Kapitel 5

Ich lief herum wie eine Schlafwandlerin. Nur gut, dass ich im Merlotte's wie zu Hause war und jeden Quadratzentimeter kannte, sonst wäre ich glatt gegen alle Tische und Stühle gerannt. Doch ein herzhaftes Gähnen konnte ich nicht unterdrücken, als ich Selah Pumphreys Bestellung aufnahm. Gewöhnlich nervte Selah mich höllisch. Sie ging schon seit Wochen mit meinem namenlosen Exliebhaber aus - hm, schon seit Monaten. Ach, egal, wie lange sie mit meinem nicht existenten Ex zusammen war, meine beste Freundin war Selah noch nie gewesen.

»Sie haben wohl nicht ausgeschlafen, Sookie«, bemerkte sie in spitzem Tonfall.

»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich. »Wohl nicht. Ich war gestern Abend auf der Hochzeit meines Bruders. Welches Dressing wollten Sie noch mal für den Salat?«

»Ranch-Dressing.« Selah musterte mich mit ihren dunklen Augen so eindringlich, als wollte sie mein Porträt in Kupfer stechen. Am liebsten hätte sie alles über Jasons Hochzeit erfahren. Aber mir Fragen zu stellen, das ging natürlich gar nicht, da würde sie ja den Feind Boden gutmachen lassen. Selten dämlich, Selah.

Aber wo ich schon dabei war: Was tat sie eigentlich hier? Selah war noch nie ohne Bill ins Merlotte's gekommen, außerdem wohnte sie in Clarice. Nicht, dass Clarice weit weg wäre, in fünfzehn, zwanzig Minuten war man dort. Doch warum sollte eine Immobilienmaklerin aus Clarice ... ach, sie hatte hier einen Termin für eine Hausbesichtigung. Tja, mein Gehirn arbeitete heute wohl auch etwas langsamer.

»Alles klar. Kommt gleich«, sagte ich und wollte gehen.

»Hören Sie«, begann Selah. »Ich will ganz offen sein.«

Au weia. Meiner Erfahrung nach hieß das: Ich will jetzt mal richtig gemein werden.

Ich drehte mich wieder zu ihr um und versuchte, nicht so abgrundtief genervt auszusehen, wie ich es war. Heute sollte mir bloß keiner blöd kommen. Neben all den vielen anderen Sorgen, die ich mir machte, war Amelia nachts nicht nach Hause gekommen, und als ich nach oben ging, um nach Bob zu sehen, hatte der Kater mitten auf Amelias Bett gekotzt ... was ja noch nicht mal so schlimm gewesen wäre, wenn nicht die alte Steppdecke meiner Urgroßmutter draufgelegen hätte. Und es war natürlich mir überlassen geblieben, das Malheur zu beseitigen und die Decke in die Waschmaschine zu stopfen. Außerdem war Quinn frühmorgens weggefahren, worüber ich einfach bloß traurig war. Und dann gab's ja auch noch Jasons Ehe, die jede Menge Potenzial hatte, sich zu einer Katastrophe auszuwachsen.

Mir würden sicher noch einige weitere Dinge einfallen (bis hin zu dem tropfenden Wasserhahn in meiner Küche), aber inzwischen hat wohl jeder begriffen, dass dies einfach nicht mein Tag war.

»Ich bin hier, um zu arbeiten, Selah, und nicht, um ein Privatgespräch mit Ihnen zu führen.«

Das ignorierte sie.

»Ich weiß, dass Sie zusammen mit Bill verreisen«, sagte Selah. »Sie versuchen, mir meinen Freund auszuspannen. Seit wann planen Sie das schon?«

Ich war fassungslos. Dass Selah mir eine solche Frechheit an den Kopf werfe würde, war mir komplett entgangen. Ich hatte keine Vorwarnung aufgeschnappt. Meine telepathischen Fähigkeiten litten eben, wenn ich müde war - genau wie mein Reaktions- und Denkvermögen. Und solange ich arbeitete, zog ich meine Schutzbarrieren sowieso immer besonders hoch um mich auf. Daher hatte ich Selahs Gedanken verpasst. Und dann stieg plötzlich Wut in mir auf. Ich hob schon die Hand und hätte ihr diesmal wohl wirklich eine Ohrfeige verpasst, wenn nicht ... ja, wenn nicht in diesem Moment eine warme, feste Hand die meine ergriffen und sanft heruntergedrückt hätte. Sam stand neben mir. Ich hatte ihn nicht mal kommen sehen. Heute entging mir auch wirklich alles.

»Miss Pumphrey, Sie müssen Ihren Lunch woanders zu sich nehmen«, sagte Sam sehr ruhig. Natürlich sahen jetzt sämtliche Gäste zu uns herüber. Ich spürte, wie die Aufmerksamkeit aller sich auf unsere Auseinandersetzung richtete und ihre Blicke jedes kleinste Detail der Szene registrierten. Und ich spürte, wie ich rot anlief.

»Ich habe das Recht, hier zu essen«, gab Selah laut und arrogant zurück. Was ein Riesenfehler war. Im Bruchteil einer Sekunde wechselten die Sympathien der Zuschauer auf meine Seite. Ich spürte förmlich, wie die Welle über mich schwappte. Mit weit aufgerissenen Augen und trauriger Miene stand ich da und sah vermutlich aus wie eine der armen, halb verhungerten Waisen auf diesen schrecklichen Ölgemälden. Ein Bild des Jammers abzugeben fiel mir im Moment ja nicht allzu schwer. Sam legte einen Arm um meine Schulter, als wäre ich wirklich eine arme, halb verhungerte Waise, und sah Selah mit einem Gesichtsausdruck an, in dem nichts als abgrundtiefe Enttäuschung über ihr Verhalten stand.

»Und ich habe das Recht, Sie zum Verlassen meines Lokals aufzufordern«, sagte Sam. »Ich kann nicht dulden, dass Sie meine Angestellten beleidigen.«

Es war höchst unwahrscheinlich, dass Selah jemals Arlene, Holly oder Danielle gegenüber unhöflich werden würde. Deren Existenz bemerkte sie kaum, denn Selah gehörte zu jener Sorte Frau, die Kellnerinnen gar nicht erst wahrnimmt. Es hatte sie immer gewurmt, dass Bill ausgerechnet mit mir ausgegangen war, ehe er sie kennenlernte. (»Ausgegangen« hieß dabei in Selahs Wortschatz so viel wie »hatten sehr oft sehr leidenschaftlichen Sex«.)

Selah kochte vor Wut, warf ihre Serviette zu Boden und sprang so plötzlich auf, dass ihr Stuhl sicher umgefallen wäre, hätte Dawson, ein Fels von einem Werwolf, der eine Reparaturwerkstatt für Motorräder betrieb, ihn nicht mit einer Hand aufgefangen. Und dann schnappte sich Selah ihre Handtasche und stolzierte zur Tür hinaus, wobei sie nur knapp einer Kollision mit meiner Freundin Tara entging, die gerade hereinkam.

Dawson amüsierte sich bestens über die Szene. »Und das alles wegen so 'nem Vampir«, sagte er. »Muss ja mächtig was dran sein an diesen kaltblütigen Kerlen, wenn zwei so hübsche Frauen sich wegen so einem derart aufregen.«

»Wer regt sich hier auf?«, fragte ich und richtete mich lächelnd zu meiner ganzen Größe auf, um Sam zu zeigen, dass ich mir nichts gefallen ließ. Ich bezweifelte, dass Sam sich zum Narren halten ließ, er kannte mich ziemlich gut. Aber er verstand den Wink und verzog sich wieder hinter den Bartresen. Unter den Lunchgästen erhob sich ein Gemurmel. Jetzt begannen alle, über die pikante Szene zu tratschen. Ich ging hinüber zu dem Tisch, an dem Tara saß. Sie hatte JB du Rone im Schlepptau.

»Gut siehst du aus, JB«, sagte ich fröhlich, zog die Speisekarten zwischen Serviettenhalter und Salz- und Pfefferstreuer hervor und reichte ihm die eine und Tara die andere. Meine Hände zitterten, aber das bemerkten die beiden sicher nicht.

JB lächelte mich an. »Danke, Sookie«, sagte er in seinem angenehmen Bariton. JB sah einfach umwerfend aus, war aber nicht gerade einer der Hellsten. Das verlieh ihm jedoch eine absolut charmante Naivität. Tara und ich hatten einst in der Schule auf ihn aufgepasst, denn sobald diese charmante Naivität von anderen, weniger gut aussehenden Jungs erkannt wurde, kam JB nur selten ohne Schrammen davon ... vor allem in der Mittelstufe. Und weil auch die Beliebtheitskurven von Tara und mir heftige Dellen aufwiesen, hatten wir JB beschützt, so gut es ging. Dafür hatte JB mich zu ein paar Tanzveranstaltungen begleitet, auf die ich unbedingt gehen wollte, und seine Familie hatte Tara öfter mal bei sich aufgenommen, wenn ich es nicht tun konnte. Tara hatte irgendwo auf diesem mühseligen Weg mal Sex mit JB gehabt. Ich nicht. Aber das schien keinerlei Bedeutung für unsere Freundschaft zu haben, für die eine wie für die andere.

»JB hat einen neuen Job«, trompetete Tara selbstzufrieden heraus und lächelte. Ach, deshalb war sie also hier. Unsere Freundschaft hatte in den letzten paar Monaten zwar etwas gelitten, aber sie wusste, ich würde jederzeit ihre Freude darüber teilen, dass sie JB etwas Gutes tun konnte.

Und sie hatte recht, das war eine großartige Neuigkeit. Die mir außerdem half, mich von Selah Pumphrey und ihrem Wutausbruch abzulenken.

»Wo denn?«, fragte ich JB, der die Speisekarte studierte, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen.

»Im Fitnesscenter in Clarice.« Er sah auf und lächelte mich an. »Zwei Tage die Woche sitz ich da am Empfang, in den Klamotten hier.« Er zeigte auf sein frisches, eng anliegendes Poloshirt, burgunderrot und braun gestreift, und seine gebügelten Khakis. »Ich trag Mitglieder in Kurse ein, mix deren Fitnessdrinks, mach Sportgeräte sauber und teil Handtücher aus. Und die anderen drei Tage lauf ich in Sportsachen rum und werf 'n Auge auf die Ladys.«

»Klingt fantastisch«, sagte ich fast ehrfürchtig, weil der Job so perfekt war für JBs begrenzte Möglichkeiten. JB war hinreißend: beeindruckend muskulös, schönes Gesicht, gerade weiße Zähne - quasi wie einer Werbeanzeige für Fitnesscenter entsprungen. Und noch dazu war er gutmütig und absolut ordentlich.

Erwartungsvoll sah Tara mich an, denn sie wollte gelobt werden. »Klasse gemacht«, sagte ich. Wir hoben die Hand und klatschten uns ab.

»Weißte, Sookie, zu meinem Glück fehlt jetzt nur noch, dass du mal 'nen Abend mit mir verbringst«, erklärte JB mir. Tja, keiner konnte einer gesunden, einfachen Begierde so direkt Ausdruck verleihen wie JB.

»Du schmeichelst mir, JB, aber ich habe zurzeit einen Freund«, erwiderte ich, ohne meine Stimme auch nur ansatzweise zu senken. Nach Selahs Auftritt hatte ich das Bedürfnis, selbst ein bisschen anzugeben.

»Oooh, dieser Quinn?«, fragte Tara. Ich hatte ihn ihr gegenüber vielleicht ein-, zweimal erwähnt und nickte. »Ist er gerade in der Stadt?«, fragte sie etwas leiser weiter, und ich antwortete ebenso leise: »Heute Morgen abgefahren.«

»Für mich den mexikanischen Cheeseburger«, sagte JB.

»Kriegst du sofort«, gab ich prompt zurück, und als auch Tara bestellt hatte, marschierte ich direkt in die Küche. Ich freute mich nicht nur tierisch für JB, sondern auch darüber, dass zwischen Tara und mir die alten Gräben zugeschüttet zu sein schienen. Mein Tag hatte einen kleinen Auftrieb bitter nötig gehabt, und jetzt hatte ich ihn bekommen.

Als ich schließlich mit ein paar Einkaufstüten voller Lebensmittel nach Hause kam, war Amelia wieder da, und meine Küche funkelte wie in Schöner Wohnen in den Südstaaten. Wenn Amelia Langeweile hatte oder unter Stress stand, fing sie an zu putzen - eine prima Angewohnheit bei einer Mitbewohnerin, vor allem, wenn man gar nicht daran gewöhnt ist, eine zu haben. Ich hielt mein Haus selbst gern in Ordnung, hin und wieder bekam ich richtige Putzanfälle. Aber im Vergleich zu Amelia war sogar ich unordentlich.

Ich betrachtete die blitzblanken Fensterscheiben. »Schuldgefühle, was?«, sagte ich.

Amelia ließ die Schultern hängen. Sie saß am Küchentisch, einen Becher mit einem ihrer seltsamen Tees vor sich, aus dem noch seltsamere Dämpfe aufstiegen.

»Ja«, murmelte sie verdrossen. »Hab die Steppdecke in der Waschmaschine gesehen. Hängt schon draußen auf der Leine, hinten im Hof.«

Das hatte ich gesehen, als ich nach Hause kam, und so nickte ich nur. »Bobs Rache.«

»Scheint so.«

Ich wollte sie schon fragen, bei wem sie übernachtet hatte, doch dann wurde mir klar, dass mich das überhaupt nichts anging. Zumal Amelia sowieso eine der besten Senderinnen weit und breit war und ich schon nach wenigen Sekunden wusste, dass sie bei Calvins Cousin Derrick geschlafen hatte und der Sex nicht gerade berauschend gewesen war. Außerdem waren seine Bettlaken schmutzig gewesen, das hatte sie ganz verrückt gemacht. Und als Derrick am Morgen aufgewacht war, hatte er verkündet, dass sie nach einer gemeinsamen Nacht natürlich ein Paar seien. Amelia hatte ziemlich zu kämpfen gehabt, bis er sie endlich zu mir nach Hause fuhr. Derrick wollte, dass sie für immer bei ihm blieb, in Hotshot.

»Ganz schön durchgeknallt, was?«, sagte ich und packte das Hackfleisch in den Kühlschrank. Diese Woche war ich mit Kochen dran, und es würde Frikadellen, Bratkartoffeln und grüne Bohnen geben.

Amelia nickte und nippte an ihrem Tee. Es war ein von ihr selbst zubereitetes Stärkungsmittel gegen Kater, und es schüttelte sie, als sie davon probierte. »Kann man so sagen. Die Typen aus Hotshot sind echt seltsam. Einige zumindest.« Amelia hatte sich besser als alle anderen auf meine telepathischen Fähigkeiten eingestellt. Da sie ohnehin freimütig und offen war - manchmal übertrieb sie es sogar -, schien sie auf eigene Geheimnisse keinen großen Wert zu legen.

»Was willst du jetzt tun?« Ich setzte mich ihr gegenüber.

»Na, ich war ja noch nicht lange mit Bob zusammen, oder so was«, sagte sie und war gleich mittendrin im Thema, ohne sich lange mit Vorgeplänkel aufzuhalten. Sie ging davon aus, dass ich sie schon verstehen würde. »Wir haben nur die eine Nacht miteinander verbracht. Glaub mir, die war toll. Er hat mich richtig heiß gemacht. Deshalb haben wir ja auch angefangen zu, äh, experimentieren.«

Ich nickte und versuchte, verständnisvoll zu wirken.

Experimentieren, das hieß für mich: den anderen zu küssen, wo man ihn noch nie geküsst hatte, oder eine Stellung auszuprobieren, die einem einen Krampf im Oberschenkel bescherte. So was eben. Den Liebhaber in einen Kater zu verzaubern gehörte definitiv nicht dazu. Ich hatte nie den Nerv gehabt, Amelia mal zu fragen, was das Ganze eigentlich sollte. Und es war eins der wenigen Dinge, über die ihre Gedanken mir rein gar nichts verrieten.

»Vermutlich magst du Katzen«, schlussfolgerte ich aus meinen eigenen Gedanken. »Ich meine, Bob ist ja nun irgendwie eine, und jetzt hast du dir einen Werpanther ausgesucht, um eine aufregende Nacht zu erleben.«

»Oh?« Amelia wurde wieder munterer. Sie versuchte, beiläufig zu klingen. »Nur eine?«

Amelia neigte dazu, von sich als Hexe viel zu viel zu halten, von sich als Frau aber viel zu wenig.

»Eine oder zwei«, erwiderte ich und unterdrückte ein Lachen. Bob kam herein und strich laut schnurrend um meine Beine. Deutlicher ging es kaum, denn um Amelia machte er einen Bogen wie um einen Haufen Hundekacke.

Amelia seufzte schwer. »Hör mal, Bob, du musst mir verzeihen«, sagte sie zu dem Kater. »Es tut mir leid. Ich habe mich einfach hinreißen lassen. Eine Hochzeit, ein paar Bier zu viel, Tanz auf der Straße, ein exotischer Partner ... tut mir leid. Wirklich richtig leid. Wie wär's, wenn ich ganz enthaltsam leben würde, bis ich herausgefunden habe, wie ich dich wieder zurückverwandeln kann?«

Das war ein riesengroßes Opfer von Amelia, wie mir jeder, der ihre Gedanken ein paar Tage (oder länger) lesen konnte, bestätigt hätte. Amelia war eine lebenshungrige junge Frau und sehr direkt. Und ihr Geschmack war ziemlich breit gefächert.

»Na ja«, sagte sie, nachdem sie noch mal nachgedacht hatte, »wie wär's, wenn ich einfach verspreche, die Hände von den Jungs zu lassen?«

Bob hockte auf seinem Hinterteil, die Vorderpfoten aufgestellt und den Schwanz um sich herum drapiert. Es wirkte bezaubernd, wie er so dasaß und Amelia aus großen gelben Augen ohne ein einziges Zwinkern ansah. Er schien darüber nachzudenken. Schließlich sagte er: »Maunz.«

Amelia lächelte.

»Verstehst du das als ein Ja?«, fragte ich. »Wenn, dann denk dran ... ich hab's nur mit den Jungs. Halt dich also nicht an mich.«

»Oh, das würde ich sowieso nie tun«, sagte Amelia.

Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass Amelia ziemlich taktlos sein konnte?

»Warum das denn nicht?«, fragte ich leicht verletzt.

»Bob war kein Zufallsgriff«, erklärte Amelia und blickte so verlegen drein, wie es ihr irgend möglich war. »Ich stehe auf so dürre, dunkelhaarige Typen.«

»Tja, damit muss ich mich wohl abfinden«, sagte ich und versuchte tief enttäuscht dreinzuschauen. Amelia warf ein Tee-Ei nach mir, das ich gerade noch auffangen konnte.

»Gute Reflexe«, sagte sie verblüfft.

Ich zuckte die Achseln. Es war Urzeiten her, seit ich Vampirblut bekommen hatte, aber ein winziger Rest schwappte wohl noch durch meine Adern. Ich war immer gesund gewesen, aber momentan bekam ich noch nicht einmal Kopfschmerzen. Und ich bewegte mich ein bisschen schneller als die meisten Leute. Allerdings war ich nicht die Einzige, die von den Vorteilen des Vampirbluts profitierte. Jetzt, da die Auswirkungen allgemein bekannt waren, wurden immer mehr Vampire selbst zu Opfern. Ihr Blut in Phiolen abzufüllen und auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen war ein lukratives, aber auch äußerst gefährliches Geschäft. Erst heute Morgen hatte ich gehört, dass ein Ausbluter aus seinem Apartment in Texas verschwunden war, nachdem man ihn auf Bewährung freigelassen hatte. Wer sich einen Vampir zum Feind machte, hatte schon verloren. Vampire konnten stets sehr viel länger warten als man selbst.

»Vielleicht ist es das Elfenblut«, sagte Amelia und sah mich nachdenklich an.

Wieder zuckte ich die Achseln, diesmal mit einer eindeutigen Lass-das-Thema-endlich-fallen-Miene. Vor kurzem erst hatte ich erfahren, dass es unter meinen Vorfahren Elfen gab. Froh war ich darüber allerdings nicht. Ich wusste ja nicht mal, aus welchem Teil meiner Familie dieses Erbe stammte, geschweige denn, von welchem Verwandten. Ich wusste nur, dass irgendwann in der Vergangenheit irgendeiner in meiner Familie ziemlich persönlich mit einer Elfe zu tun gehabt hatte. Stundenlang hatte ich mich über vergilbte Stammbäume und die Familiengeschichte meiner Großmutter gebeugt, die diese mühsam zusammengetragen hatte. Doch es war kein einziger Hinweis aufgetaucht.

Als hätten meine Gedanken sie herbeigerufen, klopfte in diesem Augenblick Claudine an die Hintertür. Sie war nicht mit hauchdünnen Flügeln herbeigeschwebt, sondern profan mit dem Auto vorgefahren. Claudine ist eine vollblütige Elfe und kann sich durchaus auch auf andere Weise fortbewegen, doch das tut sie nur im äußersten Notfall. Sie ist sehr groß, hat langes, welliges dunkles Haar und schrägstehende dunkle Augen. Das Haar trägt sie stets über die Ohren frisiert, denn im Gegensatz zu ihrem Zwillingsbruder Claude hat sie sich die Spitzen nicht wegoperieren lassen.

Begeistert schloss Claudine mich in die Arme, begrüßte Amelia aber nur mit einem Winken aus einiger Entfernung. Die beiden waren sich nicht allzu grün. Amelia hatte sich die Zauberkunst hart erarbeitet, Claudine dagegen war ein Zauberwesen durch und durch. Und so traute keine der beiden der anderen so recht über den Weg.

Normalerweise ist Claudine das fröhlichste Geschöpf, dem ich je begegnet bin. Sie ist freundlich, liebenswürdig und hilfsbereit wie eine übernatürliche Pfadfinderin, weil es ihrem Wesen entspricht und weil sie sich in der Hierarchie der Zauberwelt bis zum Engel hinaufarbeiten will. Doch heute Abend wirkte Claudines Miene ungewöhnlich ernst. Mir sank das Herz. Ich wollte nur noch ins Bett und ganz für mich allein an Quinn denken, und ich wollte all den Stress und Ärger aus dem Merlotte's hinter mir lassen. Auf keinen Fall wollte ich schlechte Nachrichten hören.

Claudine setzte sich mir gegenüber an den Küchentisch und ergriff meine Hände. Amelia war ihr genau einen Blick wert. »Verschwinde, Hexe«, sagte sie. Ich war schockiert.

»Spitzohrige Zicke«, murmelte Amelia und stand mit dem Teebecher in der Hand auf.

»Mörderin«, giftete Claudine zurück.

»Er ist nicht tot!«, kreischte Amelia. »Er ist nur - anders!«

Claudine schnaubte, eine ziemlich angemessene Reaktion.

Ich war zu müde, um Claudine wegen ihrer beispiellosen Unhöflichkeit zu ermahnen. Und sie hielt meine Hände viel zu fest umklammert, als dass mich ihre Anwesenheit beruhigt hätte. »Was ist los?«, fragte ich. Amelia stürmte aus der Küche, und ich hörte ihre Schritte auf der Treppe nach oben ins erste Stockwerk.

»Sind auch keine Vampire hier?«, fragte Claudine. Ihre Stimme klang ängstlich. Kein Wunder. Elfen wirken auf Vampire etwa so unwiderstehlich wie Double Chocolate Chip Muffins auf Schokoholics.

»Keine Sorge, außer Amelia, Bob, mir und dir ist niemand im Haus«, beruhigte ich Claudine. Ich wollte Bob seine menschliche Existenz nicht absprechen, auch wenn mir das nicht immer leichtfiel, vor allem dann nicht, wenn das Katzenklo gesäubert werden musste.

»Fährst du auf diese Vampirkonferenz?«

»Ja.«

»Warum?«

Gute Frage. »Die Königin bezahlt mich dafür«, sagte ich.

»Brauchst du so dringend Geld?«

Ich wollte ihren Einwand schon abtun, begann dann aber doch darüber nachzudenken. Claudine hatte schon so viel für mich getan, da war es das Mindeste, dass ich ihren Worten einen Moment Aufmerksamkeit schenkte.

»Ich komme auch ohne zurecht«, sagte ich. Immerhin hatte ich noch etwas von dem Geld übrig, das ich von Eric bekam, weil ich ihn vor einem Hexenzirkel versteckt hatte. Doch der größte Teil war schon weg, wie das mit Geld eben so ist: Die Versicherung war nicht für den gesamten Schaden aufgekommen, als letzten Winter meine Küche ausgebrannt war; ich hatte mir neue Küchengeräte anschaffen müssen; und außerdem hatte ich der freiwilligen Feuerwehr eine gewisse Summe gespendet, weil sie so schnell angerückt waren und sich alle Mühe gegeben hatten, mein Haus zu retten.

Und dann hatte auch Jason noch Geld gebraucht, um die Arztrechnung für Crystals Fehlgeburt zu bezahlen.

Irgendwie hatte ich die beruhigende Phase zwischen enorm zahlungskräftig und total abgebrannt verpasst, und die wollte ich jetzt unbedingt nachholen. Mein kleines Boot schipperte in gefährlichen finanziellen Gewässern, und ich hätte gern einen Schlepper in der Nähe gehabt, der es wieder flottmachen konnte.

»Ich komme auch ohne zurecht«, wiederholte ich, entschlossener, »aber ich will es nicht.«

Claudine seufzte. Kummer stand in ihrem Gesicht. »Ich kann dich nicht begleiten«, sagte sie. »Du weißt, wie Vampire sich uns Elfen gegenüber aufführen. Ich kann nicht mal kurz vorbeischauen.«

»Verstehe«, erwiderte ich ein wenig erstaunt. Ich hatte nicht im Traum daran gedacht, in Claudines Begleitung auf die Konferenz zu fahren.

»Ich glaube, es wird Schwierigkeiten geben«, sagte sie.

»Was für Schwierigkeiten?« Als ich das letzte Mal an einem gesellschaftlichen Ereignis der Vampire teilgenommen hatte, hatte es große, ja riesengroße Schwierigkeiten der allerblutigsten Art gegeben.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Claudine. »Aber ich spüre sie kommen, und ich finde, du solltest zu Hause bleiben. Claude findet das auch.«

Claude interessierte es nicht die Bohne, was mir zustieß, doch Claudine war großzügig genug, um ihren Bruder in ihre Liebenswürdigkeit mit einzuschließen. Wenn man mich fragt, so war Claude nur zu rein dekorativen Zwecken auf dieser Welt. Er war unglaublich egoistisch und hatte keinerlei Sozialverhalten, sah allerdings hinreißend aus.

»Tut mir leid, Claudine, und ich werde dich vermissen, während ich in Rhodes bin«, sagte ich. »Aber ich habe versprochen mitzufahren.«

»Im Gefolge einer Vampirin«, sagte Claudine deprimiert. »Das macht dich für alle Zeiten zu einer ihrer Welt. Du wirst nie mehr eine unbeteiligte Zuschauerin sein können. Zu viele Geschöpfe werden wissen, wer du bist und wo du wohnst.«

Es war nicht so sehr das, was Claudine sagte, sondern die Art, wie sie es sagte, die mir eiskalte Schauer über den Rücken jagte. Claudine hatte recht. Was hätte ich zu meiner Verteidigung auch vorbringen sollen? Ich steckte längst viel zu tief in der Vampirwelt drin, um jetzt noch aussteigen zu können.

Und während ich da so in der Spätnachmittagssonne, die durchs Fenster fiel, an meinem Küchentisch saß, traf ich eine jener Entscheidungen, die einen für immer verändern. Amelia war nicht zu hören oben. Bob war wieder in die Küche zurückgekommen, hatte sich neben seinen Napf gehockt und starrte Claudine an. Claudine selbst erstrahlte in einem Sonnenstrahl, der ihr direkt ins Gesicht fiel. Bei den meisten Leuten hätte das jede Hautunreinheit hervorgehoben. Nicht so bei Claudine, sie sah einfach perfekt aus.

Keine Ahnung, ob ich Claudine und ihre Auffassung von der Welt je verstehen würde, ich wusste selbst jetzt noch erschreckend wenig über ihr Leben. Aber ich war mir sicher, dass sie sich ganz meinem Wohlergehen verschrieben hatte - aus welchem Grund auch immer - und dass sie sich wirklich Sorgen um mich machte. Und trotzdem würde ich mit der Königin, Eric, dem Namenlosen und all den anderen Vampiren aus Louisiana nach Rhodes fahren.

War ich einfach nur neugierig darauf, was auf dieser Vampirkonferenz passieren würde? Wollte ich, dass noch mehr untote Mitbürger auf mich aufmerksam wurden? Wollte ich als eine dieser Vampirsüchtigen gelten, die Untote gnadenlos anhimmelten? Sehnte ich mich irgendwie doch noch nach einer Möglichkeit, Bill zwanglos nahe zu sein und die emotionalen Gründe für seine Untreue besser zu verstehen? Oder ging es mir um Eric? War ich unbewusst verliebt in den großspurigen Wikinger, der so wunderbar aussah, so gut im Bett war und so ein geschickter Taktierer, und das alles auf einmal?

Na, wenn das nicht wie ein vielversprechendes Potpourri an Problemen für eine Soap klang.

»Schalten Sie auch morgen wieder ein«, murmelte ich. Weil Claudine mich verständnislos ansah, fügte ich hinzu: »Es ist mir ein bisschen peinlich, Claudine. Denn, zugegeben, ich werde etwas tun, das ziemlich sinnlos erscheint. Aber ich will das Geld und werde nach Rhodes fahren. Ich bin schon bald wieder zurück. Mach dir bitte keine Sorgen.«

Amelia kam wieder zur Küchentür herein, segelte von hier nach dort und machte sich noch einen Tee.

Claudine ignorierte sie. »Ich mache mir aber Sorgen«, sagte sie einfach. »Es wird Schwierigkeiten geben, meine Liebe, und sie werden dich betreffen.«

»Aber du weißt nicht, wie oder wann?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich weiß nur, dass es welche geben wird.«

»Sieh mir in die Augen«, murmelte Amelia. »Ich sehe einen großen dunklen Mann ...«

»Sei still«, sagte ich zu ihr.

Abrupt kehrte Amelia uns den Rücken zu und riss mit großem Tamtam tote Blätter von ihren Topfpflanzen.

Bald darauf ging Claudine. Auch während ihres restlichen Besuchs hatte sie nicht mehr zu ihrer gewohnten Fröhlichkeit zurückgefunden. Und sie hatte kein weiteres Wort mehr über meine Reise nach Rhodes verloren.