plastikbeutel zu füllen, der vorher Fleisch enthalten hatte.
„Ich wollte nachprüfen, was die Antilopen gefressen haben, als sie starben“, erklärte er. „Wahrscheinlich wird dieser Beau leCourboisier niemanden in seinem Lager haben, der eine chemische Analyse durchführen kann, aber irgendwann werde ich schon wieder an einen Ort kommen, wo diese Grashalme auf Gift untersucht werden können.“
Der Beutel wurde ihm plötzlich aus der Hand gerissen.
„He!“ Jef tat einen Schritt auf Jarji zu, um sich den Beutel zurückzuholen – und blieb stehen, als er unterhalb seines Brustbeins einen schmerzhaften Stich spürte. Er sah nach unten und entdeckte, daß auf seiner Brust die Spitze eines Messers saß, dessen Heft sich in Jarjis Hand befand.
„Das geht nur uns von Everon etwas an!“ fauchte sie. Ihr Gesicht war vor Zorn weiß um die Augen. „Suche nach dem Grab deines Bruders, wenn du willst, aber mische dich nicht in unsere Angelegenheiten ein, Robini! Hast du gehört?“
Noch ehe er antworten konnte, streckte sie den Arm aus, mit dem sie den Plastikbeutel hielt, öffnete ihn mit einer Hand und streute die mühsam errungenen Halme und Samenkörner zwischen die Bodenvegetation, wo sie sofort verlorengingen.
„Versuch das nicht noch einmal!“ drohte sie. „Setz jetzt deinen Maolot in Marsch. Wir müssen weiter.“
„Nein“, widersprach Jef. Jetzt war sie endgültig zu weit gegangen, und er fühlte, wie die traurige Bitterkeit in ihm aufwallte. Aber seine Stimme klang ruhig wie gewöhnlich. „Du kannst tun, was dir beliebt, aber Mikey und ich werden von nun an unseren eigenen Weg gehen. Komm, Mikey.“
Er drehte sich um und ging davon. Eine Sekunde später stupste ihn Mikeys Nase um Entschuldigung bittend in die Seite und den Rücken. Jef ging ohne ein Wort weiter, Mikey neben sich, bis er wieder auf den alten Weg stieß. Dann schlug er die Richtung ein, der sie vorher gefolgt waren.
Vielleicht eine Viertelstunde lang merkte er nichts von seiner Umgebung, so völlig beherrschte ihn der Aufruhr in seinem Inneren. Aber nach und nach kühlte er sich genug ab, um zu merken, daß sie nun doch nicht allein gingen. Sieben oder zehn Meter weiter rechts konnte er gelegentlich durch Büsche und Baumstämme einen Blick auf Jarji Hillegas erhaschen, die leichtfüßig und lautlos parallel zu seinem Pfad lief.
Jef fluchte, aber sie hatte recht gehabt mit dem, was sie vorher gesagt hatte. Er konnte absolut nichts dagegen tun, wenn sie ihn begleiten wollte. Auf dieser Welt lagen alle Vorteile auf ihrer Seite.