Kapitel 18

Meine Augenlider schossen in die Höhe wie Jalousien, die zu fest zugezurrt waren.

Wach auf, wach auf, wach auf! Sookie, irgendwas stimmt hier nicht.

Barry, wo bist du?

Bei den Fahrstühlen auf der Etage für Menschen.

Ich komme. Ich zog dasselbe an wie gestern Abend, nur die Pumps mit den Absätzen ließ ich weg. Stattdessen schlüpfte ich in meine gummibesohlten Hausschuhe, schnappte mir meine schmale Brieftasche mit Zimmerschlüsselkarte, Führerschein und Kreditkarte, stopfte sie in die eine Hosentasche, mein Handy in die andere und eilte aus dem Zimmer. Die Tür fiel mit einem unheilvollen Knall hinter mir ins Schloss. Das Hotel wirkte leer und still, obwohl mein Wecker 9.50 Uhr angezeigt hatte.

Ich musste einen langen Flur entlanggehen und am Ende rechts abbiegen, um zu den Fahrstühlen zu gelangen, und begegnete keiner Menschenseele. So merkwürdig war das zwar nicht. Die meisten Menschen auf dieser Etage schliefen noch, weil auch sie zu Vampirzeiten wach waren. Es waren allerdings nicht mal Hotelangestellte zu sehen, die saubermachten.

Dieser lange, leere Flur schien kein Ende zu nehmen, und mir wurde immer unheimlicher zumute. All die winzigen Spuren der vielen Sorgen, die wie schleimige Schnecken durch meine Gedanken krochen, verdichteten sich zu einer immer größer werdenden inneren Unruhe.

Ich fühlte mich, als wäre ich auf der Titanic und hätte eben gehört, wie die Schiffswand gegen den Eisberg schrammte.

Schließlich sah ich jemanden am Boden liegen. Ich war vorhin so plötzlich aufgewacht, dass mir alles immer noch wie im Traum erschien, und da war es kein so großer Schock, einen leblosen Körper auf dem Etagenflur zu finden.

Trotzdem stieß ich einen kleinen Schrei aus, und Barry kam um die Ecke gerannt. Er hockte sich neben mich. Ich rollte die Gestalt herum. Jake Purifoy.

Warum ist er nicht in seinem Zimmer? Was hat er hier so spät in der Nacht noch gewollt? Selbst Barrys geistige Stimme klang panisch.

Sieh mal, Barry, er liegt da, als würde er irgendwie zu meinem Zimmer weisen. Glaubst du, er wollte zu mir?

Ja, und er hat es nicht mehr geschafft.

Was war so wichtig gewesen, dass Jake sich nicht zu seinem Tagesruheort begeben hatte? Ich stand auf, meine Gedanken rasten. Ich hatte noch nie - niemals! - von einem Vampir gehört, der es nicht instinktiv spürte, wenn die Morgendämmerung heranrückte. Ich dachte an meine Gespräche mit Jake und an die beiden Männer, die ich sein Zimmer hatte verlassen sehen.

»Du Mistkerl«, zischte ich durch zusammengebissene Zähne und trat ihn, so hart ich konnte.

»Herrgott, Sookie!« Entsetzt packte Barry mich am Arm. Doch dann hatte er meine Gedanken gelesen.

»Wir müssen Mr Cataliades und Diantha finden«, sagte ich. »Sie können aufstehen, sie sind keine Vampire.«

»Ich hole Cecile. Sie ist ein Mensch, wir teilen uns ein Zimmer«, entgegnete Barry. Wir eilten beide in verschiedene Richtungen davon und ließen Jake liegen, wo er war. Wir konnten im Augenblick nichts für ihn tun.

Fünf Minuten später trafen wir uns wieder. Es war erstaunlich einfach gewesen, Mr Cataliades und Diantha zu wecken, die beiden waren im selben Zimmer untergebracht. Cecile erwies sich als eine junge Frau mit einem praktischen Haarschnitt und einer äußerst kompetenten Art. Da wunderte es mich gar nicht, dass Barry sie als die neue geschäftsführende Assistentin des Königs vorstellte.

Wie hatte ich bloß so dämlich sein und Clovaches Warnung abtun können, und sei es nur für eine Minute? Ich war so wütend auf mich selbst, dass ich am liebsten aus der Haut gefahren wäre. Aber das musste jetzt warten, wir mussten handeln.

»Hört mal.« Ich hatte mir bereits etwas zurechtgelegt. »Seit sie von unserer Fähigkeit wussten, sind einige der Kellner Barry und mir in den letzten Tagen aus dem Weg gegangen.«

Barry nickte, ihm war es ebenfalls aufgefallen. Komisch, er wirkte irgendwie schuldbewusst. Doch auch das musste warten.

»Sie wissen, was wir sind, und wollten vermutlich nicht, dass wir ihre Pläne aufdecken. Daher geht's wohl auch um etwas richtig, richtig Schlimmes, und Jake Purifoy war darin verwickelt.«

Mr Cataliades, der anfangs leicht gelangweilt gewirkt hatte, war inzwischen im höchsten Maße alarmiert. Dianthas große Augen gingen von Gesicht zu Gesicht.

»Was sollen wir also tun?«, fragte Cecile. Die Frau hatte wirklich einen Hang zum Praktischen, Respekt.

»Es geht um den einen Sarg zu viel«, sagte ich. »Und um den blauen Koffer in der Suite der Königin. Barry, dir wurde doch ebenfalls aufgetragen, einen Koffer heraufzuholen, stimmt's? Und auch der hat keinem gehört?«

»Stimmt«, erwiderte Barry. »Der steht immer noch im Foyer vor der Suite des Königs, weil dort jeder vorbeikommt. Wir dachten, irgendwer würde ihn schon als seinen eigenen erkennen. Ich sollte ihn heute wieder in die Gepäckabteilung schaffen.«

»Der Koffer, den ich aus dem Keller geholt habe, steht im Salon der Königin. Der Typ, der in der Gepäckabteilung dafür verantwortlich ist, heißt Joe, glaube ich. Er hat auch angerufen, dass der Koffer abgeholt werden soll. Keiner schien irgendwas darüber zu wissen.«

»Werden die Koffer in die Luft fliegen?«, fragte Diantha mit ihrer schrillen Stimme. »Und die herrenlosen Särge im Keller auch? Wenn das Kellergeschoss explodiert, kracht das Hotel in sich zusammen!« Wow, solch menschliche Regungen von Diantha, das hatte ich ja noch nie erlebt.

»Wir müssen alle aufwecken«, sagte ich. »Wir müssen sie hinausschaffen.«

»Das ganze Gebäude wird in die Luft fliegen.« Barry versuchte Dianthas Gedanken fortzuführen.

»Die Vampire werden nicht aufwachen.« Cecile, die Praktikerin. »Das können sie nicht.«

»Quinn!«, rief ich. Ich hatte an so vieles gleichzeitig gedacht, dass mir das jetzt erst einfiel. Schwupps hatte ich das Handy aus der Tasche gezogen, seine Nummer im Eiltempo gewählt, und schon hörte ich ein Murmeln am anderen Ende der Leitung. »Raus hier!«, rief ich. »Quinn, hol deine Schwester, und dann raus hier. Es wird eine Explosion geben!« Ich wartete nur noch ab, ob meine Warnung ihn aufgeschreckt hatte, dann legte ich wieder auf.

»Wir müssen Alarm schlagen«, sagte Barry.

Cecile hatte eine brillante Idee: Sie lief den Flur entlang zu einem roten Kasten und drückte den Alarmknopf. Der Lärm sprengte uns beinahe das Trommelfell, hatte aber eine wundersame Wirkung auf all die schlafenden Menschen auf dieser Etage. Innerhalb von Sekunden stürmten sie aus ihren Zimmern.

»Nehmen Sie die Treppe«, brüllte Cecile ihnen entgegen, und gehorsam folgten sie. Ich war froh, als ich Carlas dunklen Schopf unter ihnen entdeckte. Quinn entdeckte ich allerdings nirgends, dabei war er nun wirklich nicht zu übersehen.

»Die Königin wohnt sehr weit oben«, sagte Mr Cataliades.

»Kann die Glasverkleidung der Pyramide von innen gesprengt werden?«, fragte ich.

»Im Film habe ich so was schon gesehen«, meinte Barry.

»Wir könnten die Särge die Glasfassade hinunterschlittern lassen.«

»Spätestens beim Aufprall brechen sie auseinander«, sagte Cecile.

»Aber so würden die Vampire die Explosion überleben.«

»Um dann von der Sonne verbrannt zu werden«, hielt Mr Cataliades dagegen. »Diantha und ich gehen nach oben und versuchen, die Leute der Königin in Decken eingewickelt herauszuholen. Wir bringen sie...« Verzweifelt sah er mich an.

»Rettungswagen! Ruft 911 an! Die werden wissen, wohin wir die Vampire bringen können!«

Diantha wählte 911, verwirrt und verzweifelt genug, die Rettungswagen zu einer Explosion anrücken zu lassen, die noch nicht mal stattgefunden hatte. »Das Hotel steht in Flammen«, rief sie. Okay, das konnte durchaus schon bald der Wahrheit entsprechen.

»Los«, sagte ich zu Mr Cataliades, schob den Dämon ein wenig an, und schon flitzte er zur Suite der Königin.

»Versuch, deine Leute herauszuholen«, sagte ich zu Barry, und er lief mit Cecile zu den Fahrstühlen, obwohl die jeden Augenblick unbrauchbar werden konnten.

Ich hatte alles in meiner Macht Stehende getan, um die Menschen hinauszuschaffen. Cataliades und Diantha konnten sich um die Königin und Andre kümmern. Ach, Eric und Pam! Zum Glück wusste ich, wo Erics Zimmer war. Ich nahm die Treppe. Auf dem Weg hinauf kamen mir zwei Frauen entgegen: die beiden Britlinge, mit großen Bündeln auf dem Rücken und einer eingewickelten Gestalt in Händen. Clovache trug die Füße, Batanya den Kopf. Zweifellos der König von Kentucky, sie taten ihre Pflicht. Beide nickten, als ich mich an die Wand drückte, um sie vorbeizulassen. Sie waren vielleicht nicht ganz so gelassen wie auf einem netten Spaziergang, aber nur unwesentlich aufgeregter.

»Haben Sie den Feueralarm ausgelöst?«, fragte Batanya. »Was immer die Bruderschaft vorhat, tut sie es heute?«

»Ja.«

»Danke. Wir verschwinden jetzt von hier. Das sollten Sie auch tun«, sagte Clovache.

»Wir kehren in unsere Dimension zurück, sobald wir den König in Sicherheit gebracht haben«, fügte Batanya hinzu. »Tschüs.«

»Viel Glück«, sagte ich (ziemlich dämlich, ich weiß), und dann rannte ich die Treppe hinauf, als hätte ich trainiert dafür. So weit war es mit dem Training allerdings nicht her, denn ich keuchte wie eine alte Frau, als ich die Tür zur neunten Etage aufriss. Ein einzelnes Zimmermädchen schob einen Wagen den langen Flur entlang. Ich rannte auf sie zu, was sie noch mehr erschreckte als der Feueralarm.

»Geben Sie mir Ihren Generalschlüssel!«, rief ich.

»Nein!« Sie war Lateinamerikanerin mittleren Alters und dachte gar nicht daran, einer solch verrückten Forderung nachzukommen. »Dann werde ich gefeuert.«

»Schließen Sie mir die Tür dort auf« - ich zeigte auf Erics Zimmer - »und verschwinden Sie hier.« Ich habe sicher wie eine völlig verzweifelte Frau gewirkt, und das war ich auch. »Dieses Hotel kann jeden Moment in die Luft fliegen.«

Da warf sie mir die Schlüsselkarte zu und war schon auf dem Weg zu den Fahrstühlen. Verdammt.

Und dann begannen die Explosionen: ein tiefes, gewaltiges Beben und Dröhnen weit unter meinen Füßen, als würde ein gigantisches Seeungeheuer durch die Meeresoberfläche brechen. Ich taumelte hinüber zu Erics Zimmer, zog die Plastikkarte durch den Schlitz und schob in einem Moment fast unheimlicher Stille die Tür auf. Das Zimmer lag in völliger Dunkelheit.

»Eric, Pam!«, schrie ich und tastete in dem pechschwarzen Zimmer nach einem Lichtschalter. Ich spürte regelrecht, wie das Gebäude wankte. Jetzt war auch weiter oben etwas in die Luft geflogen. O Mist! O Mist! Doch das Licht funktionierte noch, und ich sah, dass Eric und Pam sich in die Betten gelegt hatten, nicht in die Särge.

»Aufwachen!«, rief ich und schüttelte Pam, weil ich ihr am nächsten stand. Sie rührte sich kein bisschen. Es war, als rüttelte ich an einer mit Sägespänen gefüllten Puppe. »Eric!« Ich schrie ihm direkt ins Ohr.

Eric öffnete die Augen einen Spalt und fixierte mich.

»Was?«, fragte er. Na endlich, immerhin die Spur einer Reaktion. Er war ja auch viel älter als Pam.

»Ihr müsst aufstehen! Ihr müsst! Ihr müsst hier raus!«

»Es ist Tag«, flüsterte er und wollte sich auf die Seite drehen.

Ich schlug härter zu, als ich je in meinem Leben zugeschlagen hatte, und schrie: »Steh auf!«, bis ich kaum noch einen Ton herausbrachte. Schließlich regte Eric sich und setzte sich auf. Er trug eine schwarze Pyjamahose, Gott sei Dank, und ich sah den schwarzen Zeremonienumhang über seinem Sarg liegen. Den hatte er Quinn nicht zurückgegeben, so ein Glück! Ich warf ihm den Umhang um, knöpfte ihn am Hals zu und zog ihm die Kapuze über den Kopf. »Schütz dein Gesicht!«, rief ich, während über uns das Klirren von splitterndem Glas ertönte, gefolgt von Schreckensschreien.

Eric würde wieder schlafen, wenn ich ihn nicht wach hielt. Aber wenigstens reagierte er auf mich. Bill war doch unter noch viel schlimmeren Umständen herumgelaufen, zumindest einige Minuten lang, dachte ich. Aber Pam, obwohl etwa im gleichen Alter wie Bill, wurde einfach nicht wach. Ich zog sie sogar an ihren langen blonden Haaren.

»Du musst mir helfen, Pam hier herauszuholen!«, rief ich schließlich verzweifelt. »Eric, du musst.« Und wieder ein Krachen und Schlingern unter meinen Füßen. Ich schrie, und Eric riss die Augen auf. Taumelnd stellte er sich auf die Beine. Als hätten wir die Gedanken des anderen gelesen, wie Barry und ich, hoben wir beide seinen Sarg von dem Gestell und stellten ihn auf den Teppich. Dann schoben wir ihn hinüber zu der schrägen blickdichten Glasverkleidung, die die Wände der Pyramide bildete.

Alles um uns herum wackelte und bebte. Eric hielt die Augen jetzt ein wenig weiter geöffnet und konzentrierte sich so stark darauf, sich zu bewegen, dass es sogar an meinen Kräften zehrte.

»Pam«, sagte ich, um ihn zu mehr Aktion zu drängen. Nach einigem Gefummel hatte ich den Sarg geöffnet. Eric ging zu seinem Geschöpf hinüber, mit Schritten so schwer, als seien seine Füße am Boden festgeklebt und als müsse er sie bei jedem Schritt erst lösen. Er fasste Pam unter die Achseln, ich nahm ihre Füße, und mit Decke und allem Drum und Dran hoben wir sie an. Wieder wackelte der Boden, sehr viel gewaltiger diesmal, und wir wankten hinüber zu dem Sarg und warfen Pam hinein. Ich klappte den Deckel zu und schob den Riegel vor, auch wenn ein Zipfel von Pams Nachthemd herausschaute.

Ich dachte an Bill, und Rasul kam mir in den Sinn, aber ich konnte nichts für sie tun. Es blieb sowieso kaum noch Zeit. »Wir müssen das Glas zerbrechen!«, schrie ich. Eric nickte sehr langsam. Am einen Ende des Sargs kniend rammten wir ihn so heftig wie möglich gegen die Glasverkleidung, die in tausend Splitter zerbröselte. Erstaunlicherweise hingen sie aber weiterhin alle zusammen - die Segnungen des Sicherheitsglases. Ich hätte aufheulen mögen vor Frust. Wir brauchten ein Loch, keine Gardine aus Glas. Wir gruben unsere Zehenspitzen in den Teppich und versuchten, das rumpelnde Krachen in den Etagen unter uns zu ignorieren, setzten noch einmal an, und mit aller Kraft schoben Eric und ich den Sarg vorwärts.

Endlich! Der Sarg war durchgestoßen. Das Fenster brach aus seinem Rahmen und polterte an der schrägen Fassade des Hotels hinab.

Zum ersten Mal seit Jahrhunderten sah Eric Sonnenlicht. Und stieß einen Schrei aus, einen schrecklichen, gequälten Laut. Doch schon im nächsten Augenblick hatte er den Umhang fest um sich gezogen, griff nach mir, und wir setzten uns rittlings auf den Sarg und schoben ihn mit den Füßen an. Für den Bruchteil einer Sekunde war es, als hingen wir in der Luft, dann kippte der Sarg nach vorne. Und in diesem schrecklichsten Moment meines Lebens schlidderten wir auf einem Vampirsarg die Schräge der Pyramide hinab. Wir würden beim Aufprall sterben, wenn nicht -

Da hoben wir plötzlich von dem Sarg ab und taumelten irgendwie durch die Lüfte. Eric hielt mich fest umklammert.

Erleichtert seufzte ich auf. Natürlich! Eric konnte fliegen.

Benommen von all der Helligkeit um sich herum, gelang es ihm nicht sonderlich gut. Das war nicht der sanfte, rasante Vampirflug, den ich früher schon erlebt hatte, eher eine Art Zickzack-Senkflug mit Hang zum Trudeln.

Aber immer noch besser als der freie Fall.

Eric konnte unseren Sturzflug so weit abmildern, dass ich nicht mehr fürchtete, zerschmettert auf der Straße neben dem Hotel zu enden. Der Sarg mit Pam zersprang beim Aufprall allerdings in tausend Splitter und katapultierte Pam direkt ins Sonnenlicht, wo sie reglos liegen blieb. Ohne einen einzigen Laut begann sie zu brennen. Eric landete auf ihr und bedeckte sie und sich selbst sofort mit einer Decke. Einer von Pams Füßen schaute hervor, das Fleisch schwelte bereits. Schnell deckte ich ihn zu.

Da, Sirenengeheul! Ich hielt gleich einen der ersten Rettungswagen an, und die Sanitäter sprangen heraus.

Ich zeigte auf die gewölbte Decke. »Zwei Vampire - holen Sie sie aus der Sonne heraus!«, rief ich.

Die beiden Rettungssanitäter, zwei junge Frauen, sahen sich ungläubig an. »Was sollen wir mit denen machen?«, fragte die Schwarze.

»Bringen Sie sie in irgendeinen Keller ohne Fenster, und sagen Sie dem Besitzer, er soll den Keller gleich offen lassen, weil noch mehr kommen.«

Weiter oben im Hotel flog bei einer kleineren Explosion eine komplette Suite in die Luft. Eine Kofferbombe, dachte ich. Wie viele davon hatte dieser Joe wohl in die Zimmer bringen lassen? Unmengen feiner Glassplitter glitzerten im Sonnenlicht, als wir hinaufsahen, doch auch andere Dinge flogen aus den Fenstern. Routiniert begannen die Sanitäter mit ihrer Arbeit, ohne Panik, aber eindeutig in Eile. Sie berieten sich bereits, welches Gebäude in der Nähe das größte Kellergeschoss hätte.

»Wir fragen überall«, sagte die Schwarze. Pam war bereits im Rettungswagen und Eric auf dem Weg dorthin. Sein Gesicht war feuerrot, Rauch stieg von seinen Lippen auf. Ach, du meine Güte. »Was wollen Sie machen?«

»Ich muss da noch mal hinein«, erwiderte ich.

»So ein Wahnsinn«, sagte sie, sprang in den Rettungswagen und brauste davon.

Es regnete immer mehr Glas herab, und große Teile des Erdgeschosses drohten einzustürzen. Das lag sicher daran, dass im Kellergeschoss riesige Sargbomben explodiert waren. Eine weitere Explosion etwa in Höhe der sechsten Etage, diesmal auf der anderen Seite der Pyramide. Meine Sinne waren schon so betäubt von dem ständigen Getöse um mich herum, dass es mich kaum noch überraschte, als ein weiterer blauer Koffer durch die Luft flog. Mr Cataliades war es gelungen, die Glasverkleidung in der Suite der Königin zu durchbrechen und den Koffer hinauszuwerfen, um Sophie-Anne zu schützen. Und plötzlich wurde mir klar, dass dieser blaue Koffer noch intakt, noch nicht explodiert war und geradewegs auf mich zuflog.

Ich begann zu rennen wie einst in meinen Softball-Tagen, wenn ich einem Ball hinterher sprintete. Mein Ziel war der Park auf der anderen Seite der Straße, auf der der Verkehr wegen all der Notfallautos zum Erliegen gekommen war: Polizei, Rettungswagen, Feuerwehr. Vor mir zeigte eine Polizistin einem Kollegen gerade etwas, und auf die beiden zurennend schrie ich: »Runter! Bombe!« Sie fuhr zu mir herum, und ich packte sie und riss sie mit mir zu Boden. Irgendetwas traf mich mitten im Rücken, wumm! Alle Luft wurde aus meinen Lungen gepresst. Eine lange Minute lang lagen wir einfach nur da, bis ich mich mit wackligen Beinen aufrichtete. Wie wunderbar es doch war, einatmen zu können! Auch wenn die Luft voll Rauch und Staub war. Möglich, dass die Polizistin irgendwas zu mir gesagt hat, aber ich konnte nichts hören.

Ich drehte mich nach der Pyramide von Giseh um.

Teile des Hotels bröckelten, waren herabgestürzt oder nach innen kollabiert, überall waren Glas, Beton und Holz aus dem Ganzen herausgebrochen, während die meisten Wände, die die Pyramide unterteilt hatten - in Suiten, Zimmer, Bäder Lobbys -, eingestürzt waren. Und unter diesen Trümmern lagen jetzt all die Gäste begraben, die diese willkürlich geschaffenen Räumlichkeiten bewohnt hatten. Jetzt waren sie alle eins: Pyramide, Zimmer, Bewohner.

Hier und dort gab es auch unversehrte Teile. Die Etage für Menschen, das Mezzanin und die Eingangslobby waren größtenteils intakt, auch wenn der Bereich um die Rezeption völlig zerstört war.

Überall lagen Trümmer herum und mitten darin etwas, das ich erkannte, ein Sarg. Der Deckel war aufgesprungen beim Aufprall, und als die Sonne jetzt auf den Untoten traf, stieß er einen Klagelaut aus. Ich rannte hinüber, schnappte mir ein Stück Gipswand, das gleich danebenlag, und schob es über den Sarg. Sobald der Vampir vor der Sonne geschützt war, herrschte Schweigen.

»Hilfe!«, rief ich. »Hilfe!«

Ein paar Polizisten liefen auf mich zu.

»Hier sind Menschen und Vampire, die überlebt haben«, sagte ich. »Die Vampire müssen bedeckt werden.«

»Menschen zuerst«, befahl ein stämmiger Polizist.

»Okay«, stimmte ich automatisch zu, auch wenn ich dachte: Vampire haben diese Bomben nicht gelegt. »Aber wenn Sie die Vampire bedecken, können sie überleben, bis die Sanitäter sie in Sicherheit bringen.«

Ein Teil der südlichen Hotelseite stand noch, und als ich daran hinaufblickte, sah ich Mr Cataliades im leeren Rahmen einer herausgebrochenen Glasverkleidung stehen. Irgendwie hatte er es bis auf die Etage für Menschen geschafft. Er hielt ein in ein Bettlaken gehülltes Bündel im Arm und drückte es an die Brust.

»Dort!«, rief ich einigen Feuerwehrleuten zu. »Dort!«

Sie setzten sich sofort in Bewegung, als sie sahen, dass es einen Lebenden zu retten galt. Für die Rettung der Vampire brachten sie nicht halb so viel Begeisterung auf, obwohl die ohne viel Aufwand nur mit ein paar Decken hätten gerettet werden können. Tja, richtig fand ich das nicht, aber ich konnte es ihnen schlecht vorwerfen.

Erst jetzt bemerkte ich die vielen normalen Menschen um uns herum, die angehalten hatten und aus ihren Autos gestiegen waren, um zu helfen - oder um zu glotzen. Darunter auch einige Leute, die lauthals schrien: »Lasst sie verbrennen!«

Ich sah zu, wie ein Feuerwehrmann in einem Stahlkorb zu dem Dämon und seiner Last hinaufgefahren wurde. Dann setzte ich meinen Weg durch den Schutt fort.

Inzwischen hatte ich mir eine der gelben Jacken und einen der Schutzhelme geschnappt, die alle Retter trugen, und war in dieser Verkleidung weit genug gekommen, um in den Ruinen der voll Trümmer liegenden Eingangslobby zwei Vampire zu finden, von denen ich einen sogar kannte. Ein riesiges Stück Holz ließ erkennen, wo einst die Rezeption gestanden hatte. Einer der Vampire war stark verbrannt, und ich hatte keine Ahnung, ob er mit diesen schweren Wunden überleben würde. Der andere Vampir hatte sich hinter dem großen Stück Holz verborgen, und nur seine Hände und Füße waren versengt und schwarz geworden. Als ich um Hilfe schrie, wurden die Vampire mit Decken bedeckt. »Zwei Blocks weiter haben wir ein Gebäude gefunden, das wir als Tagesruheort für die Vampire benutzen können«, sagte die schwarze Fahrerin eines Rettungswagens, die sich um den schwerer verletzten Vampir kümmerte. Erst da erkannte ich, dass es dieselbe Frau war, die Eric und Pam mitgenommen hatte.

Außer den Vampiren entdeckte ich den kaum noch lebenden Todd Donati. Ich blieb bei ihm, bis zwei Sanitäter ihn mit einer Trage erreichen konnten. Und ganz in seiner Nähe fand ich ein totes Zimmermädchen. Sie war zerquetscht worden.

In meiner Nase hatte sich ein Geruch festgesetzt, der einfach nicht mehr vergehen wollte, schrecklich. Meine Lungen schienen schon inwendig damit ausgekleidet, und ich dachte, ich müsste den Rest meines Lebens diesen Geruch ertragen: einen Geruch von brennendem Baumaterial, verbrannten Leichen, sich auflösenden Vampiren. Ein furchtbarer Geruch.

Ich sah Dinge, die so entsetzlich waren, dass ich nicht mal zu jenem Zeitpunkt darüber nachdenken konnte.

Und dann hatte ich das Gefühl, nicht mehr weitersuchen zu können. Ich musste mich dringend setzen. Ein Trümmerhaufen aus Rohren, Beton und Gips zog mich magisch an. Ich hockte mich darauf und weinte. Und da gab der ganze riesige Haufen nach, rutschte einfach seitwärts unter mir weg, und ich saß auf dem Boden und weinte immer noch.

Aber ich warf einen Blick auf das, was der weggerutschte Schutt freigegeben hatte.

Bill lag zusammengekauert inmitten der Trümmer, das halbe Gesicht weggebrannt. Er trug noch die Sachen, in denen ich ihn am Abend zuvor gesehen hatte. Ich beugte mich über ihn, um ihn vor der Sonne zu schützen. Mit krächzender Stimme und blutigen Lippen flüsterte er: »Danke.« Er war nicht richtig wach und glitt immer wieder in seinen komatösen Tagesschlaf.

»Hierher! Hilfe!«, schrie ich und sah in der Ferne bereits zwei Feuerwehrleute mit Decken auf mich zurennen.

»Ich wusste, du findest mich«, flüsterte Bill. Oder habe ich mir das bloß eingebildet?

Ich blieb in meiner verkrampft vorgebeugten Haltung, denn es war nichts Greifbares in der Nähe, womit ich ihn hätte schützen können. Der Geruch verursachte mir Übelkeit, aber ich blieb. Bill hatte nur überlebt, weil er zufällig von Schutt bedeckt gewesen war.

Einer der Feuerwehrleute musste sich übergeben, doch sie wickelten ihn in Decken und trugen ihn weg.

Dann sah ich eine andere Gestalt mit gelber Jacke quer über das Trümmerfeld auf einen Rettungswagen zueilen. Mich erreichten die Gedankenströme eines lebenden Hirns unweit des Helfers, und ich erkannte es sofort.

Über die Schutthaufen hinwegkletternd folgte ich dem charakteristischen Gedankenmuster des Mannes, den ich am dringendsten zu finden hoffte. Quinn und Frannie lagen halb begraben unter einem Haufen losen Schotters. Frannie war bewusstlos und hatte eine blutende Kopfwunde gehabt, das Blut war aber schon verkrustet. Quinn war benommen, kam jedoch gerade zu sich. Eine Spur wie von frischem Wasser zog sich durch sein staubbedecktes Gesicht. Der Mann, der eben davongeeilt war, hatte ihm offenbar zu trinken gegeben und kehrte jetzt mit zwei Tragen zurück.

Quinn versuchte, mich anzulächeln. Ich fiel auf die Knie. »Kann sein, dass wir unsere Pläne ändern müssen, Liebling«, sagte er. »Ich werde mich wohl ein, zwei Wochen lang um Frannie kümmern müssen. Unsere Mutter ist nicht gerade eine Florence Nightingale.«

Ich versuchte, nicht zu weinen, doch wenn die Schleusen erst mal geöffnet sind, gibt's kein Halten mehr. Immerhin schluchzte ich nicht, auch wenn mir die Tränen unaufhörlich über das Gesicht rannen. So was Dämliches. »Du tust, was du tun musst«, erwiderte ich. »Ruf mich so bald wie möglich an, okay?« Ich hasse Leute, die dauernd überall ein »Okay« anhängen, als bräuchten sie die Zustimmung anderer. Aber auch das konnte ich gerade nicht vermeiden. »Du lebst, das allein zählt.«

»Danke«, sagte Quinn. »Wenn du nicht angerufen hättest, wären wir tot. Nicht mal der Feueralarm hätte uns noch rechtzeitig aus dem Zimmer gescheucht.«

Einen Meter entfernt hörte ich ein leises Stöhnen. Quinn hörte es auch. Ich kroch ein Stück weg von ihm und schob eine Toilette und ein Waschbecken zur Seite. Und dort lag, unter mehreren Schichten von Gipsschutt und Staub, Andre, bewusstlos. Ein kurzer Blick verriet, dass er verschiedene schwere Verletzungen hatte. Aber keine davon blutete, und alle würden wieder verheilen. Verdammt.

»Es ist Andre«, rief ich Quinn zu. »Verletzt, aber nicht tot.« Falls meine Stimme missmutig klang: Genau so fühlte ich mich. Direkt neben Andres rechtem Bein lag ein schöner langer Holzsplitter, und ich kam ein wenig in Versuchung. Andre war eine Bedrohung für meinen freien Willen, ja, für alles, was mein Leben ausmachte. Aber ich hatte schon zu viele Tote gesehen an diesem Tag.

Widerwillig hockte ich neben ihm. Ich hasste ihn, aber was soll's ... immerhin kannte ich ihn. Das hätte es mir leichter machen sollen, doch das tat es nicht.

Geduckt kam ich aus dem kleinen Schuttalkoven wieder heraus, in dem er lag, und krabbelte zurück zu Quinn.

»Die Sanitäter kommen gleich und holen uns«, sagte er zu mir. Er klang von Minute zu Minute kräftiger. »Du kannst ruhig gehen.«

»Du willst, dass ich gehe?«

Er versuchte, mir mit Blicken etwas zu sagen, aber ich verstand es nicht.

»Okay«, sagte ich zögernd. »Dann gehe ich.«

»Mir wird gleich geholfen«, erwiderte er sanft. »Du könntest noch andere finden.«

»In Ordnung.« Ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte, und stand auf. Ich war vielleicht zwei Meter gegangen, als ich hörte, wie er sich bewegte. Doch einen Augenblick später war schon wieder alles still. Ich setzte meinen Weg fort.

Ich ging zu einem großen Van, der herangefahren und neben dem Rettungszentrum geparkt worden war. Meine gelbe Jacke wirkte wie ein magischer Passierschein, doch damit konnte jede Minute Schluss sein. Irgendwem würde auffallen, dass ich Hausschuhe trug, die sich bereits auflösten, da sie für das Herumklettern auf Ruinen nun wirklich nicht geeignet waren. Eine Frau reichte mir eine Wasserflasche aus dem Van, und mit zittrigen Händen öffnete ich sie. Ich trank und trank und schüttete mir den Rest des Wassers über Gesicht und Kopf. Trotz des kühlen Windes fühlte es sich einfach herrlich an.

Inzwischen mussten zwei (oder vier, oder sechs) Stunden vergangen sein seit den ersten Explosionen. Es waren ganze Rettungseinheiten eingetroffen, die Ausrüstungen, Geräte und Decken mitgebracht hatten. Ich suchte nach jemandem, der nach einer Autoritätsperson aussah, um herauszufinden, wohin die anderen überlebenden Menschen gebracht worden waren, als plötzlich eine Stimme in meinem Kopf erklang.

Sookie?

Barry!

Wie geht's dir?

Ziemlich wacklig auf den Beinen, aber nicht ernstlich verletzt. Und dir?

Dasselbe. Cecile ist tot.

Oh, wie schrecklich. Etwas anderes fiel mir leider nicht ein.

Ich wüsste, wie wir hier helfen könnten.

Wie denn? Ich klang vermutlich nicht allzu interessiert.

Wir könnten lebende Menschen aufspüren. Und zusammen sind wir stärker.

Das mache ich schon die ganze Zeit, sagte ich. Aber du hast recht, zusammen sind wir stärker. Ich war zu diesem Zeitpunkt so müde, dass ich innerlich schauderte bei dem Gedanken, weiterzumachen. Das können wir natürlich tun, fügte ich dennoch hinzu.

Wenn diese Trümmerhaufen so entsetzlich riesig gewesen wären wie die der Twin Towers, hätten wir es nie geschafft. Aber die Ausmaße waren kleiner und überschaubar, und falls wir jemanden fanden, der uns glaubte, hätten wir eine Chance.

Ich traf Barry in der Nähe des Rettungszentrums und fasste ihn bei seiner rußgeschwärzten Hand. Er war jünger als ich, auch wenn er jetzt nicht so aussah und vielleicht auch nie wieder so wirken würde. Als ich die Reihen an Leichen auf dem Rasen des kleinen Parks überblickte, sah ich Cecile und eine Frau, die das Zimmermädchen gewesen sein mochte, das ich vorhin in der Eingangslobby gesehen hatte. Ein paar rußgeschwärzte Gestalten, von denen Ascheflocken aufstiegen, lagen auch dort: sich auflösende Vampire. Jeden von ihnen hätte ich kennen können, aber keiner war mehr zu identifizieren.

Barry und ich stellten uns darauf ein, dass sich die anderen Retter über uns lustig machen würden. Aber jede Demütigung wäre unbedeutend, wenn wir dafür jemanden retten könnten.

Zuerst war es schwer, überhaupt jemanden zu finden, der uns zuhörte. Die Sanitäter verwiesen uns ständig an das Rettungszentrum oder an einen der Krankenwagen in der Nähe, mit denen die Überlebenden in die Krankenhäuser von Rhodes gefahren wurden.

Schließlich stand ich einem dünnen, grauhaarigen Mann gegenüber, der mir einfach zuhörte, ohne irgendeine Miene zu verziehen.

»Ich hätte auch nie geglaubt, dass ich mal Vampire retten würde«, sagte er, als würde das irgendetwas erklären. Aber vielleicht tat es das ja. »Also, nehmen Sie diese beiden Männer mit, und erklären Sie ihnen, was Sie tun. Ich gebe Ihnen fünfzehn Minuten der kostbaren Zeit dieser Männer. Wenn Sie die vergeuden, könnten Sie für den Tod so mancher Menschen verantwortlich sein.«

Es war Barrys Idee gewesen, aber jetzt schien er mich für uns sprechen lassen zu wollen. Sein Gesicht war schwarz von Ruß. Wir unterhielten uns auf unsere stumme Weise über das beste Vorgehen, und schließlich wandte ich mich an einen Feuerwehrmann: »Fahren Sie uns mit einem dieser Stahlkörbe hinauf.«

Und wundersamerweise taten sie genau das, ohne Widerworte. Wir wurden weit über den Schutt hinaus gehoben, und ja, wir wussten, dass es gefährlich war, und ja, wir waren bereit, die Konsequenzen zu tragen. Immer noch Hand in Hand schlossen Barry und ich die Augen und suchten, die Gedanken offen und nach außen gerichtet.

»Mehr nach links«, sagte ich, und der Feuerwehrmann in dem Korb gab dem Mann im Fahrerhaus ein Zeichen. »Achten Sie auf mich«, riet ich ihm, und er wandte seinen Blick wieder mir zu. »Halt«, sagte ich, und der Korb hielt an. »Direkt unter uns«, präzisierte ich. »Genau unter uns. Dort ist eine Frau namens Sowieso Santiago.«

Nach ein paar Minuten erhob sich ein Geschrei. Sie hatten sie lebend gefunden.

Danach hatten wir alle auf unserer Seite und mussten uns, solange es funktionierte, keine Fragen mehr gefallen lassen, wie wir das machten. Rettungsleute interessieren sich nur für das Retten. Sie brachten Hunde mit, ließen Mikrofone in Schächte hinab, und dennoch waren Barry und ich schneller und zielgenauer als die Hunde und präziser als die Mikrofone. Wir fanden vier weitere Überlebende. Wir fanden sogar einen Mann namens Art, der seine Ehefrau liebte und schrecklich litt und schließlich starb, ehe die Retter ihn bergen konnten. Art war wirklich ein tragischer Fall. Die Retter schaufelten wie die Teufel, um ihn auszugraben, und ich musste ihnen sagen, dass es völlig sinnlos war. Sie glaubten mir natürlich kein Wort und schaufelten immer weiter, doch er war bereits gestorben. Inzwischen waren die Retter völlig fasziniert von unserer Fähigkeit und wollten, dass wir die ganze Nacht weiterarbeiteten. Doch Barry machte mehr und mehr Fehler, und auch ich war erschöpft. Schlimmer noch, es wurde dunkel.

»Die Vampire erwachen bald«, erinnerte ich den Hauptmann der Feuerwehr. Er nickte und sah mich an, als erwarte er weitere Erklärungen. »Sie sind ziemlich schwer verletzt«, fuhr ich fort, doch er hatte es immer noch nicht begriffen. »Sie brauchen umgehend Blut und werden sich überhaupt nicht unter Kontrolle haben. Ich würde keine Retter mehr allein auf das Trümmerfeld hinausschicken.« Sein Gesicht wurde ganz ausdruckslos vor Nachdenklichkeit.

»Sie glauben, dass nicht alle gestorben sind? Können Sie sie finden?«

»Nein, Vampire können wir nicht aufspüren. Menschen schon, aber die Untoten nicht. Ihre Hirne strahlen keine, äh, Wellen aus. Wir müssen jetzt gehen. Wohin wurden die Überlebenden gebracht?«

»Die sind alle im Thorne-Haus, gleich da vorne«, sagte er und zeigte in die entsprechende Richtung. »Im Keller.« Wir wollten schon losgehen. Barry hatte einen Arm um meine Schultern gelegt, nicht aus Zuneigung, sondern weil er selbst Unterstützung brauchte.

»Lassen Sie mich Ihre Namen und Adressen aufschreiben, damit der Bürgermeister Ihnen danken kann«, sagte der Grauhaarige, Stift und Klemmbrett schon in Händen.

Nein!, rief Barry, und meine Lippen waren augenblicklich versiegelt.

Ich schüttelte den Kopf. »Das lassen wir besser.« Ich warf einen kurzen Blick in seine Gedanken, er war begierig auf weitere Hilfe von uns. Plötzlich verstand ich, warum Barry mich so abrupt zum Schweigen gebracht hatte, auch wenn mein Telepathenkollege derart müde war, dass er es mir nicht mehr selbst sagen konnte. Meine Weigerung kam allerdings nicht allzu gut an.

»Sie arbeiten für Vampire, aber an einem Tag wie diesem wollen Sie nicht Seite an Seite mit den Rettern geehrt werden?«

»Genau«, erwiderte ich. »Das trifft es ganz gut.«

Er war nicht sonderlich glücklich über diese Antwort, und einen Moment lang glaubte ich, er würde uns zwingen: sich meine Brieftasche schnappen, mich ins Gefängnis stecken, irgend so was. Aber er nickte bloß widerwillig und deutete erneut in Richtung Thorne-Haus.

Irgendwer wird versuchen, herauszufinden, wer wir sind, sagte Barry, Irgendwer wird uns benutzen wollen.

Ich seufzte, fand aber kaum noch die Kraft für weitere Seufzer. Ich nickte. Ja, irgendwer. Im Rettungszentrum wird uns irgendjemand beobachten und Leute, die uns kennen, nach unseren Namen fragen. Danach ist es nur noch eine Frage der Zeit.

Aber ich wusste nicht, wie wir dem Rettungszentrum aus dem Weg gehen sollten. Wir brauchten Hilfe, wir mussten unsere Delegation wiederfinden, in Erfahrung bringen, wie und wann wir die Stadt verlassen konnten, und wir mussten wissen, wer überlebt hatte und wer nicht.

Ich griff in meine Hosentasche, und erstaunlicherweise fand sich darin noch mein Handy, nicht mal der Akku war leer. Ich rief Mr Cataliades an. Wenn irgendwer außer mir mit einem funktionierenden Handy der Pyramide von Giseh entkommen war, dann der Rechtsanwalt.

»Ja«, sagte er vorsichtig. »Miss St-«

»Schhht«, machte ich. »Sprechen Sie meinen Namen nicht laut aus.« Da sprach die reine Paranoia aus mir.

»Natürlich nicht.«

»Wir haben hier unten ausgeholfen, und jetzt wollen sie uns besser kennenlernen«, sagte ich und kam mir ungeheuer clever vor, weil ich so verklausuliert redete. Ich war sehr müde. »Barry und ich sind in der Nähe des Hauses, in dem Sie untergebracht wurden. Wir müssen irgendwo anders hin. Hier machen zu viele Leute zu viele Listen, wenn Sie verstehen?«

»Ja, ein beliebtes Vorgehen«, sagte Mr Cataliades.

»Geht's Ihnen und Diantha gut?«

»Diantha wurde noch nicht gefunden. Wir wurden getrennt.«

Ein paar Sekunden lang brachte ich kein Wort heraus. »Das tut mir unheimlich leid. Wen hielten Sie im Arm, als Sie gerettet wurden?«

»Die Königin. Sie ist hier, allerdings schwer verletzt. Und wir können Andre nicht finden.«

Er hielt kurz inne, und weil ich das Schweigen nicht ertrug, fragte ich: »Und die anderen?«

»Gervaise ist tot. Eric, Pam, Bill ... haben Brandwunden, sind aber gerettet. Cleo Babitt ist auch hier. Rasul habe ich noch nicht gesehen.«

»Und was ist mit Jake Purifoy?«

»Den habe ich auch nicht gesehen.«

»Vielleicht sollten Sie wissen, dass er eine Teilschuld an all dem hier trägt, wenn Sie ihm begegnen. Er war am Komplott der Bruderschaft beteiligt.«

Mr Cataliades nahm es zur Kenntnis. »Oh, ja, so etwas muss ich natürlich wissen. Johan Glassport wird sich ganz besonders dafür interessieren, da er einige gebrochene Rippen und ein angeknackstes Schlüsselbein hat. Er ist außerordentlich wütend.« Es besagte einiges über Glassports Bösartigkeit, dass Mr Cataliades dessen Rachegelüste denen eines Vampirs für ebenbürtig hielt. »Woher wissen Sie, dass es ein Komplott gab, Miss Sookie?«

Ich erzählte dem Rechtsanwalt die Geschichte, die ich von Clovache erfahren hatte. Sie und Batanya waren inzwischen sicher dorthin zurückgekehrt, wo immer sie auch herkamen, daher nahm ich an, das wäre okay.

»Die beiden waren jeden Cent wert, den König Isaiah für sie ausgegeben hat.« Cataliades klang eher nachdenklich als neidisch. »Isaiah ist hier, völlig unverletzt.«

»Wir müssen irgendwo ein bisschen schlafen. Könnten Sie Barrys König sagen, dass er bei mir ist?«, fragte ich. Es wurde Zeit, dass ich das Telefonat beendete und einen Plan machte.

»Er ist zu verletzt, um sich darum Gedanken zu machen. Er ist nicht mal bei Bewusstsein.«

»Okay. Dann einfach irgendwem aus der Texas-Delegation.«

»Ich sehe Joseph Velasquez. Rachel ist tot.« Er konnte nicht anders, Mr Cataliades musste mir all die schlechten Nachrichten mitteilen.

»Cecile, Stans Assistentin, ist auch tot«, erzählte ich ihm.

»Wohin wollen Sie?«, fragte Mr Cataliades.

»Keine Ahnung«, erwiderte ich. Ich war total erschöpft und ohne jede Hoffnung und hatte schon viel zu viele schlechte Nachrichten gehört, um noch lange durchzuhalten.

»Ich schicke Ihnen ein Taxi«, bot Mr Cataliades an. »Ich kann von den netten freiwilligen Helfern hier eine Nummer bekommen. Sagen Sie dem Fahrer, Sie seien Rettungshelfer und müssten sofort in das nächstgelegene preiswerte Hotel gefahren werden. Haben Sie eine Kreditkarte?«

»Ja, und meine Kundenkarte.« Was für ein Glück, dass ich meine Brieftasche in die Hosentasche gestopft hatte.

»Nein, warten Sie. Wenn Sie die benutzen, können Sie sehr schnell aufgespürt werden. Was ist mit Bargeld?«

Ich sah nach. Dank Barry kamen wir auf hundertneunzig Dollar, und ich konnte Mr Cataliades versichern, wir kämen schon klar.

»Dann verbringen Sie die Nacht in einem Hotel und rufen mich morgen wieder an.« Mr Cataliades klang auf einmal selbst unglaublich erschöpft.

»Danke für die Tipps.«

»Danke für die Warnung«, sagte der höfliche Dämon. »Wir wären alle tot, wenn Sie und Barry Bellboy uns nicht geweckt hätten.«

Ich legte die gelbe Jacke und den Schutzhelm ab, und dann wankten Barry und ich davon, einer den anderen mehr oder weniger stützend. Als wir an eine Betonbarrikade kamen, lehnten wir uns an, die Arme umeinander geschlungen. Ich befürchtete, dass uns jeden Moment ein Feuerwehrmann oder Polizist aufgreifen und von uns wissen wollen würde, was wir hier taten, wohin wir wollten und wer wir waren. Mir wurde vor Erleichterung fast schlecht, als ich schließlich ein langsam heranfahrendes Taxi entdeckte, dessen Fahrer aus dem Fenster spähte. Das musste für uns sein. Wie eine Wilde winkte ich mit meiner freien Hand. Ich hatte noch nie zuvor in meinem Leben ein Taxi angehalten. Es war wie im Film.

Der Taxifahrer, ein spindeldürrer Typ aus Guyana, war nicht gerade begeistert, als zwei so schmutzige Gestalten in seinen Wagen einstiegen. Aber so bemitleidenswerte Leute wie uns konnte er schlecht abweisen. Das nächstgelegene »preiswerte« Hotel lag eine Meile Richtung Innenstadt. Den Weg hätten wir laufen können, wenn wir noch Kraft genug gehabt hätten. Wenigstens war die Taxifahrt nicht sehr teuer.

Selbst in dem Mittelklassehotel waren die Portiers an der Rezeption alles andere als erfreut über unser Erscheinen, doch an diesem Tag zeigten sich alle wohltätig gegenüber den Leuten, die den Explosionen entkommen waren. Wir bekamen ein Zimmer zu einem Preis, bei dem mir die Luft weggeblieben wäre, hätte ich nicht schon die Preisliste des Pyramide-Hotels gekannt. Das Zimmer selbst war nichts Besonderes, aber wir brauchten auch nichts Besonderes. Ein Zimmermädchen klopfte, gleich nachdem wir eingetreten waren, und sagte, sie würde unsere Kleider für uns waschen, da wir ja nun keine anderen mehr hätten. Sie sah zu Boden bei ihren Worten, um uns die Peinlichkeit zu ersparen. Ich musste schwer schlucken, weil sie so nett war, sah an meiner Bluse und meiner Hose hinab und konnte ihr nur zustimmen. Barry war völlig hinüber und nahm gar nichts mehr wahr, also bugsierte ich ihn erst mal ins Bett. Schrecklich, wie das Hantieren mit den Vampiren. Ich hielt die Lippen aufeinander gepresst, während ich seinen schlaffen Körper entkleidete. Dann streifte ich meine eigenen Sachen ab, stopfte alles zusammen in eine Plastiktüte aus dem Kleiderschrank und gab sie dem Zimmermädchen. Mit einem Waschlappen fuhr ich Barry noch durchs Gesicht, über Hände und Füße, dann deckte ich ihn zu.

Ich selbst musste unbedingt duschen - und hätte Gott fast auf Knien gedankt für all die Gratisproben Shampoo, Seife, Duschgel und Körperlotion! Und ich dankte Gott auch für fließend warmes und kaltes Wasser... okay, vor allem fürs warme. Das nette Zimmermädchen hatte mir sogar zwei Zahnbürsten und eine kleine Tube Zahnpasta gegeben, und so konnte ich mir den Geschmack von Staub und Asche aus dem Mund schrubben. Slip und BH wusch ich im Waschbecken aus und wrang sie in ein Handtuch gewickelt aus, ehe ich sie zum Trocknen aufhängte. Barrys Sachen hatte ich alle dem Zimmermädchen mitgegeben.

Schließlich gab's nichts mehr zu erledigen, und ich kroch neben Barry ins Bett. Jetzt, da ich so gut duftete, bemerkte ich erst, wie sehr er stank. Aber das roch außer mir ja keiner, stimmt's? Und ich hätte ihn um nichts auf der Welt geweckt. Ich drehte mich auf die Seite und dachte daran, wie unheimlich dieser lange, leere Flur gewesen war - komisch, dass ich das als das Furchtbarste herauspickte nach diesem grauenvollen Tag.

Das Hotelzimmer war wunderbar still nach all dem Getöse der Explosionen, das Bett herrlich bequem, ich roch gut und war kaum verletzt.

Und so fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.