Kapitel 20

Während der zwei Tage langen Fahrt plagten mich ständig Ängste: dass ich angehalten werden und mir keiner glauben könnte, dass ich das Auto benutzen durfte; dass Frannie ihre Meinung ändern, zur Polizei gehen und das Auto als gestohlen melden würde; dass ich einen Unfall bauen könnte und Quinns Schwester die Kosten erstatten müsste. Frannie hatte einen alten roten Mustang, und eigentlich machte es richtig Spaß, ihn zu fahren. Keiner hielt mich an. Das Wetter war auf dem ganzen Weg zurück nach Louisiana gut. Ich hatte gehofft, einen Blick auf ein Stück Amerika werfen zu können, doch die Autobahn entlang sah es überall gleich aus. Bei jeder kleinen Stadt, durch die ich fuhr, stellte ich mir vor, dass es auch dort ein Merlotte's gab und vielleicht sogar noch eine Sookie.

Ich schlief ziemlich schlecht auf meiner Reise, denn ich träumte von dem wankenden Hotelboden und von jenem schrecklichen Augenblick, in dem Eric und ich durch das Loch in der Glasverkleidung hinabgesaust waren. Ich sah Pam brennen. Und andere Dinge, Dinge, die ich getan und gesehen hatte auf unserer stundenlangen Suche nach Menschen in den Schuttbergen.

Als ich nach einer ganzen Woche Abwesenheit schließlich in meine Auffahrt einbog, begann mein Herz zu schlagen, als würde das Haus auf mich warten. Amelia saß mit einem hellblauen Band in der Hand vor dem Haus auf der Veranda, und Bob hockte neben ihr und schlug mit einer schwarzen Pfote nach dem herab baumelnden Band. Sie sah auf, als sie das Auto hörte, und als sie mich hinter dem Steuer erkannte, war sie mit einem Satz auf den Beinen. Ich fuhr nicht hinters Haus, sondern hielt einfach an und sprang aus dem Auto. Amelias Arme schlossen sich um mich wie Weinranken, und sie rief: »Du bist wieder da! Oh, heilige Mutter Gottes, du bist wieder da!«

Wir tanzten herum, hüpften auf und ab wie die Teenager und jubelten vor Freude.

»In der Zeitung stand, du gehörst zu den Überlebenden«, erzählte Amelia. »Aber am Tag danach konnte dich keiner finden. Bis zu deinem Anruf wusste ich nicht mal, ob du wirklich am Leben bist.«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte ich. »Eine sehr, sehr lange Geschichte.«

»Willst du darüber sprechen?«

»Vielleicht in ein paar Tagen«, sagte ich.

»Soll ich irgendwas für dich reintragen?«

»Es ist nichts mehr da. All meine Sachen sind in Flammen aufgegangen, als das Hotel endgültig eingestürzt ist.«

»Ach du liebe Güte! Deine neuen Kleider!«

»Na, wenigstens habe ich Führerschein, Kreditkarte und Handy noch, wenn auch der Akku leer ist und ich kein Aufladegerät mehr besitze.«

»Und ein neues Auto?« Sie sah zu dem Mustang hinüber.

»Geliehen.«

»Ich glaube, ich habe keinen einzigen Freund, der mir ein ganzes Auto leihen würde.«

»Ein halbes vielleicht?«, fragte ich, und sie lachte.

»Übrigens, rate mal, was passiert ist?«, fragte Amelia. »Deine Freunde haben geheiratet.«

Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Welche Freunde?« Sie konnte doch nicht die Bellefleur-Doppelhochzeit meinen. Hatten die etwa schon wieder den Termin verschoben?

»Oh, ich hätte es nicht verraten sollen«, sagte Amelia schuldbewusst. »Ha, wenn man vom Teufel spricht!« In diesem Augenblick kam ein anderes Auto heran und parkte direkt neben dem roten Mustang.

Tara kletterte heraus. »Ich hab dich an der Boutique vorbeifahren sehen«, rief sie. »Fast hätte ich dich in dem neuen Auto nicht erkannt.«

»Das ist nur geliehen, von einer Freundin«, sagte ich und blickte sie fragend an.

»Hast du's ihr etwa erzählt, Amelia Broadway?« Tara war regelrecht entrüstet.

»Nein«, erwiderte Amelia. »Ich wollte es, habe mich aber noch rechtzeitig zurückgehalten.«

»Mir was erzählt?«

»Sookie, es klingt vielleicht ein bisschen verrückt«, begann Tara, und ich spürte geradezu, wie sehr sich meine Stirn runzelte. »Während du weg warst, hat sich alles auf seltsame Weise gefügt. Wie etwas, das schon lange hätte passieren sollen, verstehst du?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich verstand gar nichts.

»JB und ich haben geheiratet!«, rief Tara, und ihr Gesicht spiegelte so vieles gleichzeitig: Angst, Hoffnung, Schuld, Verwunderung.

Ich wiederholte mir diesen unglaublichen Satz ein paarmal in Gedanken, bis ich endlich meinte, seine Bedeutung verstanden zu haben. »Du und JB? Mann und Frau?«

»Ich weiß, ich weiß, es ist ein bisschen seltsam...«

»Es ist perfekt«, sagte ich mit allem Ernst, den ich zusammenkratzen konnte. Ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte, doch meine Freundin hatte es verdient, dass ich glücklich und fröhlich wirkte. In diesem Moment war dies das wirkliche Leben, und Vampire, Fangzähne und Blut in künstlichem Lampenlicht erschienen wie ein Traum oder wie eine Szene aus einem Film, der mir nicht besonders gut gefallen hatte. »Ich freu mich so für euch! Was für ein Hochzeitsgeschenk möchtet ihr von mir haben?«

»Nur deinen Segen, wir haben die Hochzeitsanzeige erst gestern in die Zeitung gesetzt«, plapperte Tara glücklich drauflos. »Und seitdem steht das Telefon gar nicht mehr still. Die Leute sind ja alle so nett!«

Tara glaubte wirklich, dass sie all ihre schlimmen Erinnerungen in eine Ecke gefegt hatte. Sie war in der Stimmung, aller Welt nur Wohlwollen zu unterstellen.

Genau das würde ich auch versuchen. Ich würde versuchen, die Erinnerung an jenen Augenblick zu unterdrücken, in dem ich mich umdrehte und sah, wie Quinn sich mit den Armen vorwärts zog, hin zu Andre, der bewusstlos und verletzt dalag. Quinn hatte sich auf einen Ellbogen gestützt, mit der freien Hand nach dem Holzsplitter gegriffen, der neben Andres Bein lag, und ihn ihm in die Brust gestoßen. Und damit war, einfach so, Andres langes Leben zu Ende.

Er hatte es für mich getan.

Wie konnte ich danach noch dieselbe sein, fragte ich mich. Wie konnte ich mich über Taras Hochzeit freuen und mich gleichzeitig an etwas so Entsetzliches erinnern - nicht mit Schrecken, sondern mit einer grausamen, wilden Freude? Ich hatte mir Andres Tod gewünscht, genauso sehr, wie ich gewünscht hatte, Tara möge jemanden finden, der nie wegen ihrer schrecklichen Vergangenheit auf sie herabsehen würde, sondern sich um sie kümmern und sie lieben. Und das würde JB tun. Er mochte nicht gerade ein intelligenter Gesprächspartner sein, aber damit hatte Tara anscheinend ihren Frieden geschlossen.

Theoretisch war ich also glücklich und voller Hoffnung für meine beiden Freunde. Aber ich empfand nichts. Ich hatte schreckliche Dinge gesehen und schreckliche Dinge empfunden. Und jetzt fühlte ich mich, als wollten zwei verschiedene Menschen in ein und demselben Körper existieren.

Wenn ich mich eine Weile von Vampiren fernhalte, sagte ich mir selbst, während Tara immer weiter redete und Amelia mir auf die Schulter klopfte, wenn ich jeden Abend bete und mich mit Menschen treffe statt mit Wergeschöpfen, dann wird's mir gutgehen.

Ich umarmte Tara und drückte sie, bis sie aufschrie.

»Was sagen denn JBs Eltern?«, fragte ich. »Und wo habt ihr die Heiratslizenz her? Oben aus Arkansas?«

Als Tara begann, mir alles darüber zu erzählen, zwinkerte ich Amelia zu, die zurückzwinkerte, sich bückte und Bob auf den Arm nahm. Bob blinzelte, als er mir ins Gesicht sah, rieb seinen Kopf an der Hand, die ich ihm hinhielt, und schnurrte. Und dann gingen wir, den hellen Sonnenschein im Rücken und unsere Schatten uns voraus, in das alte Haus hinein.