Kapitel 17

Die Vampirin Jodi war ziemlich beeindruckend. Sie erinnerte mich an Jael aus der Bibel. Jael, eine entschlossene Frau des Volkes Israel, schlug dem feindlichen Hauptmann Sisera mit einem Hammer einen Zeltpflock durch die Schläfe, wenn ich mich richtig erinnerte. Sisera schlief, als Jael ihre Tat vollbrachte, genau wie Michael, als Jodi ihm einen Fangzahn herausbrach. Bei Jodis Namen musste ich zwar immer kichern, aber ich erkannte in ihr eine stählerne Kraft und Entschlossenheit, die mich sofort auf ihre Seite zogen. Na, hoffentlich durchschauten die Richter das Gejammer des Vampirs Michael wegen seines verdammten Fangzahns.

Nichts war wie am Abend zuvor, obwohl die Verhandlungen im selben Saal stattfanden. Die Vorsitzenden Richter - so sagte man doch? - saßen an einem langen Tisch auf der Bühne, mit dem Gesicht zum Publikum. Es waren drei, alle aus verschiedenen Bundesstaaten: zwei Männer und eine Frau. Einer von ihnen war Bill, der (wie immer) ruhig und gelassen wirkte. Den anderen Mann, einen Blonden, kannte ich nicht. Die Frau war eine hübsche kleine Vampirin mit der aufrechtesten Haltung und dem längsten gelockten schwarzen Haar, das ich je gesehen hatte. Ich hörte, dass Bill sie mit »Dahlia« ansprach. Ihr rundes Gesicht ging hin und her, während sie zuerst Jodis Aussage und dann Michaels anhörte, gerade so, als würde sie ein Tennisspiel ansehen. Vor den Richtern, mitten auf dem weißen Tischtuch, lag ein Pfahl, vermutlich das Symbol der Gerechtigkeit unter Vampiren.

Die beiden beschwerdeführenden Vampire wurden nicht von Rechtsanwälten vertreten. Sie sagten, was sie zu sagen hatten, und dann stellten die Richter Fragen, ehe sie zu einer Entscheidung durch Mehrheitsvotum kamen. Es war alles sehr einfach, der Form und dem Verfahren nach.

»Sie haben eine Menschenfrau gefoltert?«, fragte Dahlia Michael.

»Ja«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich sah mich um. Ich war der einzige Mensch unter den Zuschauern. Kein Wunder, dass das Verfahren so einfach gehalten wurde. Die Vampire sahen keinen Anlass, sich für ein lebendiges, emotionsgeladenes Publikum Mühe zu geben. Sie verhielten sich so, als wären sie ganz unter sich. Ich saß bei denen meiner Delegation, die ebenfalls anwesend waren - Rasul, Gervaise, Cleo. Vielleicht überdeckte ihre Nähe meinen Geruch, vielleicht zählte aber ein zahmer Mensch allein auch einfach nicht.

»Sie hat mich beleidigt, und mir gefällt Sex auf diese gewisse Weise, also habe ich sie entführt und mich ein wenig mit ihr amüsiert«, sagte Michael. »Und dann geht Jodi wie eine Wilde auf mich los und bricht mir einen Fangzahn heraus. Sehen Sie?« Er öffnete den Mund so weit, dass alle Richter seinen Zahnstumpf erkennen konnten. (Ob er sich wohl schon an dem Messestand umgesehen hatte, der diese erstaunlichen Fangzahn-Prothesen anpries?)

Michael hatte das Gesicht eines Engels, aber er verstand einfach nicht, was an seinem Verhalten falsch war. Er hatte sich so verhalten wollen, also hatte er es getan. Nicht alle, die zu Vampiren gemacht werden, sind psychisch stark genug, und manche wissen noch Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte später nicht, dass sie mit Menschen nicht einfach verfahren dürfen, wie es ihnen passt. Trotzdem genießen sie die Offenheit der neuen Ordnung, streifen klar als Vampire erkennbar durch die Welt und bestehen auf dem Recht, nicht gepfählt zu werden. Sie wollten alle Vorteile genießen, ohne sich auf die allgemeingültigen Regeln der Gesellschaft einzulassen.

Da war ein abgebrochener Fangzahn doch eine milde Strafe, fand ich. Unglaublich, dass Michael meinte, sich hier noch über die Frau beschweren zu können. Offenbar sah Jodi das genauso, denn sie war aufgesprungen und wollte schon wieder auf ihn losgehen. Anscheinend hatte sie es auch noch auf seinen anderen Fangzahn abgesehen. Das war ja besser als jede TV-Gerichtsshow.

Der blonde Richter packte sie und warf sie zu Boden. Er war viel größer als Jodi, und sie schien zu akzeptieren, dass sie ihn nicht abschütteln konnte. Bill hatte seinen Stuhl zurückgeschoben, damit auch er jederzeit aufspringen konnte, falls die weiteren Entwicklungen ein rasches Eingreifen erforderten.

Die kleine Dahlia fragte: »Warum verurteilen Sie Michaels Verhalten so sehr, Jodi?«

»Die Frau, die er gequält hat, war die Schwester eines meiner Angestellten«, sagte Jodi mit vor Wut bebender Stimme. »Sie stand unter meinem Schutz. Der dämliche Michael bringt es noch dahin, dass auf uns alle wieder Jagd gemacht wird, wenn er so weitermacht. Er ist unbelehrbar. Nichts hält ihn auf, nicht mal, dass er einen Fangzahn eingebüßt hat. Ich hatte ihn dreimal gewarnt, sich von ihr fernzuhalten, und die Frau hat ihm eine passende Antwort gegeben, als er ihr auf der Straße ein zweideutiges Angebot gemacht hat. Doch sein Stolz ist ihm wichtiger als alles kluge oder diskrete Verhalten.«

»Ist das wahr?«, fragte die kleine Vampirin Michael.

»Sie hat mich beleidigt, Dahlia«, erwiderte er sanft. »Ein weiblicher Mensch hat mich in aller Öffentlichkeit beleidigt.«

»Der Fall ist klar«, sagte Dahlia. »Teilen Sie beide meine Meinung?« Der Blonde, der Jodi zurückhielt, nickte, und Bill auch, der rechts von Dahlia immer noch auf der Kante seines Stuhls saß.

»Michael, Sie werden Racheakte auf uns ziehen mit Ihrem unklugen Verhalten und Ihrer Unfähigkeit, Ihre Emotionen zu kontrollieren«, begann Dahlia. »Sie haben Warnungen ignoriert und auch die Tatsache, dass die Frau unter dem Schutz einer anderen Vampirin stand.«

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Wo ist denn Ihr Stolz?« Michael war aufgesprungen und schrie jetzt.

Aus den dunklen Kulissen der Bühne traten zwei Männer, beides Vampire natürlich und beide beeindruckend groß. Sie ergriffen Michael, der ihnen einen regelrechten Kampf lieferte. Der Lärm und die Gewalt schockierten mich ein wenig. Aber nun gut, schon in ein paar Minuten hätten sie Michael in irgendein Vampirgefängnis abgeführt, und dann würden die Gerichtsverhandlungen in aller Ruhe weitergehen.

Ich war total verblüfft, als Dahlia dem blonden Vampir zunickte, der auf Jodi draufsaß. Er stand auf und half auch der Vampirin auf die Beine. Jodi grinste breit. Mit einem einzigen Satz war sie quer über die Bühne gefegt, wie ein Panther, griff sich den Pfahl vom Tisch der Richter und rammte ihn mit einer kraftvollen Bewegung ihres schlanken Arms Michael in die Brust.

Ich schlug mir beide Hände vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Doch außer mir war niemand schockiert.

Michael starrte Jodi mit wutverzerrter Miene an und versuchte seine Arme zu befreien, wohl um sich den Pfahl aus der Brust zu ziehen. Aber nach ein paar Sekunden war alles vorüber. Die beiden Vampire, die jetzt einen Toten festhielten, trugen die Überreste weg, und Jodi sprang mit einem strahlenden Lächeln von der Bühne.

»Der nächste Fall«, sagte Dahlia.

Als Nächstes wurde der Fall des Kindes verhandelt, und an dem waren Menschen beteiligt. Zum Glück, dann würde ich hier weniger auffallen, dachte ich, und da kamen sie auch schon: die Eltern mit Armesündermienen und Vampiranwältin (durften Menschen vor diesem Gericht etwa nicht direkt aussagen?) und die »Mutter« mit ihrem »Kind«.

Dies war ein längerer, traurigerer Fall, denn wie sehr die Eltern unter dem Verlust ihres Sohnes litten - der immer noch herumlief und redete, nur nicht mit ihnen -, war fast mit Händen zu greifen. Ich war nicht die Einzige, die rief: »So eine Schande!«, als Cindy Lou zugab, von den Eltern monatlich Unterhalt für den Jungen zu erhalten. Die Vampiranwältin Kate Book setzte sich wild entschlossen für die Eltern ein, und es wurde deutlich, dass sie Cindy Lou für eine Schlampe und schlechte Mutter hielt. Doch die drei Richter - andere diesmal, ich kannte keinen von ihnen - hielten an der schriftlichen Vereinbarung fest, die die Eltern unterschrieben hatten, und weigerten sich, den Jungen in andere Obhut zu geben. Sie verfügten jedoch, dass die Vereinbarung von beiden Parteien gleichermaßen eingehalten werden müsse und der Junge verpflichtet sei, Zeit mit seinen leiblichen Eltern zu verbringen, solange diese von ihrem Recht Gebrauch machen wollten.

Der älteste Richter, ein Mann mit riesiger Hakennase und dunklen, wässrigen Augen, rief den Jungen vor sich. »Du schuldest diesen Menschen Respekt und Gehorsam, denn auch du hast diese Vereinbarung unterschrieben«, sagte er. »Nach den Gesetzen der Menschen magst du noch nicht strafmündig sein, aber nach den unseren bist du genauso verantwortlich wie ... Cindy Lou.« Oje, dass eine Vampirin tatsächlich Cindy Lou heißen konnte, brachte ihn beinahe um. »Falls du versuchst, deine Menscheneltern zu terrorisieren oder zu nötigen, oder falls du ihr Blut trinkst, hacken wir dir die Hand ab. Und wenn sie nachgewachsen ist, hacken wir sie dir erneut ab.«

Der Junge konnte kaum noch bleicher werden, als er ohnehin schon war, und seine Menschenmutter fiel in Ohnmacht. Aber er hatte sich so rotzfrech und selbstherrlich gebärdet und seine armen Eltern so geringschätzig abgefertigt, da war eine strenge Verwarnung nötig, fand ich. Unwillkürlich musste ich nicken.

Na klar, äußerst fair, einem Kind damit zu drohen, dass man ihm die Hand abhacken würde...

Ach was, jeder, der diesen Jungen gesehen hatte, hätte zugestimmt. Und Cindy Lou war auch nicht gerade eine Zierde ihres Geschlechts. Wer immer sie zur Vampirin gemacht hatte, konnte geistig und moralisch selbst nicht ganz auf der Höhe sein.

Letzten Endes hatte man mich bei den Verhandlungen nicht gebraucht. Aber wer weiß, wie das den restlichen Abend laufen würde, dachte ich gerade, als die Königin durch die Flügeltüren am Ende des Saals trat, in Begleitung von Andre und Sigebert. Sie trug einen saphirblauen Hosenanzug aus Seide und dazu ein herrliches Diamantcollier und kleine Diamantohrringe. Ihr Stil hatte absolut Klasse, elegant, schlank, perfekt. Andre kam schnurstracks auf mich zu.

»Ich weiß«, begann er, »oder besser, Sophie-Anne hat mir erklärt, dass ich mich Ihnen gegenüber falsch verhalten habe. Es tut mir nicht leid, denn ich würde alles für meine Königin tun. Andere bedeuten mir nichts. Aber ich bedaure, dass ich es nicht unterlassen konnte, Ihnen Kummer zu bereiten.«

Tja, wenn das eine Entschuldigung war, dann ja wohl die halbherzigste, die ich je in meinem Leben erhalten hatte. Sie ließ fast alles zu wünschen übrig. Darauf gab es nur eine Antwort: »Ich habe es gehört.« Mehr würde ich von Andre nie bekommen.

Mittlerweile stand Sophie-Anne vor mir. Ich deutete eine Verneigung an. »In den nächsten Stunden brauche ich Sie in meiner Nähe«, sagte sie und musterte meine Kleidung von oben bis unten, als hätte ich mich ruhig etwas schicker machen können. Konnte ja keiner ahnen, dass der Teil des Abends, der mit »Handel« überschrieben war, Abendgarderobe erforderte.

Mr Cataliades, der in einem schönen Anzug mit dunkelrot-goldener Seidenkrawatte auf mich zugestürmt kam, rief: »Gut, Sie zu sehen, meine Liebe! Ich erkläre Ihnen kurz, worum es im Folgenden gehen wird.«

Ich breitete die Arme aus, um zu zeigen, dass ich bereit war. »Wo ist eigentlich Diantha?«, fragte ich beiläufig.

»Sie kümmert sich um irgendeine Angelegenheit des Hotels.« Mr Cataliades runzelte die Stirn. »Eine höchst seltsame Angelegenheit. Anscheinend gibt es im Keller einen Sarg zu viel.«

»Wie kann das sein?« Särge gehörten immer jemandem. In der Regel reisten Vampire nicht mit einem Ersatzsarg, so wie man Ersatzkleidung oder Ersatzschuhe mitnahm. »Warum hat man sich damit an Sie gewandt?«

»Es hing eines unserer Schilder daran«, sagte er.

»Aber all unsere Vampire sind doch eingecheckt, oder nicht?« Ich spürte eine Beklemmung in der Brust. In diesem Moment sah ich die üblichen Kellner durch die Menge eilen und sah, wie einer mich entdeckte und sich sofort abwandte. Dann entdeckte derselbe Kellner Barry, der mit dem König von Texas hereingekommen war, und wandte sich erneut ab.

Ich wollte schon einem Vampir in seiner Nähe zurufen, er solle den Kerl festhalten, damit ich mir seine Gedanken ansehen konnte. Herrje, dachte ich gerade noch rechtzeitig, ich begann bereits, mich genauso selbstherrlich aufzuführen wie die Vampire. Der Kellner verschwand, und ich hatte mir nicht mal seine Gesichtszüge eingeprägt. Wer weiß, ob ich ihn unter den vielen gleich gekleideten Kellnern überhaupt wiedererkennen würde. Mr Cataliades redete weiter. Ich hob die Hand und murmelte: »Eine Sekunde.« Das schnelle Sichabwenden des Kellners hatte mich an etwas erinnert, an etwas ziemlich Seltsames.

»Hören Sie mir bitte zu, Miss Stackhouse«, entgegnete der Rechtsanwalt, und ich musste meinen Gedanken gleich wieder fallen lassen. »Folgendes haben Sie zu tun: Die Königin wird einige Geschäftsverhandlungen führen, da sie Hilfe beim Wiederaufbau ihres Staates braucht. Tun Sie einfach, was Sie am besten können, und finden Sie heraus, ob alle Verhandlungspartner ehrbare Leute sind.«

Hm, keine sonderlich eindeutige Anweisung. »Ich tu mein Bestes«, versprach ich. »Aber Sie sollten nach Diantha sehen, Mr Cataliades. Ich finde diese Sache mit dem Sarg, von dem da die Rede ist, höchst merkwürdig. Übrigens gab es auch einen Koffer zu viel, den ich in die Suite der Königin gebracht habe.«

Mr Cataliades sah mich verständnislos an. Das Problem herrenloser Särge und Koffer in Hotels hielt er eindeutig für vernachlässigungswürdig, damit sollten sich andere beschäftigen.

»Hat Eric Ihnen von der ermordeten Frau erzählt?«, fragte ich. Das immerhin erregte seine Aufmerksamkeit.

»Ich habe Meister Eric heute Abend noch nicht gesehen«, sagte er. »Aber ich werde ihm sicher noch begegnen.«

»Irgendwas ist im Busche. Ich weiß nur nicht, was«, murmelte ich mehr oder weniger vor mich hin. Und dann drehte ich mich um und folgte Sophie-Anne.

Der »Handel« fand in einer Art Basar-Ambiente statt. Sophie-Anne stellte sich an den Tisch, an dem Bill saß und nun wieder seine Datenbank verkaufte. Pam, die ihm half, trug normale Kleider, das Haremskostüm hatte ausgedient. Wie das hier wohl vor sich geht, dachte ich und wartete erst mal ab. Ich fand es schnell genug heraus. Der Erste, der Sophie-Anne ansprach, war der blonde Richter von vorhin. »Verehrte Königin.« Er küsste ihr die Hand. »Ich bin wie immer entzückt, Sie zu sehen, und ganz erschüttert über die Verheerungen in Ihrer wunderschönen Stadt.«

»In einem kleinen Teil meiner wunderschönen Stadt«, sagte Sophie-Anne mit ihrem lieblichsten Lächeln.

»Ich mache mir große Sorgen, wenn ich an die finanziellen Nöte denke, in denen Sie stecken«, fuhr er fort, nicht ohne ihre Korrektur registriert zu haben. »Sie, die Herrscherin eines so rentablen und angesehenen Königreiches ... das jetzt derart am Boden liegt. Ich hoffe, Ihnen mit meinen bescheidenen Mitteln helfen zu können.«

»Und in welcher Form würde diese Hilfe erfolgen?«, fragte Sophie-Anne.

Nach viel Palaver stellte sich heraus, dass Mr Quasselköpf eine Unmenge Bauholz nach New Orleans liefern konnte, wenn Sophie-Anne bereit wäre, ihm zwei Prozent der Staatseinkünfte der nächsten fünf Jahre zu überlassen. Sein Buchhalter war bei ihm. Mit großer Neugier sah ich ihm in die Augen und trat einen Schritt zurück. Andre glitt an meine Seite. Ich drehte mich um, es sollte niemand von meinen Lippen lesen können.

»Die Qualität des Bauholzes«, flüsterte ich so leise wie der Flügelschlag eines Kolibris.

Es dauerte ewig, bis all die Verträge ausgehandelt waren, und es war öde, öde, öde. Einige der Möchtegern-Händler hatten keine Menschen bei sich - tja, da konnte ich auch nichts machen. Aber die meisten schon. Manchmal waren es sogar die Menschen, die die Vampire mit einer beachtlichen Summe »sponserten«, damit sie überhaupt in die Messehalle hineinkamen und ihr Angebot in einem persönlichen Gespräch unterbreiten konnten. Als Händler Nummer acht affektiert lächelnd vor der Königin stand, konnte ich ein Gähnen nicht länger unterdrücken. Bill stellte unterdessen Rekorde beim Verkauf seiner Datenbank auf. Für einen so zurückhaltenden Typen machte er seine Sache extrem gut, erklärte und pries das Produkt an und setzte eine Menge ab, vor allem wenn man bedenkt, wie misstrauisch Vampire Computern gegenüber sind. Aber wenn ich noch ein einziges Mal das Gequatsche von dem »jährlichen Update-Paket« hörte, würde ich kotzen. Es scharten sich jede Menge Menschen um Bill, weil die sehr viel besser Bescheid wussten über solche Dinge als Vampire. Und während sie abgelenkt waren, versuchte ich hier und da ihre Gedanken zu scannen, traf aber auf nichts anderes als Megahertz, RAM und Festplatten - all dieses Computerzeug eben.

Quinn sah ich nirgends. Da er ein Wergeschöpf war, musste seine Wunde von gestern Abend längst vollständig verheilt sein. Seine Abwesenheit konnte ich also nur als ein Zeichen deuten. Das Herz wurde mir schwer, ich hatte das alles hier so satt.

Die Königin lud Dahlia, die hübsche kleine und in ihren Urteilen so direkte Vampirin, auf einen Drink in ihre Suite ein. Dahlia nahm gnädig an, und unsere ganze Gruppe machte sich auf den Weg. Christian Baruch schloss sich uns ebenfalls an, er war schon den ganzen Abend um Sophie-Anne herumscharwenzelt.

Er machte der Königin den Hof, keine Frage, aber auf enorm plumpe Weise, um es mal freundlich auszudrücken. Wieder dachte ich an den Geliebten von gestern Abend, der seiner Vampirin wie eine Spinne mit den Fingern über den Rücken gekrabbelt war, weil er wusste, dass er sie damit erschrecken konnte, und wie sie sich daraufhin noch näher an ihn gekuschelt hatte. Ha! Die Glühbirne schwebte geradezu über meinem Kopf. Ob die anderen sie wohl sehen konnten?

Meine Meinung über den Hoteldirektor sank immer weiter. Wenn er glaubte, mit einer solchen Strategie bei Sophie-Anne landen zu können, musste er noch einige Lektionen lernen.

Jake Purifoy sah ich auch nirgends. Womit hatte Andre den wohl beauftragt? Sicher mit etwas Harmlosem, vermutlich sah er nach, ob alle Autos aufgetankt waren. Gefährlichere Dinge wurden ihm nicht anvertraut, noch nicht jedenfalls. Jakes Jugend und sein Werwolferbe sprachen gegen ihn. Er würde Knochenarbeit leisten müssen, um Punkte zu machen. Aber dieses Feuer hatte Jake nicht in sich. Er blickte in die Vergangenheit zurück und sehnte sich nach seinem Leben als Werwolf. Jake steckte voll Bitterkeit.

Sophie-Annes Suite war gereinigt worden. Vampirzimmer wurden natürlich stets bei Nacht gereinigt, während die Gäste unterwegs waren. Christian Baruch erzählte uns, wie viele Aushilfskräfte er hatte einstellen müssen, um dem Ansturm zur Vampirkonferenz gerecht zu werden, und wie nervös es manche von ihnen machte, dass sie Vampirzimmer reinigen mussten. Ich hätte schwören können, dass Sophie-Anne sich kein bisschen von Baruchs Überlegenheitsgefühl beeindrucken ließ. Er war so viel jünger als sie und wirkte vermutlich bloß wie ein angeberischer Teenager auf die jahrhundertealte Königin.

In diesem Augenblick kam Jake herein, erwies der Königin die erforderliche Achtung, begrüßte Dahlia und setzte sich dann zu mir. Ich hockte auf einem unbequemen harten Stuhl, und er zog sich genauso einen heran.

»Und, was machen Sie so, Jake?«

»Nicht viel. Ich habe für die Königin und Andre Tickets für ein Musical besorgt, eine reine Vampir-Produktion von Hello, Dolly!

Ich versuchte kurz, mir das vorzustellen, aber es gelang mir nicht. »Und was machen Sie später? Für den Rest des Abends steht Freizeit auf dem Programm.«

»Weiß nicht«, sagte er in seltsam entrücktem Ton. »Mein Leben hat sich so sehr verändert, dass ich einfach nicht vorhersagen kann, was passieren wird. Gehen Sie morgen tagsüber aus, Sookie? Shoppen, vielleicht? Am Widewater Drive gibt's ein paar wunderbare Geschäfte. Das ist unten beim Michigansee.«

Sogar ich hatte schon vom Widewater Drive gehört. »Mal sehen, vielleicht. Shoppen liegt mir nicht so.«

»Da sollten Sie wirklich hingehen. Dort gibt's ein paar tolle Schuhgeschäfte und einen großen Macy's. Machen Sie sich einen schönen Tag. Verlassen Sie das Hotel, solange es geht.«

»Ich überleg's mir mal«, sagte ich ein wenig verwirrt. »Äh, haben Sie Quinn heute schon gesehen?«

»Flüchtig. Und Frannie habe ich eine Minute gesprochen. Sie waren sehr beschäftigt damit, alle Requisiten für die Abschlusszeremonie herbeizuschaffen.«

»Oh, ja.« Richtig. Natürlich. So was nahm unglaublich viel Zeit in Anspruch.

»Rufen Sie ihn an, fragen Sie ihn, ob er morgen mit Ihnen in die Stadt geht«, sagte Jake.

Wie bitte, Quinn und ich beim Shoppen? Ich versuchte, es mir vorzustellen. Okay, es war nicht völlig absurd, aber sehr wahrscheinlich war es nicht. Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht mache ich das.«

Darüber schien er sich zu freuen.

»Miss Sookie, wir brauchen Sie jetzt nicht mehr«, sagte Andre. Ich war so müde, dass ich ihn nicht mal hatte hereinkommen hören.

»Okay. Dann gute Nacht an alle«, erwiderte ich und stand auf. Ich sah, dass der blaue Koffer noch an derselben Stelle war, wo ich ihn vor zwei Nächten abgestellt hatte. »Oh, Jake, diesen Koffer da sollten Sie in den Keller zurückbringen. Wir wurden angerufen, dass wir ihn abholen sollen, aber er scheint keinem zu gehören.«

»Ich frag mal rum«, entgegnete er unbestimmt und machte sich auf in sein eigenes Zimmer. Andre hatte längst seine Aufmerksamkeit wieder der Königin zugewandt, die über die Beschreibung einer Hochzeit lachte, auf der Dahlia eingeladen gewesen war.

»Andre«, sagte ich sehr leise, »eins muss ich Ihnen noch sagen: Ich glaube, dass Mr Baruch etwas mit der Bombe auf der Etage der Königin zu tun hat.«

Andre sah mich an, als hätte ihm jemand einen Nagel in den Hintern getrieben. »Was?«

»Ich glaube, dass er Sophie-Anne einen Schrecken einjagen wollte«, fuhr ich fort. »Er hält sie wohl für verletzlich und meint, sie würde sich nach einem starken Beschützer sehnen, wenn sie sich bedroht fühlt.«

Andre war nicht gerade Mr Mienenspiel, aber ich sah in schneller Folge Ungläubigkeit, Abscheu und Überzeugung über sein Gesicht ziehen.

»Und ich glaube, dass vermutlich auch er Henrik Feith gesagt hat, Sophie-Anne wolle ihn töten. Er ist doch der Hoteldirektor, oder? Dann hat er einen Schlüssel für die Suite der Königin. Wir meinten, wir hätten Henrik hier sicher untergebracht, aber er hat ihm das Gegenteil bewiesen, damit Henrik im Prozess gegen sie aussagt. In dem Christian Baruch wieder den großen Retter spielen wollte. Wer weiß, vielleicht hat sogar er Henrik töten lassen, nachdem er ihn zuerst angestachelt hatte. So konnte er mit großem Trara Sophie-Anne beeindrucken und all seine wunderbare Fürsorge ausspielen.«

Andres Miene war so merkwürdig wie noch nie zuvor, fast so, als könne er mir nicht folgen. »Gibt es dafür einen Beweis?«, fragte er.

»Nicht den kleinsten. Aber als ich Mr Donati heute Mittag am Haupteingang sprach, gab er mir den Tipp, ich solle mir mal ein bestimmtes Sicherheitsvideo ansehen.«

»Sehen Sie es sich an«, sagte Andre.

»Wenn ich darum bitte, wird Mr Donati gefeuert. Bringen Sie die Königin dazu, Mr Baruch ganz geradeheraus um das Sicherheitsvideo zu bitten, das den Bereich vor ihrer Suite zu jener Zeit zeigt, als die Bombe gelegt wurde. Kaugummi auf der Linse oder nicht, auf dem Video ist irgendwas zu sehen.«

»Zuerst müssen Sie gehen, sonst bringt er Sie damit in Verbindung.« Glaubte er das wirklich? Wenn mich nicht alles täuschte, war der Hoteldirektor so sehr in sein Gespräch mit der Königin vertieft, dass nicht mal sein präzises Vampirgehör ihm verraten hatte, dass wir über ihn sprachen.

Obwohl ich total erledigt war, hatte ich das gute Gefühl, jeden Dollar wert zu sein, den mir die Vampire für diese Reise zahlten. Mir fiel eine Zentnerlast von den Schultern, weil diese Dr-Pepper-Sache geklärt war. Christian Baruch würde keine weiteren Bomben mehr legen, jetzt, da er sich der Königin schon so nahe fühlte. Blieb die Drohung dieser Splittergruppe der Bruderschaft ... ach, das war alles nur Hörensagen, und ich hatte keinerlei Hinweis, welche Form diese Drohung annehmen würde. Trotz des Todes der Frau in dem Club für Bogenschützen war ich so erleichtert wie schon seit meiner Ankunft in der Pyramide von Giseh nicht mehr, weil ich meinte, den Pfeilkiller mit Baruch in Verbindung bringen zu können. Vielleicht hatte er gefürchtet, Henrik wolle der Königin Arkansas wegnehmen, war wütend geworden und hatte einen Mörder angeheuert, der Henrik aus dem Weg räumte. Irgendwas an diesem Szenario war verwirrend und falsch, aber ich war zu müde, um darüber nachzudenken. Dieses verworrene Gewebe musste erst mal liegen bleiben, bis ich ausgeschlafen war.

Ich ging von der Suite zu den Fahrstühlen und drückte den Knopf. Als die Türen aufgingen, trat Bill heraus, die Arme voller Bestellformulare.

»Du hattest Erfolg heute Abend«, sagte ich. Oje, ich war sogar schon zu müde, um Bill zu hassen.

»Ja, damit verdienen wir alle eine Menge Geld«, erwiderte er, aber es klang nicht sonderlich froh.

Ich wartete, dass er mir aus dem Weg trat, aber er rührte sich nicht von der Stelle.

»Ich würde das alles sofort hergeben, wenn ich auslöschen könnte, was zwischen uns geschehen ist«, sagte Bill. »Nicht die Zeit, in der wir uns geliebt haben, natürlich, aber...«

»Die Zeit, in der du mich angelogen hast? Die Zeit, in der du beteuert hast, du könntest es kaum erwarten, mich zu sehen, obwohl du nur auf Befehl gehandelt hast? Die Zeit?«

»Ja«, sagte er, und der Blick seiner dunkelbraunen Augen blieb fest. »Die Zeit.«

»Du hast mich sehr verletzt. Dazu bekommst du nie wieder Gelegenheit.«

»Liebst du eigentlich jeden Mann? Quinn? Eric? Sogar diesen Dummkopf JB?«

»Du hast nicht das Recht, mir solche Fragen zu stellen«, sagte ich. »Du hast überhaupt gar kein Recht in Dingen, die mich betreffen.«

JB? Was sollte das denn? Ich hatte JB immer gemocht, und er sah wirklich blendend aus, auch wenn die Gespräche mit ihm stets so anregend waren wie die mit einem Baumstumpf. Ich schüttelte bloß den Kopf, während ich mit dem Fahrstuhl hinunter auf die Etage für Menschen fuhr.

Carla war nicht da, wie üblich, und weil es bereits fünf Uhr morgens war, standen die Chancen gut, dass sie auch nicht mehr auftauchte. Ich schlüpfte in mein rosa Nachthemd, zog mir die Decke über den Kopf und schlief sofort ein.