Kapitel 12
Ich wollte nur noch so schnell wie möglich aus dem Gedränge im Zeremoniensaal heraus und rannte prompt in einen Vampir hinein, der herumwirbelte und sich gerade noch an meinen Schultern festhalten konnte. Er hatte einen langen Fu-Manchu-Bart und eine Mähne, die gleich mehreren Pferden alle Ehre gemacht hätte, und trug einen gediegenen schwarzen Anzug. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich das vielleicht ganz lustig gefunden. Doch jetzt wollte ich bloß weg.
»Warum diese Eile, meine Hübsche?«, fragte er.
»Sir«, erwiderte ich höflich, denn er schien schon älter zu sein, »ich bin wirklich sehr in Eile. Entschuldigen Sie, dass ich Sie fast umgestoßen hätte, aber ich muss weiter.«
»Sie sind nicht zufällig eine Blutspenderin?«
»Nein, sorry.«
Unvermittelt ließ er meine Schultern los und wandte sich wieder dem Gespräch zu, das ich unterbrochen hatte. Erleichtert setzte ich meinen Weg durch die versammelten Hochzeitsgäste fort, diesmal etwas vorsichtiger, denn auf noch mehr Aufregung war ich nun wahrlich nicht scharf.
»Da sind Sie ja!«, rief Andre. Er klang beinahe zornig. »Die Königin braucht Sie.«
Ich musste mir erst selbst wieder ins Gedächtnis rufen, dass ich ja zum Arbeiten hier war und es auf meine eigenen inneren Dramen eigentlich nicht ankam. Also folgte ich Andre zur Königin, die sich mit einigen Vampiren und Menschen unterhielt.
»Natürlich stehe ich auf Ihrer Seite, Sophie«, beteuerte eine Vampirin in einem rosefarbenen Chiffonabendkleid, das an einer Schulter mit einer großen, von Diamanten nur so blitzenden Brosche zusammengehalten wurde. Auf mich wirkten sie echt, vielleicht waren es aber auch bloß Swarovski-Kristalle. Wer weiß das schon? Das blasse Rosa stand in sehr schönem Kontrast zu ihrer schokoladenbraunen Haut. »Arkansas war ohnehin ein Mistkerl. Ich habe mich gewundert, dass Sie ihn überhaupt geheiratet haben.«
»Sie werden sich also wohlwollend zeigen, wenn ich vor Gericht stehe, Alabama?«, fragte Sophie-Anne. Man hätte schwören mögen, sie sei keinen Tag älter als sechzehn. Ihr Gesicht war glatt und frisch, ihre großen Augen glänzten, ihr Make-up war kaum wahrnehmbar. Und das braune Haar trug sie offen, was ganz untypisch war für Sophie-Anne.
Der Ton der anderen Vampirin wurde sanft. »Aber natürlich.«
Der Mensch in ihrer Begleitung, ein Vampirsüchtiger in Designerkleidung, dachte: Das gilt noch ganze zehn Minuten, wenn sie Sophie-Anne den Rücken gekehrt hat. Dann wird gleich das nächste Komplott geschmiedet. Na klar, sie behaupten alle, dass sie knisternde Kaminfeuer und lange Strandspaziergänge im Mondschein mögen. Aber auf solchen Treffen geht's immer bloß um Taktik, Taktik, Taktik und Lüge, Lüge, Lüge.
Sophie-Annes Blick streifte meinen, und ich schüttelte fast unmerklich den Kopf. Alabama entschuldigte sich, weil sie den Neuvermählten gratulieren wolle, und ihr Begleiter folgte ihr. Vorsichtig wegen all der Ohren um uns herum, die so viel besser hören konnten als ich selbst, sagte ich: »Später«, und Andre nickte mir zu.
Als Nächster machte der König von Kentucky Sophie-Anne seine Aufwartung, der Mann, der von Britlingen bewacht wurde. Kentucky sah aus wie ein verhinderter Westernheld in seiner Lederhose und dem Wildlederhemd, den mit Fransen besetzten Wildlederstiefeln und dem großen, um seinen Hals geschlungenen Seidentuch. Vielleicht brauchte er die Bodyguards, damit sie ihn vor der Modepolizei schützten.
Batanya und Clovache konnte ich nirgends entdecken, die hatte er wohl in seiner Suite zurückgelassen. Keine Ahnung, wozu so teure Bodyguards aus einer anderen Dimension gut sein sollten, wenn man sie dann doch nicht um sich hatte. Weil ich gerade keinen Menschen mitsamt seinen Gedanken zur Ablenkung hatte, sah ich mich ein wenig um, und da bemerkte ich etwas höchst Seltsames: Der Platz hinter Kentucky war leer - und blieb auch leer. Egal, wie viele Leute an uns vorbeikamen oder wie praktisch es gewesen wäre, direkt hinter Kentucky entlangzugehen, irgendwie tat es niemand. Na, da schienen die Britlinge ja doch im Dienst zu sein.
»Sophie-Anne, was für ein herrlicher Anblick«, sagte der König in einem süßlich gedehnten Tonfall, der nur so triefte vor Schmalz. Er schien Wert darauf zu legen, dass Sophie-Anne seine leicht ausgefahrenen Fangzähne sah. Igitt.
»Isaiah, wie schön, Sie zu sehen«, erwiderte Sophie-Anne, deren Stimme und Miene ruhig und gelassen waren wie stets. Ob sie wohl wusste, dass seine Bodyguards direkt hinter ihm standen? Ich trat etwas näher heran und bemerkte, dass ich Clovache und Batanya zwar nicht sehen, aber die Anwesenheit ihres Geistes wahrnehmen konnte. Dieselbe Magie, die ihre Körper umhüllte, dämpfte zwar auch ihre Gedanken, aber von beiden vernahm ich noch ein dumpfes Echo. Ich lächelte die Britlinge an, was ziemlich dämlich war, denn Isaiah, der König von Kentucky, bekam das natürlich sofort mit. Ich hätte wissen sollen, dass er klüger war, als er aussah.
»Sophie-Anne, ich würde gern mit Ihnen plaudern, doch zuerst müssen Sie diese kleine Blonde hier wegschicken«, sagte Kentucky mit einem breiten Lächeln. »Sie macht mich ganz nervös.« Er nickte in meine Richtung, als hätte Sophie-Anne eine ganze Anzahl blonder Frauen in ihrem Gefolge.
»Natürlich, Isaiah«, erwiderte Sophie-Anne und sah mich völlig gelassen an. »Sookie, gehen Sie bitte hinunter ins Kellergeschoss und holen Sie diesen Koffer. Da hat doch vorhin so ein Angestellter angerufen.«
»Gern.« Ich hatte nichts gegen einen kleinen Botengang. Die schroffe Stimme vorhin am Telefon hatte ich schon fast vergessen gehabt. Mir kam es zwar etwas seltsam vor, dass wir selbst in die tiefsten Tiefen des Hotels hinabsteigen mussten, statt den Koffer von einem Gepäckträger in die höchsten Höhen geliefert zu bekommen. Aber die Luft war ja schließlich überall dieselbe, nicht wahr?
Als ich mich umdrehte und ging, war Andres Miene so ausdruckslos wie immer. Erst als ich schon fast außer Hörweite war, sagte er: »Entschuldigen Sie, Majestät, aber wir haben Miss Sookie gar nichts von unseren Plänen für den heutigen Abend erzählt.« Und mit einer dieser beunruhigend rasanten Bewegungen stand er plötzlich neben mir und legte mir die Hand auf den Arm. Hatte er etwa eine telepathische Anweisung von Sophie-Anne erhalten? Ohne ein Wort hatte Sigebert Andres Platz neben der Königin eingenommen.
»Wir müssen reden«, sagte Andre, und im Bruchteil einer Sekunde hatte er mich zu einer Tür mit der Aufschrift AUSGANG geführt. Und dann standen wir in einem leeren, beige gestrichenen Servicedurchgang, der sich etwa zehn Meter vor uns erstreckte, ehe er eine Biegung nach rechts machte. Zwei schwer beladene Kellner bogen um die Ecke und warfen uns neugierige Blicke zu. Doch als sie Andre in die Augen sahen, kamen sie sogleich wieder eiligst ihren Pflichten nach.
»Die Britlinge sind hier«, sagte ich, denn ich nahm an, dass Andre darüber unter vier Augen mit mir sprechen wollte. »Sie stehen hinter Kentucky. Können sich alle Britlinge unsichtbar machen?«
Andre bewegte sich noch einmal so rasend schnell, dass ich nur ein verschwommenes Wischen sah. Dann stand er plötzlich vor mir und hielt mir sein blutendes Handgelenk hin. »Trinken Sie«, sagte er, und ich spürte, wie er mich zu bedrängen versuchte.
»Nein«, rief ich, erschrocken über die Bewegung, die Aufforderung, das Blut. »Warum?« Ich wollte zurückweichen, doch es war nirgends Platz und keiner da, der mir helfen konnte.
»Sie brauchen eine stärkere Verbindung zu Sophie-Anne und zu mir. Wir wollen Sie durch mehr als nur durch einen Gehaltsscheck an uns binden. Sie haben sich schon jetzt als wertvoller erwiesen, als wir zu hoffen wagten. Diese Konferenz ist entscheidend für unser Überleben, und wir müssen jeden Vorteil nutzen, den wir kriegen können.«
Na, wenn das nicht brutal ehrlich war.
»Aber ich will nicht, dass Sie Kontrolle über mich haben«, erklärte ich ihm. Wie schrecklich, dass meine Stimme vor lauter Angst so zittrig klang. »Ich will nicht, dass Sie wissen, wie ich mich fühle. Ich wurde für die Dauer dieser Vampirkonferenz angestellt, und danach kehre ich in mein wirkliches Leben zurück.«
»Sie haben kein wirkliches Leben mehr.« Andre wirkte nicht mal unfreundlich bei diesen Worten - und das war das Unheimlichste und Furchterregendste daran -, sondern vollkommen sachlich.
»Doch! Ihr Vampirtypen seid bloß das Blinken auf dem Radar, nicht ich!« Keine Ahnung, was genau ich damit meinte, aber Andre verstand die generelle Tendenz.
»Es ist mir egal, welche Pläne Sie für den Rest Ihres menschlichen Lebens haben«, sagte er und zuckte die Achseln. Auf das Leben pfeif ich, hieß das im Klartext. »Unsere Position wird gestärkt, wenn Sie mein Blut haben, also müssen Sie davon trinken. Ich erkläre Ihnen das alles - und mit so etwas halte ich mich im Allgemeinen nicht auf -, weil ich Ihre Fähigkeiten sehr schätze.«
Ich stieß ihn weg, doch genauso gut hätte ich einen Elefanten wegstoßen können. So was klappte nur, wenn der Elefant sich bewegen wollte. Und Andre wollte nicht. Sein Handgelenk näherte sich meinem Mund. Ich presste die Lippen zusammen, obwohl ich wusste, dass Andre mir, wenn nötig, auch die Zähne einschlagen würde. Denn den Mund zu öffnen und zu schreien, nützte auch nichts. Da hätte ich Andres Blut im Mund, noch ehe ich Jack Robinson sagen könnte.
Plötzlich tauchte eine dritte Gestalt in diesem öden beigen Durchgang auf. Neben uns stand Eric, immer noch in dem schwarzen Samtumhang, die Kapuze zurückgeworfen und mit einem ganz untypischen, unsicheren Ausdruck im Gesicht.
»Andre«, sagte er, und seine Stimme klang tiefer als gewöhnlich. »Warum tun Sie das?«
»Zweifeln Sie etwa den Willen Ihrer Königin an?«
Eric befand sich in der schlechteren Position, denn hier behinderte er eindeutig eine Ausführung von Befehlen der Königin - zumindest vermutete ich, dass die Königin hiervon wusste. Aber ich konnte nur beten, dass Eric bleiben und mir helfen möge. Ich flehte ihn mit Blicken geradezu an.
Ich hätte einige Vampire nennen können, mit denen ich eher eine Verbindung eingegangen wäre als mit Andre. Und überhaupt, wie kam er eigentlich dazu, mich so zu behandeln? Ich hatte ihm und Sophie-Anne einen so guten Vorschlag gemacht, wie er König von Arkansas werden könnte. Sollte mir das jetzt auf diese Weise vergolten werden? Na, das nächste Mal würde ich gleich den Mund halten und Vampire einfach wie Menschen behandeln.
»Andre, lassen Sie mich Ihnen einen Vorschlag machen«, sagte Eric in viel coolerem, gelassenerem Ton. Prima. Er riss sich zusammen. Das war auch nötig. »Sookie muss bei Laune gehalten werden, sonst arbeitet sie nicht mit uns zusammen.«
Oh, Scheiße. Irgendwie schwante mir schon, dass sein Vorschlag nicht lauten würde: »Lassen Sie sie gehen, oder ich breche Ihnen das Genick.« Dafür war Eric zu gerissen. Wo blieb eigentlich John Wayne, wenn man ihn brauchte? Oder Bruce Willis? Matt Damon? Ich wäre ja schon froh gewesen, wenn wenigstens Jason Bourne aufgetaucht wäre.
»Sookie und ich hatten schon öfter das Blut des anderen«, sagte Eric. »Wir waren sogar mal ein Liebespaar.« Er trat einen Schritt näher. »Sie würde sich bestimmt nicht so anstellen, wenn ich ihr mein Blut gebe. Würde das Ihren Absichten nicht entgegenkommen? Ich habe Ihnen Treue geschworen.« Respektvoll beugte er das Haupt. Er war ungemein vorsichtig. Was mich Andre nur umso mehr fürchten ließ.
Andre ließ von mir ab, während er nachdachte. Sein Handgelenk war fast schon wieder verheilt. Ich holte ein paarmal tief, aber zitternd Luft. Mein Herz raste.
Andre sah Eric an, und ich meinte, eine Menge Misstrauen in seinem Blick zu erkennen. Dann sah er mich an.
»Sie sehen aus wie ein Hase, der sich unter einem Busch versteckt, während der Fuchs Jagd auf ihn macht«, sagte Andre und hielt dann lange inne. »Sie haben meiner Königin und mir einen großen Gefallen getan«, fuhr er schließlich fort. »Schon mehr als einmal. Wenn das Endergebnis stimmt, warum nicht?«
Ich wollte schon erwidern: »Und ich bin die einzige Zeugin, die bei Peter Threadgills Tod anwesend war.« Doch mein Schutzengel versiegelte mir gerade noch rechtzeitig die Lippen. Okay, vielleicht war's nicht mein richtiger Schutzengel, sondern mein Unterbewusstsein, das mir verbot, diese Worte auszusprechen. Aber egal. Ich war dankbar.
»Einverstanden, Eric«, sagte Andre. »Solange sie an einen Vampir aus unserem Königreich gebunden ist. Ich habe nur einmal einen Tropfen ihres Blutes gekostet, um herauszufinden, ob sie zum Teil eine Elfe ist. Und wenn Sie beide schon öfter das Blut des anderen hatten, besteht zwischen Ihnen bereits eine Verbindung. Hat sie Ihrem Ruf gut gehorcht?«
Was? Welchem Ruf? Wann? Eric hatte mich nie gerufen. Das hätte ich mir auch verbeten.
»Ja, sie folgt sehr gut«, erwiderte Eric, ohne mit der Wimper zu zucken. Was? Ich wäre beinahe explodiert.
Doch weil das die Wirkung von Erics Worten ruiniert hätte, senkte ich nur den Blick, als wäre mir diese Art Leibeigenschaft peinlich.
»Nun«, sagte Andre mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Dann los.«
»Hier und jetzt? Ich würde eine etwas privatere Umgebung vorziehen«, entgegnete Eric.
»Hier und jetzt.« Noch mehr Kompromisse würde Andre nicht eingehen.
»Sookie.« Eric sah mich eindringlich an.
Ich erwiderte seinen Blick, denn ich hatte natürlich verstanden, was er mir mit diesem einen Wort sagen wollte. Es gab keinen anderen Ausweg. Kein Trampeln, Schreien oder Verweigern würde diese Prozedur verhindern. Eric hatte mich davor bewahrt, mich Andre fügen zu müssen. Mehr konnte auch er nicht tun.
Eric zog eine Augenbraue hoch.
Mit dieser hochgezogenen Augenbraue wollte er mir sagen, dass dies meine einzige Chance sei, dass er mir nicht wehtun werde, dass eine Verbindung zu ihm der zu Andre tausendfach vorzuziehen sei.
All das wusste ich. Nicht nur, weil ich ja nicht doof war, sondern vor allem, weil zwischen Eric und mir wirklich bereits eine Verbindung bestand. Sowohl Eric als auch Bill hatten mein Blut gehabt und ich das ihre. Zum ersten Mal verstand ich, dass diese Verbindung etwas bedeutete. Sah ich in den beiden nicht eher Menschen als Vampire? Hatten sie nicht die Macht, mir stärker wehzutun als andere? Es waren nicht allein die vergangenen Liebesbeziehungen zu ihnen, die mich an sie banden. Es hatte mit dem Blut zu tun. Vielleicht konnten sie mich wegen meiner ungewöhnlichen Herkunft nicht herumkommandieren. Eric und Bill konnten keine Macht über meine Gedanken ausüben und sie auch nicht lesen. Aber es gab da ein Band zwischen uns. Wie oft hatte ich ihre Leben im Hintergrund rauschen hören, ohne zu wissen, was genau ich da vernahm?
Herrje, wie lange es dauert, das alles zu erzählen! Dabei waren mir all diese Gedanken blitzartig durch den Kopf geschossen.
»Eric«, sagte ich und neigte leicht den Kopf. Aus dieser Geste und diesem Wort las er genauso viel heraus wie ich vorhin aus seinem. Mit ausgestreckten Armen trat er auf mich zu, so dass der schwarze Umhang uns umfing und wir uns wenigstens der Illusion von Privatsphäre hingeben konnten. Eine ziemlich kitschige Geste, aber nett gemeint. »Eric, keinen Sex«, sagte ich so entschlossen wie möglich. Ich konnte mich mit all dem abfinden, solange wir nicht wie ein Liebespaar das Blut tauschten. Und ich würde garantiert nicht vor einem Zuschauer Sex haben. Eric beugte sich über mich, und sein Mund näherte sich meinem Nacken, meiner Schulter, während sich sein Körper an den meinen drängte. Ich schlang die Arme um ihn, auf diese Weise konnte ich am bequemsten stehen. Dann der Biss. Ich konnte einen kleinen Schmerzensschrei nicht unterdrücken.
Aber er hörte nicht auf. Gott sei Dank, denn ich wollte es hinter mich bringen. Mit einer Hand strich er mir über den Rücken, als wolle er mich besänftigen.
Nach einigen sehr langen Sekunden leckte Eric mir den Nacken, damit sich mithilfe seines gerinnungsfördernden Speichels die kleine Wunde gleich wieder schloss. »Jetzt du, Sookie«, flüsterte er mir direkt ins Ohr. Seinen Nacken hätte ich nur erreicht, wenn wir uns hingelegt hätten, so schrecklich verrenken konnte sich keiner. Er wollte mir schon sein Handgelenk anbieten, aber auch das wäre mit viel Umstand verbunden gewesen. Also knöpfte ich einfach sein Hemd auf und - zögerte. Diesen Part hatte ich schon immer gehasst. Menschenzähne sind nicht annähernd so scharf wie die von Vampiren, und es würde natürlich eine Schmiererei geben, wenn ich zubiss. Doch Eric tat etwas Überraschendes: Er zog den kleinen Zeremoniendolch hervor, den er bei der Trauung von Mississippi und Indiana benutzt hatte. Und ebenso rasch, wie er den Königen die Handgelenke aufgeritzt hatte, schnitt er sich etwas unterhalb der Brustwarze in die Haut. Träge quoll das Blut hervor, aber ich nutzte gleich meine Chance. Herrje, eigentlich war so was eine fürchterlich intime Angelegenheit. Aber wenigstens musste ich Andre nicht ansehen, und er konnte mich auch nicht sehen.
Eric wurde unruhig, ja richtig ruhelos, und ich bemerkte, dass ihn das Ganze anmachte. Tja, dagegen konnte ich auch nichts tun, außer die entscheidenden paar Zentimeter Abstand zwischen uns zu halten. Ich saugte an der Wunde, und Eric gab einen Laut von sich. Wenn ich's nur schon hinter mir hätte. Vampirblut ist dick und beinahe süß, aber wenn man nicht sexuell erregt ist und drüber nachdenkt, was man da eigentlich tut, graut's einem doch ziemlich. Nachdem genug Zeit vergangen war, wie ich fand, knöpfte ich Erics Hemd mit zittrigen Händen schließlich wieder zu und hoffte, dieser kleine Zwischenfall sei damit erledigt und ich könne mich irgendwo verstecken, bis mein pochendes Herz sich wieder beruhigt hatte.
Doch dann riss Quinn die Tür auf und stürmte in den Servicedurchgang hinein.
»Was zum Teufel ist hier los?«, brüllte er. Ich war nicht sicher, ob er mich, Eric oder Andre angesprochen hatte.
»Sie befolgen Befehle«, sagte Andre scharf.
»Meine Freundin muss Ihre Befehle nicht befolgen«, erwiderte Quinn.
Ich wollte schon protestieren. Doch durfte ich in einer solchen Lage zu Quinn einfach sagen, dass ich auf mich selbst aufpassen könne?
In derart katastrophalen Situationen gibt es leider kein »richtiges« Benehmen. Hier konnte noch nicht mal die Allzweckwaffe meiner Großmutter (»Verhalte dich stets so, dass alle sich wohlfühlen.«) irgendwas ausrichten. Wozu die »Liebe Abby« mir wohl geraten hätte?
»Andre«, sagte ich und versuchte, entschlossen statt eingeschüchtert und verängstigt zu klingen, »ich werde den Job für die Königin erledigen, weil ich es zugesagt habe. Aber ich werde nie wieder für Sie beide arbeiten. Eric, vielen Dank, dass du mir die Sache so angenehm wie möglich gemacht hast.« (Auch wenn angenehm kaum das richtige Wort zu sein schien.)
Eric war einen Schritt vorwärts gewankt, um sich an die Wand zu lehnen. Sein Umhang hatte sich geöffnet, und an seiner Hose war deutlich ein Fleck zu erkennen. »Oh, gern geschehen«, erwiderte er verträumt.
Was sollte das denn? Vermutlich tat er das auch noch absichtlich. Ich spürte, wie meine Wangen rot anliefen. »Quinn, wir reden später miteinander, wie abgemacht«, sagte ich - und zögerte dann. »Das heißt, wenn du noch mit mir reden willst.« Es wäre zwar unfair gewesen, es auszusprechen, doch mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er besser zehn Minuten früher aufgetaucht wäre oder... gar nicht.
Und ohne einen weiteren Blick nach links oder rechts marschierte ich den Gang entlang, bog rechts um die Ecke und ging durch eine Schwingtür direkt in die Küche hinein.
Dort hatte ich natürlich gar nichts zu suchen, aber wenigstens war ich die drei Männer los. »Wo wird das Gepäck der Gäste angeliefert?«, fragte ich die erste Angestellte in Uniform, die mir begegnete. Es war eine Kellnerin, die gerade Gläser voll Blut auf ein Tablett lud und in ihrer Arbeit nicht innehielt, aber mit dem Kopf in Richtung einer Tür mit der Aufschrift AUSGANG nickte. Davon schien es heute Abend ja jede Menge zu geben.
Diese Tür war schwerer und brachte mich zu einer Treppe, die in einen Bereich führte, der anscheinend unterhalb des Erdgeschosses lag. Dort, wo ich herkam, gab es keine Keller (der Grundwasserspiegel war zu hoch), und mich überlief ein leichter Schauder, als ich Stufe um Stufe hinabstieg.
Ich stieg immer weiter und weiter hinab, ganz auf diesen dämlichen Koffer konzentriert, damit ich an nichts anderes dachte - und als sei ich vor irgendwas auf der Flucht, was ja irgendwie auch stimmte. Doch auf dem Treppenabsatz blieb ich auf einmal stehen.
Allen entkommen und wirklich allein stand ich einen Augenblick lang einfach nur reglos da, eine Hand an die Wand gestützt. Und ließ das eben Geschehene noch einmal auf mich wirken. Ich begann zu zittern, und als ich an meinen Hals fasste, bemerkte ich, dass mein Kragen sich komisch anfühlte. Ich zog an dem Stoff, drehte den Kopf seitwärts und warf einen Blick darauf. Der Kragen war voller Blut. Tränen schossen mir in die Augen, meine Knie gaben nach, und so saß ich dort auf dem Absatz dieser düsteren Treppe in einer Stadt meilenweit weg von zu Hause.