Eine halbe Stunde später näherte man sich Armages Haus, das – aus der Luft gesehen – mit Fug und Recht ein Herrensitz genannt werden konnte, zumindest nach den Maßstäben einer Welt, die noch nicht einmal seit zwanzig Standardjahren von Menschen besiedelt war. Mehrere Morgen einer bodenbedeckenden einheimischen Schlingpflanze bildeten einen grünen Rasen rings um das Haus. Er schloß einen großen, stundenglasförmigen Swimmingpool und vereinzelte dickstämmige Variform-Eichen ein und erstreckte sich bis zu einem Windschutz aus kleineren Variform-Tannen und -Fichten an der Seite des Hauses, von der aus die nebelverhangenen Wände der Berge weit im Norden zu sehen waren.
Das Haus selbst hatte zwei Stockwerke und war offensichtlich aus den weißen, farbimprägnierten Blechen eines abgewrackten Raumfrachters und nicht aus einem an Ort und Stelle erhältlichen, billigeren Material wie Stein, Holz oder Beton hergestellt. Seine Architektur erinnerte vage an den amerikanischen Kolonialstil. Es hatte sogar so etwas wie eine Veranda an der Vorderseite und vier hohe, völlig unnötige Pfeiler.
Während des Fluges hierher hatten Jef und Mikey allein die hintere Sitzreihe belegt. Der Maolot zeigte weiter viel Interesse für seine Umgebung und kletterte aufgeregt über Jef hin und zurück, um die schwere Schnauze seines blinden Kopfes gegen die Kabinenfenster des Luftfahrzeugs zu pressen, erst auf dieser Seite, dann auf der anderen. Nach ihrer an ein Wunder grenzenden Errettung vor dem Gesetz von Everon hatte Jef es für das klügste gehalten, den Maolot nicht zu nahe an den Konnetabel herankommen zu lassen. Deshalb hatte er sich mit Mikey hinten in der Kabine aufgehalten und dem Konnetabel und Martin die vorderen Plätze hinter dem Piloten überlassen.
Zweifellos war das eine richtige Entscheidung gewesen. Aber sie hatte den Nachteil, daß Jef jetzt nicht in der Lage war, Martin zu fragen, warum er zum zweiten Mal zu ihrer Rettung eingegriffen hatte. Es war nicht unvorstellbar, daß einem John Smith in solchem Ausmaß an Gerechtigkeit und Fairneß gelegen war – es war nur ungewöhnlich und vielleicht ein bißchen zu edel, um glaubhaft zu sein.
Außerdem stand nicht nur diese Frage im Raum. Ebenso verwunderlich war es, daß Armage höchstpersönlich erschienen war, um die Passagiere mit den rot markierten Pässen in dem Augenblick zu begrüßen, als sie aus dem Raumschiff traten. Auch das war nicht rundheraus unvorstellbar, es war nur nicht das, was man normalerweise erwartet hätte.
Ein Planeten-Konnetabel war in der Regierung einer Welt wie Everon ein gewählter Funktionär sehr hohen Ranges. Er war viel mehr als ein lokaler Polizeichef, und sei es der Polizeichef der größten Stadt eines Planeten – was Everon-Stadt war. Es wäre damit zu rechnen gewesen, daß ein Mitglied seines Stabes die wichtigen Passagiere eines eintreffenden Linienschiffes abholte und sie dann, falls erforderlich, in das Büro des Konnetabels führte.
Wenn Armage erwartete hatte, ein John Smith werde auftauchen, wäre das ein guter Grund gewesen, selbst auf dem Landeplatz zu erscheinen. Aber es war schwer zu glauben, daß er es erwartet hatte – andernfalls hätte er sich seine Gleichgültigkeit beim Anblick von Jefs Papieren und einem vom Amt für xenologische Forschung finanzierten Experiment nicht so deutlich anmerken lassen. Wie alle internationalen Dienststellen der mächtigen Erde war das Amt für xenologische Forschung kein Ding, das ein frischbesiedelter Planet, der in seiner Existenz immer noch sehr von der Hilfe der Mutterwelt abhing, mit Gleichgültigkeit behandeln konnte.
Nein, Jef hätte schwören können, daß Armage ebenso überrascht wie Jef selbst gewesen war, als er erfuhr, Martin sei ein Planeten-Inspektor.
Warum war Armage dann zum Landefeld gekommen? Was hatte ihn bewogen, die Passagiere persönlich zu begrüßen? Und hatte sein Erscheinen etwas mit der willkürlichen und verheerenden Entscheidung zu tun, die er, bevor Martin eingriff und Widerspruch erhob, über Mikey gefällt hatte? Und wenn ja, was?
Mehr Zweifel, als Jef sich hätte träumen lassen, warfen jetzt dunkle Schatten über diesen warmen, in goldenes Licht getauchten Planeten. Jefs Plan hatte darin bestanden, in einem Hotel in Everon-Stadt zu übernachten und sich dort nur so lange aufzuhalten, bis er dafür Sorge getragen hatte, daß sein schweres Gepäck zu seinem Zielort in den Bergen geschickt wurde.
Am nächsten Morgen hatte er mit Mikey zu Fuß ins Oberland aufbrechen wollen, um den Maolot so behutsam wie möglich wieder an seine angestammte Umgebung zu gewöhnen. Statt dessen waren er und Mikey ins Rampenlicht einer VIP-Situation bugsiert worden, einer Situation, in der er sich daheim auf der Erde unbehaglich gefühlt hätte.
Gleichzeitig mußte er sich eingestehen, daß es ihm auch ein wenig Vergnügen bereitete, dort zu sein, wo er war. Die Einladung in das Haus des Planeten-Konnetabels gewährte ihm, nachdem er von den Everon-Leuten an Bord des Raumschiffes wie ein Paria und schlimmer behandelt worden war, eine gewisse Befriedigung. Zudem konnte er hoffen, dies signalisiere den Beginn eines freundlicheren Verhältnisses zwischen ihm und den Kolonisten. Ihn hatte bereits der Gedanke gequält, hier auf dieser fremden Welt könnten ihm seine Mitmenschen ihre Hilfe verweigern.
Aber dennoch war die ganze Kette von Ereignissen befremdend. Martin war die Ursache von alldem gewesen, was vom normalen Verlauf abwich – erst, als er in der Landefähre zu Jefs und Mikeys Verteidigung das Wort ergriffen hatte und dann mit seinem Einspruch gegenüber dem Konnetabel. Warum? Warum exponierte er sich auf diese Weise für einen völlig Fremden und ein einheimisches Tier, das von den hier lebenden Menschen für ein schädliches Raubtier gehalten wurde? Sicher, er war offensichtlich ein ganz und gar unorthodoxer Typ, aber das rief neue Fragen hervor. Wie war es ihm überhaupt gelungen, ein John Smith zu werden? Er hatte diese merkwürdige Eigenschaft, Sympathie zu erwecken, die Jef so eigentümlich berührt hatte. Und doch machte er bestenfalls einen zwielichtigen Eindruck. Natürlich hatte Martin – so kämpfte Jef gegen das an, was er für ein Vorurteil hielt – bisher nichts getan, was ein John Smith nicht hätte tun dürfen. Aber es war nicht zu leugnen, daß er der allgemeinen Vorstellung von einem Planeten-Inspektor des Ökologischen Korps nicht entsprach.
Jef beschwichtigte den immer noch aufgeregten Mikey und gelangte nach und nach zu der endgültigen Entscheidung, Martin sobald wie möglich festzunageln und einige Antworten aus ihm herauszuholen. Es machte Jef nervös, daß er nicht verstand, warum sich alles so abgespielt hatte. Er schämte sich dieser Nervosität ein wenig – aber sie blieb ihm. Immer, wenn Jef an Will dachte, rebellierte er innerlich dagegen, daß sein Bruder für eine Position ungeeignet gewesen sein sollte, für die man einen Martin Curragh angenommen hatte. Will hatte in jeder Beziehung der allgemeinen Vorstellung von einem John Smith entsprochen, bis auf eine Kleinigkeit – seinen Robini-Jähzorn. Aber das hätte nicht viel ausmachen dürfen, denn Jef hatte nie erlebt, daß dieses Temperament bei seinem älteren Bruder aus selbstsüchtigen oder kleinlichen Gründen zum Durchbruch gekommen war. Wohingegen Martin in einem halben Dutzend Punkten von dem Bild eines John Smith abwich …
Aber das Luftfahrzeug war jetzt gelandet. Armage führte sie über das dichte Grün des Schlinggewächs-Rasens, und ein großer, kahlköpfiger Mann in den Fünfzigern riß die Eingangstür für sie auf, noch bevor sie sie erreicht hatten.
„Tibur“, sagte Armage zu dem Mann, „ich habe Gäste mitgebracht. Dies ist John Smith, den uns das Ökologische Korps schickt. Und dies ist ein Forscher von der Erde, ein Herr Jef Robini. Meine Herren, mein Hausverwalter Aldo Tibur.“
„Guten Tag, meine Herren“, grüßte Tibur. Seine Stimme klang kratzig, als seien die Stimmbänder zerrissen oder abgenutzt. Vom Nacken aufwärts sah jeder Zentimeter seines Kopfes wie rasiert aus. Auch seine Augenbrauen bestanden aus nichts weiter als ein paar beinahe unsichtbaren blaßblonden Haaren. Augen und Mund waren von einem Netzwerk haarfeiner Linien umgeben, die in dem hellen, gelben Sonnenlicht scharf hervortraten.
„John Smith wird die Gäste-Suite beziehen. Geben Sie Herrn Robini ein Zimmer in der Nähe. Keine Angst, Tibur.“ Armage verzog sein Gesicht zu einem kleinen Lächeln, denn Tibur starrte auf Mikey. „Herr Robini hat den Maolot vollständig unter Kontrolle. Nicht wahr, Herr Robini?“
„Das ist richtig“, antwortete Jef.
„Ich sehe Sie beide später. John Smith …“ – Armage wandte sich an Martin – „… wollen Sie mich entschuldigen? Da sind noch diese anderen Passagiere mit den roten Paß-Aufklebern, um die ich mich kümmern muß. Ich werde mich Ihnen heute abend zum Diner wieder anschließen. Sie werden doch meine Gäste zum Diner hier in meinem Haus sein?“
„Warum eigentlich nicht?“ meinte Martin.
„Es wird mir ein großes Vergnügen sein – ich rufe Sie wegen der Gästeliste und der Einzelheiten noch an, Tibur. Bis dann haben Sie beide und Tibur das Haus für sich, meine Herren. Ich lebe allein. Wir sehen uns später wieder.“
Armage entfernte sich. Tibur machte kehrt und führte die Gäste eine Gleitrampe hinauf ins Obergeschoß, wo er Martin eine aus drei Räumen bestehende Suite zeigte, die einen ganzen Flügel einnahm.
Martin trat ohne ein Wort ein und schloß die Tür hinter sich. Tibur drehte sich um und brachte Jef und Mikey zu einem anderen Schlafzimmer, das zwei Türen den Gang hinunter von der Suite entfernt lag.
„Ich werde dafür sorgen, daß Ihr Gepäck vom Raumhafen hergeschickt wird.“ Damit ging Tibur davon.
Jef führte Mikey an der Leine im Zimmer umher und blieb von Zeit zu Zeit stehen, damit der Maolot sich an allen Einrichtungsgegenständen reiben und sie beschnüffeln konnte. Maolots hatten in ihrer blinden Phase ein unglaubliches räumliches Gedächtnis. Nach einem Rundgang im Zimmer kannte Mikey die Abmessungen und den Platz aller Gegenstände. Jef löste die Leine, und Mikey spazierte zum Mittelpunkt des teppichbelegten Raums vor dem Fenster und rollte sich auf dem sonnenbeschienenen Fleck so selbstverständlich zusammen, als könne er alles sehen.
„Bleib da. Warte auf mich“, sagte Jef zu dem Maolot. Er verließ das Schlafzimmer und ließ die Tür hinter sich zugleiten. Draußen blieb er stehen und lauschte auf das Klick des magnetischen Schlosses, das jetzt auf seinen Daumendruck abgestimmt war. Dann trat er an die Tür der Suite, in der Martin verschwunden war, und berührte den Anmeldeknopf über dem Türknauf.
„Jef Robini“, sagte er.
Die Tür glitt beinahe sofort auf. Martin stand auf der anderen Seite des dahinterliegenden Raums.
„Ich will nicht sagen, daß ich Sie nicht erwartet hätte“, bemerkte Martin. „Kommen Sie herein. Setzen Sie sich.“
Martin berührte einen Knopf auf einer Kontrollplatte, der die Tür hinter Jef schloß, und nahm gegenüber von Jef, der sich bereits gesetzt hatte, in einem knallig rot gepolsterten Sessel ohne Armlehnen Platz. Das Wohnzimmer der Suite war beträchtlich größer als Jefs ganzes Schlafzimmer und war von jemandem eingerichtet und dekoriert worden, der kein Auge für Farbe oder Stil hatte.
„Ich könnte mir vorstellen …“ – Martin sah seinen Besucher mit der Andeutung eines schmallippigen Lächelns an – „… daß Sie etwas auf dem Herzen haben, über das Sie reden möchten.“
„So kann man es auch ausdrücken“, antwortete Jef. Von neuem stählte er sich gegen die Neigung, Martin gern zu haben, und der Kampf machte seine Stimme dünn. „Ich nehme an, Sie wußten bis zu dem Augenblick in der Landefähre nichts von meiner Existenz?“
„Meinen Sie?“
„Ich wüßte nicht, wie Sie von mir erfahren haben sollten“, erklärte Jef. „Andererseits haben Sie bei dem Konnetabel den Eindruck erweckt, daß wir schon eine Menge miteinander zu tun gehabt haben, zumindest auf der Reise von der Erde her.“
„Nun seien Sie nicht so schnell bereit, an mir zu zweifeln“, antwortete Martin. „Es könnte doch sein, daß sich in meinen Papieren ein Hinweis auf Sie und Ihren Mikey befindet.“
Jef maß ihn mit einem durchdringenden Blick.
„Was versuchen Sie mir zu erzählen?“ fragte er schließlich. „Mein Name ist nicht in Ihren Papieren.“
„Nein?“
„Wollen Sie mir bitte eine vernünftige Antwort geben?“ Wieder stieg in Jef die wohlbekannte Bitterkeit auf. „Wird mein Name erwähnt, oder wird er es nicht? Und sagen Sie bloß nicht, Sie wüßten es nicht. Sie müssen es wissen.“
„Muß ich?“ Martins schwarze Augenbrauen hoben sich. „Vielbeschäftigt, wie ich bin, kann ich mich um den Papierkram nicht immer persönlich kümmern. Und die Angestellten im Hauptquartier des Korps machen hin und wieder einen Fehler.“
„Dann heißt das, mein Name wird nicht erwähnt?“
„Habe ich das gesagt?“
An dieser Stelle gab Jef auf.
„Na gut. Vielleicht können Sie mir dann verraten, warum Sie uns gegenüber so hilfsbereit sind. Ob Sie nun wußten, wer ich bin, oder nicht, Sie haben sich für uns beide einige Mühe gemacht. Das weiß ich zu schätzen, aber ich möchte wissen, warum Sie es getan haben. Wir kennen uns nicht, und ich habe von Ihnen keine Hilfe zu beanspruchen. Wollen Sie mir in diesem Punkt wieder ausweichen?“
„O nein.“ Martin wies mit dem Kopf auf die Wand, die das Wohnzimmer seiner Suite von Jefs Raum trennte. „Sie haben da einen wertvollen Maolot. Es ist der einzige, der jemals außerhalb seiner eigenen Welt aufgezogen worden ist.“
„Darüber wissen Sie Bescheid?“
„Kaum nötig, darüber etwas zu wissen. Das Amt würde Ihnen wohl keine Mittel zur Verfügung stellen, um ihn hierherzubringen, wenn Ihre Situation und die Ihres Tieres nicht einzigartig wären. Nun, man könnte sagen, daß auch ich einzigartig bin – hier und jetzt, zumindest auf dieser Welt, bin ich der einzige John Smith, den es gibt. Wenn wir nun beide einzigartig sind, könnte sich eine Zusammenarbeit doch als vorteilhaft erweisen.“
Er hielt inne und sah Jef an.
„Sprechen Sie weiter“, forderte Jef ihn auf.
„Also gut. Wie hätte ich nun mit Ihrem Maolot zusammenarbeiten können, wenn er und Sie nicht beide frei wären und unbehindert an das Geschäft gehen könnten, zu dem Sie hergekommen waren?
Deshalb schritt ich selbstverständlich ein, als die anderen Passagiere sich zu einer Bedrohung für ihn auszuwachsen schienen, und ich tat es wiederum, als Armage eine etwas drastische Maßnahme ergreifen wollte.“
„Also ist es Mikey, den Sie wollen. Wozu wollen Sie ihn? In welcher Art könnte er Ihnen von Nutzen sein?“
„Das läßt sich im Augenblick noch nicht bestimmen“, meinte Martin. „Ich halte nur sozusagen aufgrund meiner gemachten Erfahrungen bei der Arbeit auf Welten wie dieser ein Auge auf die Zukunft gerichtet. Vielleicht wissen Sie nicht, daß jemand wie ich die unabdingbare Verpflichtung hat, bei neubesiedelten Planeten von Zeit zu Zeit zu überprüfen, ob die Menschen die Gaben der Natur in rechter Weise verwenden und sie nicht vergeuden. An bewohnbare, erdähnliche Planeten innerhalb einer vernünftigen Entfernung von der alten Sonne kommt man nicht so leicht, wie heutzutage jedermann wissen sollte. Wenn ich feststellen sollte, daß hier irgend etwas nicht stimmt, könnte ich gezwungen sein, die Quarantäne zu empfehlen. Und dann wäre Everon fünfzig oder hundert Jahre lang von allem interstellaren Verkehr abgeschnitten.“
„Ich weiß das alles“, erklärte Jef. „Aber ich verstehe nicht, wie Mikey Ihnen bei Ihren Inspektionen – worin, wie ich vermute, Ihre Tätigkeit besteht – helfen kann.“
Martin streckte seine Beine aus und blickte gedankenverloren auf die weißgetünchte Decke über ihnen. „Nun ja, Inspektionen machen tatsächlich einen großen Teil der Arbeit eines John Smith aus. Aber nur dann, wenn die in Rede stehende Welt sich im großen und ganzen an die Vorschriften und Absichten des Korps hält, wenn sie sich ehrlich bemüht, das Gesetz zu beachten. Dann gibt es dort nicht mehr zu finden als vielleicht ein paar unbeabsichtigte Verstöße gegen die gute ökologische Praxis. Aber eine ganz andere Geschichte ist es, wenn sich auf dieser Welt absichtlich Gesetzesbrecher befinden, wenn es sich vielleicht um eine Verschwörung handelt, die Welt zum Zwecke persönlicher Bereicherung zu mißbrauchen. Das ist eine Situation, in der, wie man sagen könnte, die Raubbau-Mentalität außer Kontrolle geraten ist. Es sind dann einige, die sich skrupellos nehmen, was sie können, und ihren Profit auf eine andere neue Welt davontragen.“
Jef blickte Martin forschend an. Es war unmöglich, sicher zu sein, ob der andere Mann im Ernst sprach oder nicht. Aber er hatte seine lange Rede ohne ein Lächeln vorgetragen. Wenn es nicht so schwer gewesen wäre, sich Martin als einen John Smith vorzustellen, dann wäre es vielleicht leichter gewesen, das, was er eben ausgeführt hatte, ohne weiteres zu glauben. „Vermuten Sie, daß es auf Everon ökologische Verbrecher gibt?“ fragte Jef.
„Wer weiß?“ Martin zuckte die Schultern. „Aber kann ich mich darauf verlassen, daß es keine gibt?“
Jef spürte die Bitterkeit in sich wie einen schweren Druck.
„Was für eine Antwort soll denn das sein?“ wehrte er sich. „Ich habe Ihnen eine vernünftige Frage gestellt. Wenn Sie nicht glauben, daß hier irgendein ökologisches Verbrechen vorliegt, was wollen Sie dann mit Mikey?“
„Einem vorsichtigen Mann kann doch sicher gestattet werden, an einem trüben Tag einen Regenschirm mitzunehmen, ohne daß von ihm verlangt wird, ein Gewitter vorherzusagen?“ Martin hob seine Augenbrauen. „Mir genügt es, daß Ihr Mikey mir im Falle einer solchen Eventualität von Nutzen sein könnte. Und sollte es Ihnen nicht genügen, daß mein Eingreifen ihn davor bewahrt hat, beschlagnahmt und getötet zu werden?“
Jef fühlte sich schuldig.
„Natürlich“, versicherte er. „Ich habe doch gesagt, daß ich Ihnen dafür dankbar bin.“
„Dann denken Sie vielleicht einmal an das alte Sprichwort, daß man einem geschenkten Gaul nicht ins Maul sieht“, riet Martin. „Nun, wo ich von Ihnen als einem Menschen gesprochen habe, an dessen Wohlergehen ich interessiert bin, werden die hiesigen Behörden bestimmt Kenntnis davon nehmen, wohin Sie gehen. Sollte ich Sie und Ihren Maolot brauchen, würde man Sie für mich ohne Verzögerung finden. Das ist alles. Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß Sie trotz Ihrer guten Manieren stachliger sind als irgendein Mensch, den ich in den letzten Jahren kennengelernt habe.“
Darin lag wahrscheinlich mehr als nur ein bißchen Wahrheit, gestand Jef sich selber ein.
„Ich glaube, Sie haben recht“, erwiderte er.
Eine kurze Pause entstand.
„Wenn ich nun schon einmal persönliche Bemerkungen mache“, fuhr Martin dann fort, „verzeihen Sie mir vielleicht auch noch etwas anderes. Zweifellos haben Sie Ihre eigenen guten Gründe, warum Sie das Grab Ihres Bruders besuchen wollen. Aber so etwas erweckt bei den Leuten auf einem neuen Planeten zuweilen die Vorstellung, daß Sie in dieser oder jener Hinsicht Ärger machen wollen. Wenn Ihr Bruder beim Ökologischen Korps war, wäre es vielleicht das beste, Sie überließen es dem Korps, sich für Sie um diese Sache zu kümmern …“
„Ich glaube nicht, daß das Korps sich damit große Mühe geben würde“, behauptete Jef.
Martins graue Augen musterten ihn.
„Wie kommen Sie darauf?“
„Ich komme darauf“, erläuterte Jef, „weil ich nicht glaube, daß das Ökologische Korps einen Pfifferling um Will gibt – oder je gegeben hat. Es sind Gerüchte bis zu uns gelangt, daß Will nicht in Ausübung seiner Pflicht gestorben ist, sondern daß er umkam, nachdem er desertiert war – ,planetenflüchtig’ geworden war. Für meine Mutter und meinen Vater war das in den Monaten nach der offiziellen Nachricht von Wills Tod eine schwere Belastung. Und kein einziger von Ihrem Hauptquartier hat je den Mund aufgemacht, um diesen Gerüchten zu widersprechen, oder hat meine Eltern aufgesucht, um ihnen zu sagen, daß man immer noch an Wills Loyalität glaube.“
Martin beobachtete ihn immer noch genau. „Aber man hat bestätigt, daß ihn der Tod während der Ausübung seines Dienstes ereilte.“
„Nicht einmal das. Sie teilten nichts anderes mit, als daß er zur Zeit seines Todes in ihren Unterlagen als im Dienst befindlich geführt worden sei. Alle Einzelheiten wurden wegen ihrer Sicherheitsbestimmungen zurückgehalten – wegen derselben Sicherheitsbestimmungen, die Leute wie Sie davor bewahren, identifiziert zu werden.“
„Dafür gibt es Gründe“, entgegnete Martin friedlich.
„Vielleicht. Aber ich kann mir nicht denken, daß sie auf den Tod meines Bruders zutreffen. Man hätte uns zumindest mitteilen können, wo er begraben liegt.“ Jef erwiderte fest den Blick des anderen Mannes. „Ich werde Everon nicht verlassen, bevor ich das herausgefunden habe und außerdem genug über die letzten Tage seines Lebens weiß, so daß ich jedes Gerücht, er sei planetenflüchtig geworden, widerlegen kann.“
„Es ist bekannt, daß so etwas bei auf der Erde geborenen Personen hin und wieder schon vorgekommen ist“, warf Martin ein.
„Nicht bei Will.“
Jefs innerste Gefühle klangen bei diesen drei Worten mit. Seine Stimme hörte sich in seinen eigenen Ohren wild an.
„Ich verstehe“, nahm Martin mit seiner sanften Stimme nach einem langen Augenblick des Schweigens das Gespräch wieder auf. „Vermutlich hat es dann keinen Zweck, Sie zu warnen, daß Ihre Animosität gegen das Korps Sie auf einer der neuen Welten, von wo aus es ein weiter Weg bis zur Erde ist, in ernste Schwierigkeiten bringen könnte. – Nein, ich lese es Ihnen am Gesicht ab, daß es sinnlos wäre.“
Jef erhob sich schnell.
„Soll das eine Art von Drohung des Korps sein, um mich unter Kontrolle zu halten?“ fragte er.
„Durchaus nicht“, antwortete Martin. Seine Stimme war ruhig und gleichmütig. „Es ist eine durch Tatsachen gestützte Warnung. Sie sind ohne einen Zweifel in Ihrem Herzen hierhergekommen, daß Sie genau das finden werden, was Sie suchen. Aber bei Welten wie auch bei Menschen stellt sich manchmal heraus, daß sie etwas anderes sind, als man gemeint hat. Sie sind wild entschlossen, Ihres Bruders Grab und Beweise zu finden, daß er frei von jedem Fehl ist. Aber was ist, wenn es auf Everon wirklich eine kriminelle Verschwörung, den Planeten auszuplündern, gibt und gegeben hat?“
„Wenn es sie zu Wills Lebzeiten gegeben hat, hätte er sie aufgedeckt und Meldung darüber erstattet.“
Martin sah Jef gerade in die Augen.
„Es sei denn, er habe dazugehört.“
Jef starrte den anderen Mann an.
„Unmöglich. Sie haben ihn nicht gekannt.“
„Haben Sie ihn gekannt?“ erkundigte sich Martin. „Sie sprechen den unverfälschten Akzent der Erdbewohner. Wenn Sie auch nur sechs Monate Ihres Lebens auf irgendeiner anderen Welt verbracht hätten, würde ich deren Einfluß in Ihrer Sprache entdecken. Aber da ist nichts. Und das bedeutet, Sie haben Ihr ganzes Leben auf der Heimatwelt verbracht, und es ist beinahe sicher, daß Ihr Bruder die Erde vor weit längerer Zeit verlassen hat als vor den acht Jahren, die seit seinem Tod vergangen sind. Vielleicht ist er sechs oder mehr Jahre vorher gegangen? Denn ohne eine solche Anzahl von Dienstjahren als Ökologe des Korps hätte er den Posten hier nicht bekommen. Sie werden ihn nur hin und wieder gesehen haben, wenn er auf Urlaub zu Hause war – wenn er jemals auf Urlaub nach Hause gekommen ist. Wie gut haben Sie ihn gekannt? Woher wollen Sie wissen, auf welche wilden Gedanken er unter Bedingungen gekommen sein mag, die Sie nicht kennen und die Sie sich nicht einmal auszumalen vermögen?“
Jef schwieg. Es stimmte. Irgendein wahnsinniger Impuls konnte Will überwältigt und ihn veranlaßt haben, etwas zu tun, das andernfalls undenkbar gewesen wäre. In Jef stieg ungerufen die Erinnerung an die Umstände hoch, unter denen Will vom Ökologischen Korps zur Ausbildung als ein John Smith zurückgewiesen worden war. Er hatte sich immer geweigert, nähere Einzelheiten über die Ereignisse zu erzählen, die zu der Ablehnung geführt hatten. Aber aus dem wenigen, was er sagte, hatten sie das Bild eines Will gewonnen, der die Vorbereitungskurse ehrenvoll absolviert und kurz davorgestanden hatte, die Abschlußprüfung zu machen und hinaus in den Raum zu ziehen, um mit der praktischen Ausbildung zu beginnen. Dann mußte irgend etwas geschehen sein.
Alles, was die Familie wußte, war, daß ein Zufall einen seiner Jähzornanfälle ausgelöst hatte. Er war „… aus gegebener Veranlassung“ entlassen worden. Danach war er nach Hause zurückgekehrt, aber nur zwei Monate geblieben, bis er einen Arbeitsvertrag für eine der neuen Welten unterschrieb, auf denen die Terraformung noch im Gang war. Einmal dort, hatte er seinen Vertrag erfüllt, eine Beschäftigung an Ort und Stelle gefunden und es schließlich geschafft – es mangelte an ausgebildeten Leuten von der Erde –, daß die „gegebene Veranlassung“ zur Seite geschoben wurde. So konnte er schließlich doch einen Posten beim Ökokorps bekommen, als gewöhnlicher Ökologe. In den folgenden sieben Jahren hatte er sich bis zur Position eines Planeten-Ökologen hochgearbeitet.
„Ich kannte ihn“, sagte Jef schließlich zu Martin. „Er wäre lieber gestorben, als an solchen Dingen teilzunehmen, die Sie andeuten.“
„Vielleicht“, meinte Martin. „Natürlich weiß ich gar nichts über ihn. Aber Tatsache ist, daß jeder unter außergewöhnlichen Umständen Dinge tun kann, deren andere Leute ihn oder Sie niemals für fähig gehalten hätten. Vielleicht wäre es gut, wenn Sie sich das vor Augen hielten.“
Jef stand auf und ging an die Tür. Dort angelangt, ließ ihn die ihm auf der Erde eingebleute Höflichkeit jedoch innehalten und sich umdrehen.
„Ich danke Ihnen jedenfalls für Ihre Hilfe – und Ihre guten Absichten.“ Er zögerte. „Nichts für ungut, aber Sie sind nicht so, wie sich die meisten Leute einen John Smith vorstellen.“
Martins Gesicht wurde länger, und sein Lächeln war ein bißchen mühsam.
„Es gehört eine große Menge mehr dazu, ein John Smith zu sein, als die meisten Leute wissen. Nun dann, bis zum Diner heute abend.“
„Bis zum Diner.“ Jef ging.
Er war zwei Schritte von der Tür seines eigenen Zimmers entfernt, als ihm bewußt wurde, daß die unterschiedlichsten Empfindungen in ihm wie in einem Dampfkessel brodelten. Wenn er in diesem Zustand zurückkehrte, würde Mikey es sofort merken und darauf reagieren. Der Maolot durfte aber nicht aufgeregt werden, wenn Jef ihn während des Diners für mehrere Stunden allein lassen wollte. Jef mußte sich unbedingt erst wieder beruhigen, bevor er zu Mikey ging.
Er kehrte um, nahm die Gleitrampe zur Eingangstür hinunter, verließ das Haus und ging auf der schmalen Veranda, die sich an der Vorderfront entlangzog, auf und ab. Die hohen, unnötigen Pfeiler warfen Schattenbalken über seinen Weg. Er war zutiefst aufgewühlt und wußte nicht einmal genau, warum – es sei denn, Wills Geist, heraufbeschworen durch sein Gespräch mit Martin, hatte ihn in Unruhe gestürzt.
Der Nachmittag war voller Sonnenschein mit warmer, stiller Luft gewesen. Plötzlich nieste Jef, wischte sich perplex die Nase und nieste von neuem. Er sah sich nach einer Ursache um, aber er entdeckte nichts anderes als eine Reihe dunkler Wolken, die sich am westlichen Horizont zusammenballten.
Doch noch während er hinsah, breitete sich die dunkle Wolkenlinie schnell nach vorn aus. Offenbar wurden die Wolken beinahe genau in seine Richtung getrieben. Jef vergaß das Umherlaufen, stand still und beobachtete sie. Ein Schwall kühler Luft, die vor der Wolkenbank herlief, klärte seinen Verstand von den brodelnden Emotionen, die ihn gestört hatten. Die Wolken wuchsen weiter. Ihre Spitze formte wechselnde Gestalten, die in Jefs Phantasie zu Türmen und Bergtälern, Pferdeköpfen und Krokodilen wurden. Der Rand der Wolkenbank wuchs über die Sonne hinaus, und Jef sah ihren Schatten plötzlich über den Rasen vor Armages Haus eilen. Er wurde in weiches Zwielicht eingehüllt.
Auf den Flügeln des sich zusammenbrauenden Unwetters schien eine melancholische Stimmung herangetragen zu werden. Es war keine angenehme Stimmung. Jef fühlte sich miteinbezogen in das Zusammenspiel des Landes und des Wetters, in ein sehnsüchtiges und trauriges Geschehen, das jedoch auf seine eigene Weise schön war. Die Wolken hatten inzwischen den ganzen Himmel überzogen, und die ersten Regentropfen fielen herab. Aber Jef zog sich nicht ins Haus unter den unzulänglichen Schutz des schmalen Verandadaches zurück. Statt dessen blieb er stehen und genoß den Wind und die Berührung der Regentropfen, auch als der Wind heftiger wurde.
Vom Westen her wurde das Unwetter stärker. Der Regen verwandelte sich plötzlich in einen Wolkenbruch, und einen Augenblick später klebte Jefs durchweichtes Hemd an ihm wie eine zweite Haut. Donner krachte in den Wolken, und dann war der Regen kein Regen mehr, sondern Hagel, fiel in perligen Kugeln herab, prallte von dem Rasen ab und blieb glitzernd in dem gedämpften Licht liegen.
Widerstrebend zog Jef sich jetzt doch aus dem direkten Beschuß der Hagelkörner unter das Verandadach zurück. Das Heulen des Windes um das Haus, das Prasseln des Hagels auf den Stufen, dem Fußboden und dem Dach der Veranda verschmolzen so miteinander, daß Jef sich beinahe vorstellen konnte, es sei Musik – eine Musik, die von Hoffnung und von Tragödien sang, von Schönheit und von Kummer.
Es lag Kampf im Gesang des Sturms, aber es war ein guter Kampf, ein natürlicher Kampf, wie der Kampf eines Kindes und seiner Mutter bei der Geburt. Die Windböen waren jetzt stark, und die Hagelkörner waren groß. Sie hämmerten auf den Boden. Der Wind riß an den Pseudosäulen des Hauses, und die Wolken strömten oben unter Donnergrollen vorbei. Minutenlang beobachtete Jef das Gewitter, und allmählich wurde das Lied des Sturms leiser, der Hagel machte schwer herabfallendem Regen Platz. Die Bewölkung verzog sich, und der Wind schwächte sich immer mehr ab, bis er kaum noch zu bemerken war. Nun war das Hauptthema des Liedes das stetige Trommeln des Regens auf dem Verandadach.
Der Regen fiel langsamer. Die Wolkendecke hob sich. Jef sah, wie weit entfernt am westlichen Horizont die Wolken dünner wurden und zerrissen. Ein Stückchen blauer Himmel schimmerte hindurch. Es wurde größer und näherte sich. Der Regen ließ nach und hörte auf, und fünfzehn Minuten später gaben die fliehenden Wolken die Sonne wieder frei, so daß ihr goldenes Licht sich von neuem auf Rasen und Bäume ergoß, die nun vor Nässe schimmerten. Verstreut glitzerten hier und da die Perlen einiger nicht geschmolzener Hagelkörner.
Jef holte tief Atem. Einen Augenblick lang war er eins gewesen mit dem Sturm, ein Teil seiner Gewalt, ein Teil dieses Planeten. Er fühlte sich gereinigt, und er war jetzt im Frieden mit sich selbst und der Situation, in der er sich befand. Er drehte sich um und kehrte nach oben in sein Zimmer zurück.