Kapitel 10

»Gehen Sie nachsehen«, sagte die Königin zu mir.

»Was? Sie alle sind doch viel stärker als ich! Und viel unerschrockener!«

»Wir sind vor allem jene, die Jennifer verklagt hat«, bemerkte Andre. »Unser Geruch darf nicht dort drin zu finden sein. Sigebert, sieh du nach.«

Sigebert glitt in die Dunkelheit.

Gegenüber wurde eine Tür geöffnet, und Batanya trat auf den Flur.

»Ich rieche den Tod«, sagte sie. »Was ist passiert?«

»Wir wollten einen Besuch machen«, erzählte ich. »Doch die Tür war nur angelehnt. Irgendetwas stimmt nicht da drin.«

»Sie wissen nicht, was?«

»Nein, Sigebert sieht gerade nach«, erklärte ich. »Wir warten.«

»Ich rufe meine Stellvertreterin, denn ich kann Kentuckys Tür nicht unbewacht lassen.« Sie drehte sich um und rief in die Suite hinein: »Clovache!« Zumindest glaube ich, dass der Name so geschrieben wird, weil er irgendwie französisch klang: Kloh-VASCH.

Eine Art Batanya junior kam aus der Suite - in der gleichen Rüstung, aber kleiner, jünger, braunhaarig, weniger furchterregend ... doch immer noch eindrucksvoll.

»Durchsuch das Zimmer«, befahl Batanya, und ohne ein weiteres Wort zog Clovache ihr Schwert und verschwand wie eine gefährliche Traumgestalt in der Suite.

Wir alle warteten mit angehaltenem Atem - okay, ich zumindest. Die Vampire hatten ja keinen Atem, den sie anhalten konnten, und Batanya schien nicht im Geringsten aufgeregt. Sie hatte sich an einer Stelle postiert, von wo sie in Jennifer Caters Suite hineinsehen und gleichzeitig die geschlossene Tür zu der des Königs von Kentucky im Auge behalten konnte. Ihr Schwert hatte sie gezogen.

Die Königin wirkte beinahe angespannt, ja fast aufgeregt, aber eigentlich war ihre Miene nicht weniger ausdruckslos als üblich. Sigebert kam wieder heraus und schüttelte wortlos den Kopf.

Auch Clovache erschien in der Tür. »Alle tot«, berichtete sie der anderen Britling.

Batanya wartete.

»Geköpft«, fuhr Clovache fort. »Die Frau wurde sogar in, äh -« Sie schien in Gedanken nachzuzählen. »- in sechs Teile zerteilt.«

»Das ist schlimm«, sagte die Königin im selben Augenblick, als Andre sagte: »Das ist gut.« Verärgert tauschten sie einen Blick.

»Irgendwelche Menschen?«, fragte ich leise, weil ich nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf mich ziehen wollte, es aber unbedingt wissen musste.

»Nein, nur Vampire«, erwiderte Clovache, nachdem Batanya ihr aufmunternd zugenickt hatte. »Drei, soweit ich sehen konnte. Sie zerfallen ziemlich schnell.«

»Clovache, ruf diesen Todd Donati an«, befahl Batanya ihrer Untergebenen, und Clovache verschwand sofort lautlos in Kentuckys Suite - mit erschreckenden Folgen. Binnen fünf Minuten war die Etage gerammelt voll mit Leuten jeglicher Art und jeden Lebendigkeitsgrads.

Ein Mann in beigebraunem Jackett mit dem Schriftzug Sicherheit auf der Brusttasche schien der Verantwortliche zu sein, wohl dieser Todd Donati. Ein Expolizist, der sich früh von den staatlichen Einsatzkräften zurückgezogen hatte, um mit der Bewachung und Sicherung von Untoten das große Geld zu verdienen. Was aber nicht hieß, dass er sie mochte. Im Moment jedoch war er vor allem verärgert, dass schon so früh im Verlauf dieser Konferenz etwas vorgefallen war, das ihm mehr Arbeit bescherte, als er bewältigen konnte. Er hatte Krebs, las ich in seinen Gedanken, auch wenn ich nicht herausbekam, welcher Art. Donati wollte noch so lange wie möglich arbeiten, um seine Familie für die Zeit nach seinem Tod abzusichern, und fand diese Sache hier ärgerlich, weil sie ihm jede Menge Stress und Anstrengung verursachen und ihn viel Energie kosten würde. Doch er war fest entschlossen, seinen Job zu machen.

Donatis Vampirboss, den Hoteldirektor, erkannte ich sofort, als er auftauchte. Christian Baruch war vor einigen Monaten auf dem Cover von Fangzahn gewesen (die Vanity Fair für Vampire). Baruch war Schweizer und hatte als Mensch eine Menge schicker Hotels in Westeuropa entwickelt und geleitet. Irgendwann hatte er dann mal einem Vampir aus derselben Branche erzählt, er könne solch erstklassige und profitable Hotels natürlich auch für ein Vampir-Konsortium aufziehen, wenn er »herübergeholt« werde - nicht nur ins Vampirdasein, sondern auch nach Amerika -, und man hatte ihm gleich beide Wünsche erfüllt.

Jetzt besaß Christian Baruch das ewige Leben (solange er sich von spitzen Holzpfählen fernhielt), und das Vampir-Konsortium strich Unmengen Geld ein. Aber er war kein Sicherheitsexperte oder Staatsanwalt und auch nicht die Polizei. Sicher, er wusste verdammt viel über die exklusive Innenausstattung von Luxushotels und konnte dem Architekten sagen, wie viele Suiten eine Minibar brauchten. Doch wozu sollte er hier gut sein? Donati, sein menschlicher Angestellter, sah Baruch verdrossen an. Baruch trug einen hervorragend sitzenden Anzug, das sah sogar ich, obwohl ich von so was keine Ahnung habe. Sicher eine Maßanfertigung - das hätte ich schwören können -, die ihn eine ganze Stange Geld gekostet hatte.

Ich war von der Menge zurückgedrängt worden und fand mich schließlich an der Wand neben der Tür einer Suite wieder - Kentuckys Suite, wie ich erkannte. Die Tür war geschlossen geblieben. Die beiden Britlinge würden ihren Schützling sehr sorgfältig bewachen müssen, wenn man bedachte, wie viele Leute sich hier mittlerweile tummelten. Ein einziges Stimmengewirr. Ich stand direkt neben einer Frau, die die gleiche Sicherheitsuniform trug wie der Expolizist, nur ohne Krawatte.

»Halten Sie das für eine gute Idee, all die Leute hier herumlaufen zu lassen?« Ich wollte der Frau zwar ihren Job nicht erklären, aber verdammt noch mal! Hatte sie noch nie CSI: Den Tätern auf der Spur gesehen?

Die Sicherheitsfrau sah mich finster an. »Was tun Sie dann hier?«, fragte sie mich, als würde sie ein wichtiges Statement abgeben.

»Ich bin mit den Vampiren hier, die die Leichen gefunden haben.«

»Dann halten Sie einfach den Mund und lassen Sie uns unsere Arbeit tun«, entgegnete sie, und zwar in einem Tonfall, wie er überheblicher kaum sein konnte.

»Was soll das denn für eine Arbeit sein? Sieht doch aus, als würden Sie hier nur herumstehen.«

Okay, das hätte ich vielleicht nicht sagen sollen. Aber sie tat ja wirklich nichts. Ich fand, sie sollte lieber -

Und dann packte sie mich, drückte mich gegen die Wand und legte mir Handschellen an.

Überrascht schrie ich auf. »Das habe ich mit Arbeit nicht gerade gemeint«, rief ich etwas mühsam, weil mein Gesicht gegen die Tür der Suite gedrückt wurde.

Hinter uns breitete sich Schweigen aus. »Sir, hier ist eine Frau, die Ärger macht«, sagte die Sicherheitsfrau.

Übrigens, Beigebraun stand ihr überhaupt nicht, aber das nur nebenbei.

»Landry, was machen Sie da?«, fragte Donati in einem allzu vernünftig klingenden Ton, wie man ihn einem ungezogenen Kind gegenüber anschlägt.

»Sie wollte mir sagen, was ich zu tun habe«, erwiderte die Sicherheitsfrau, der schon der Mut sank, noch während sie sprach. Das hörte ich genau.

»Was hat sie zu Ihnen gesagt, Landry?«

»Sie fragte, was all diese Leute hier tun, Sir.«

»Ist das etwa keine berechtigte Frage, Landry?«

»Sir?«

»Finden Sie nicht, dass wir erst mal all diese Leute hier wegschaffen sollten?«

»Doch, Sir, aber sie ist mit den Vampiren hier, die die Leiche gefunden haben.«

»Daher sollte sie also nicht gehen?«

»Richtig, Sir.«

»Wollte sie denn gehen?«

»Nein, Sir.«

»Und trotzdem haben Sie ihr Handschellen angelegt?«

»Oh.«

»Nehmen Sie ihr sofort die verdammten Handschellen ab, Landry!«

»Ja, Sir.« Landrys Mut war inzwischen zehn Klafter tief in den Erdboden gesunken.

Zum Glück wurden mir die Handschellen wieder abgenommen, und ich konnte mich umdrehen. Ich war so wütend, dass ich Landry am liebsten eine geschmiert hätte. Aber weil ich dann gleich wieder in Handschellen dagestanden hätte, ließ ich es lieber bleiben. Sophie-Anne und Andre drängten sich durch die Menge, oder besser gesagt, die Menge wich vor ihnen zurück. Vampire wie Menschen schienen nur allzu froh darüber zu sein, dass sie der Königin von Louisiana und ihrem Bodyguard aus dem Weg gehen konnten.

Sophie-Anne betrachtete meine Handgelenke, an denen nicht die kleinste Schramme zu sehen war, und erkannte völlig richtig, dass es hier vor allem um meinen verletzten Stolz ging.

»Das ist meine Angestellte«, sagte Sophie-Anne leise und scheinbar nur an Landry gerichtet, doch so, dass auch alle anderen sie verstanden. »Eine Verletzung oder Beleidigung dieser Frau ist eine Verletzung oder Beleidigung meiner Person.«

Landry hatte keine Ahnung, wer zum Teufel Sophie-Anne war, aber sie erkannte die Gefahr, wenn sie ihr ausgesetzt war. Und Andre sah sowieso einfach nur zum Fürchten aus. Tja, eben die beiden furchterregendsten Teenager der Welt.

»Ma'am, Landry wird sich schriftlich bei Ihnen entschuldigen. Würden Sie mir jetzt bitte erklären, was hier vorgefallen ist?«, sagte Todd Donati, nun in sehr vernünftigem Ton.

Die Menge schwieg und stand abwartend da. Ich sah mich nach Batanya und Clovache um, konnte sie aber nirgends entdecken. Plötzlich fragte Andre mit ziemlich erhobener Stimme: »Sind Sie der Chef der Sicherheitsabteilung?«, während Sophie-Anne sich zu mir beugte und flüsterte: »Erwähnen Sie die Britlinge nicht.«

»Ja, Sir.« Der Expolizist fuhr sich mit der Hand über den Schnauzbart. »Todd Donati, und das ist mein Boss, Christian Baruch.«

»Andre Paul, und das ist meine Königin, Sophie-Anne Leclerq. Diese junge Frau ist unsere Angestellte Sookie Stackhouse.« Andre wartete auf den nächsten Schritt.

Christian Baruch ignorierte mich. Aber er warf Sophie-Anne einen Blick zu, wie ich ihn auf einen saftigen Braten fürs Sonntagsessen werfen würde. »Ihre Anwesenheit ist eine große Ehre für unser Hotel«, murmelte er mit schwerem Akzent. Ich sah, dass seine Fangzähne etwas hervortraten. Er war ziemlich groß, hatte ein kantiges Kinn und dunkle Haare. Doch seine kleinen Augen waren eisig grau.

Sophie-Anne nahm das Kompliment gelassen hin, auch wenn sie eine Sekunde lang die Stirn runzelte. Die Fangzähne zu zeigen war nicht gerade die raffinierteste Methode, jemanden wissen zu lassen, wie erotisch man ihn fand. Keiner sprach ein Wort. Okay, nur eine peinliche Sekunde lang, denn dann fragte ich: »Ruft jetzt jemand die Polizei, oder nicht?«

»Wir sollten uns erst einmal überlegen, was wir ihr zu erzählen haben«, sagte Baruch so arrogant und von oben herab, dass er sich zweifellos auch über meinen ach so ungebildeten Südstaatenakzent lustig machen wollte. »Mr Donati, sehen Sie bitte mal in der Suite nach.«

Todd Donati drängelte sich ohne Rücksicht auf Verluste durch die Menge. Sigebert, der als Wache vor der offenen Tür stand (da er nichts Besseres zu tun hatte), trat zur Seite und ließ den Menschen eintreten. Dann bahnte der riesige Bodyguard sich einen Weg zu seiner Königin. In der Nähe seiner Meisterin wirkte er gleich viel glücklicher.

Während Donati untersuchte, was immer in der Arkansas-Suite übrig geblieben sein mochte, wandte sich Christian Baruch an die Leute. »Wer von Ihnen kam erst hierher, nachdem er von dem Geschehen gehört hatte?«

Etwa fünfzehn Leute hoben die Hand oder nickten einfach.

»Würden Sie alle sich bitte in die Bar Blutstropfen im Erdgeschoss begeben, wo unsere Barkeeper Ihnen gern eine Spezialität des Hauses servieren.« Das ließen sich die fünfzehn nicht zweimal sagen und waren schon auf dem Weg. Baruch kannte seine dürstenden Gäste. Ob Vampire oder was auch immer.

»Wer von Ihnen war nicht hier, als die Leiche entdeckt wurde?«, fragte Baruch, als der erste Schwung verschwunden war. Alle hoben die Hand, außer uns vieren: die Königin, Andre, Sigebert und ich.

»Sie alle dürfen jetzt auch gehen«, sagte Baruch so höflich, als würde er eine herzliche Einladung aussprechen. Und die Leute zogen ab. Landry zögerte, erntete aber einen Blick, der sie hinter den anderen herstürzen ließ.

Der Platz vor dem Fahrstuhl, ja die ganze Etage wirkte auf einmal riesig, weil alles so leer war.

Donati trat wieder aus der Suite, weder tief beunruhigt noch verschreckt, nur nicht mehr ganz so gelassen.

»Inzwischen ist kaum noch etwas da von ihnen. Überreste nennen Sie das wohl. Es waren vermutlich drei Vampire, vielleicht auch nur zwei. Könnte sein, dass einer von ihnen in mehrere Teile zerlegt wurde.«

»Wer ist denn als Gast eingetragen?«

Donati sah auf das Display seines Handheld. »Jennifer Cater aus Arkansas. Die Suite war an die Delegation der Arkansas-Vampire vermietet. An die übrig gebliebenen Arkansas-Vampire.«

Die Worte übrig gebliebenen sprach er mit einem gewissen Nachdruck aus. Donati kannte die Geschichte der Königin offenbar gut.

Christian Baruch hob eine buschige dunkle Augenbraue. »Ich weiß über meine eigenen Leute Bescheid, Donati.«

»Natürlich, Sir.«

Sophie-Anne zog empört die feine Nase kraus. Seine eigenen Leute, so ein Mistkerl hieß das wohl. Baruch war höchstens vier Jahre alt - als Vampir natürlich.

»Wer ist hineingegangen und hat sich die Leichen angesehen?«, fragte Baruch.

»Von uns keiner«, sagte Andre unverzüglich. »Wir sind nicht in der Suite gewesen.«

»Wer dann?«

»Die Tür war nur angelehnt, und wir rochen den Tod. Mit Blick auf die Schwierigkeiten zwischen meiner Königin und den Vampiren aus Arkansas erschien es uns unklug, die Suite zu betreten«, erklärte Andre. »Wir haben Sigebert hineingeschickt, den Bodyguard der Königin.«

Dass sich auch Clovache die Suite angesehen hatte, ließ Andre großzügig unter den Tisch fallen. Sieh an, Andre und ich hatten also etwas gemeinsam: Wir konnten beide so um die Wahrheit herumreden, dass nicht gleich eine richtige Lüge dabei herauskam. Eine wahre Meisterleistung, die er da vollbracht hatte.

Während weitere Fragen folgten - und meist nicht beantwortet wurden oder nicht zu beantworten waren -, fragte ich mich, ob der Königin jetzt nach dem Tod ihrer Hauptanklägerin wohl noch der Prozess gemacht werden würde. Wem gehörte der Staat Arkansas eigentlich? Vermutlich hatte der Ehevertrag der Königin die Rechte an Peter Threadgills Territorium verschafft. Ich wusste ja, dass Sophie-Anne seit Katrina alle Einkünfte, die sie bekommen konnte, bitter nötig hatte. Würde sie diese Rechte an Arkansas auch behalten, wenn herauskam, dass Andre Peter getötet hatte? Tja, wenn man erst mal darüber nachdachte, wurde einem klar, wie viel für die Königin von dieser Konferenz abhing.

Erst als ich über all diese Fragen nachgedacht hatte, bemerkte ich, dass die wichtigste gar nicht dabei gewesen war. Wer hatte Jennifer Cater und ihre Freunde getötet? (Wie viele Arkansas-Vampire mochten noch übrig sein nach dem Kampf in New Orleans und dem Gemetzel von heute? So riesig war Arkansas auch wieder nicht, und es gab dort nur wenige Großstädte.)

Ich wurde ins Hier und Jetzt zurückgerufen, als Christian Baruch meinen Blick suchte. »Sie sind die Menschenfrau, die Gedanken lesen kann«, sagte er so unvermittelt, dass ich fast einen Satz machte.

»Ja«, erwiderte ich bloß. Dieses ganze Sir hier und Ma'am da ging mir langsam auf die Nerven.

»Haben Sie Jennifer Cater getötet?«

Ich musste mein Erstaunen nicht mal spielen. »Sie trauen mir ja eine Menge zu. Ich soll mit drei Vampiren fertig geworden sein? Nein, ich habe Jennifer nicht getötet. Sie ist am Spätnachmittag in der Lobby auf mich zugestürmt und hat mich beschimpft, aber das war das einzige Mal, dass ich sie überhaupt je gesehen habe.«

Er wirkte etwas verblüfft, so als hätte er eine andere Antwort oder wenigstens ein bescheideneres Auftreten von mir erwartet.

Die Königin trat einen Schritt vor und stellte sich neben mich, und Andre tat dasselbe, so dass ich nun von zwei uralten Vampiren flankiert war. Was für ein wohliges, behagliches Gefühl. Aber sie wollten natürlich bloß dem Hoteldirektor klarmachen, dass ich ihr Mensch sei und nicht belästigt werden dürfe.

In diesem Moment riss plötzlich ein kleiner Vampir die Tür zum Treppenhaus auf und rannte auf die Todessuite zu. Doch Baruch, auch nicht gerade langsam, trat ihm in den Weg, der Vampir prallte gegen ihn und ging zu Boden. Mit einer so rasanten Bewegung, dass ich sie gar nicht wahrnehmen konnte, stand der kleine Vampir schon wieder auf den Beinen und versuchte verzweifelt, Baruch von der Tür zur Suite wegzudrängen.

Doch es gelang ihm nicht. Schließlich trat er einen Schritt von dem Hoteldirektor zurück. Wäre der kleine Vampir ein Mensch gewesen, hätte er keuchend dagestanden, doch sein Körper bebte bloß vor Wut, weil er aufgehalten wurde. Er hatte braunes Haar und einen Bart und trug einen anständigen, aber alten Anzug. Eigentlich wirkte er wie ein völlig normaler Mann, bis man seine weit aufgerissenen Augen sah und erkannte, dass man irgendeinen Wahnsinnigen vor sich hatte.

»Ist es wahr?«, fragte er mit tiefer, angespannter Stimme.

»Jennifer Cater und ihre Freunde sind tot«, sagte Christian Baruch nicht ohne Mitgefühl.

Der kleine Vampir schrie, ja heulte derart auf, dass sich mir die Härchen auf den Armen aufstellten. Er sank auf die Knie und wiegte seinen Körper vor lauter Trauer vor und zurück.

»Sie gehören wohl zu ihrer Delegation?«, fragte die Königin.

»Ja,ja!«

»Dann bin ich ab jetzt Ihre Königin. Ich biete Ihnen einen Platz an meiner Seite an.«

Wie mit einer Schere abgeschnitten verstummte das Heulen. »Aber Ihr habt unseren König getötet«, sagte der Vampir.

»Ich war die Ehefrau Ihres Königs, und dass er tot ist, daran besteht kein Zweifel.« Sophie-Annes Augen wirkten beinahe gütig. »Und als seine Königinwitwe habe ich nach seinem Tod ein Anrecht auf sein Territorium.«

»Stand so im Kleingedruckten«, murmelte Mr Cataliades mir ins Ohr. Ich erschrak dermaßen, dass ich einen Schrei nur mit Mühe und Not unterdrücken konnte. Dieses Gerede, dass dicke Männer sich leichtfüßig bewegen könnten, hatte ich stets für Unsinn gehalten. Dicke Leute bewegen sich behäbig. Doch Mr Cataliades bewegte sich so leichtfüßig wie ein Schmetterling. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass er in meiner Nähe war, bis er sprach.

»Im Ehevertrag der Königin?«, gelang es mir zu fragen.

»Ja«, bestätigte er. »Und Peters Rechtsanwalt hat alles genauestens durchgesehen. Dasselbe hätte natürlich auch im Fall von Sophie-Annes Tod gegolten.«

»Damit waren doch sicher gewisse Bedingungen verknüpft, oder?«

»Oh, nur ein paar. Jemand müsste den Tod bezeugen können.«

»O Gott. Und diese Zeugin bin ich.«

»In der Tat. Die Königin will Sie aus gutem Grund in ihrer Nähe und unter ihrer Fuchtel haben.«

»Und die anderen Bedingungen?«

»Nur wenn es keinen Stellvertreter gibt, kann Arkansas übernommen werden. Mit anderen Worten, es musste eine Katastrophe passieren.«

»Und die ist jetzt eingetreten.«

»Genau.« Mr Cataliades schien ziemlich erfreut darüber.

In meinem Kopf drehte sich alles, wie in der riesigen Lostrommel bei einer Tombola.

»Ich bin Henrik Feith«, sagte der kleine Vampir. »Jetzt gibt es nur noch fünf Arkansas-Vampire. Ich bin der Einzige hier in Rhodes, und ich bin nur deshalb noch am Leben, weil ich hinuntergegangen bin und mich über die Handtücher im Badezimmer beschwert habe.«

Ich musste mir die Hand vor den Mund halten, um nicht laut loszulachen, was ja wohl mehr als unangebracht gewesen wäre. Andres Blick ruhte auf dem vor uns knienden Vampir, doch irgendwie wanderte seine Hand zu mir herüber. Er zwickte mich. Und schon fiel es mir nicht mehr schwer, nicht zu lachen; im Gegenteil, ich hatte Mühe, nicht laut aufzuschreien.

»Was war denn mit den Handtüchern?«, fragte Baruch, völlig abgelenkt von diesem Vorwurf gegen sein Hotel.

»Jennifer allein brauchte schon drei«, begann Henrik, aber diese faszinierende Nebengeschichte wurde kurzerhand beendet, indem Sophie-Anne einwarf: »Genug. Henrik, Sie kommen mit uns in meine Suite. Mr Baruch, wir würden gern bald mehr über das Geschehen von Ihnen erfahren. Mr Donati, wollen Sie die Polizei von Rhodes benachrichtigen?«

Wirklich höflich von ihr, Mr Donati so zu behandeln, als hätte er in dieser Angelegenheit irgendwas zu entscheiden.

»Nein, Ma'am«, erwiderte Donati. »Mir scheint das eine Sache unter Vampiren zu sein. Es gibt inzwischen keine Leichen mehr, die man untersuchen könnte. Außerdem gibt es zurzeit keine Vampire in der Mordkommission der Polizei von Rhodes, ich wüsste also nicht, wen wir anrufen sollten. Die meisten menschlichen Polizisten untersuchen ein Vampirverbrechen nur dann, wenn sie Rückendeckung von Vampiren haben.«

»Dann wüsste ich nicht, was wir hier noch tun könnten«, sagte Sophie-Anne, als wäre ihr das alles ganz egal. »Wenn Sie uns nicht länger brauchen, gehen wir zur Eröffnung der Konferenz.« Während dieses Gesprächs hatte sie schon ein paarmal auf ihre Armbanduhr gesehen. »Mr Feith, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen, begleiten Sie uns, wenn nicht - wofür wir natürlich Verständnis hätten -, wird Sigebert Sie in meine Suite hinaufbringen.«

»Ich wäre gern ein wenig allein«, erwiderte Henrik Feith, der dreinsah wie ein verprügelter Welpe.

Sophie-Anne nickte Sigebert zu, der nicht sonderlich glücklich wirkte über diesen Marschbefehl. Aber er musste ihr natürlich gehorchen, und so zog er ab mit dem kleinen Vampir, einem von fünf, die in Arkansas noch übrig waren.

Ich musste über so vieles nachdenken, dass meine Gedanken gar nicht hinterherkamen. Gerade als ich meinte, es könne nicht mehr schlimmer kommen, ertönte das »Ding« des Fahrstuhls, die Türen glitten auf und Bill sprang heraus. Okay, sein Auftritt war nicht ganz so spektakulär wie der von Henrik, aber doch nicht zu übersehen. Abrupt blieb er stehen und verschaffte sich einen ersten Eindruck. Als er sah, dass wir alle ruhig dastanden, riss er sich zusammen und sagte: »Hier gibt's Schwierigkeiten, habe ich gehört?« Er hatte diese Worte an niemand Bestimmten gerichtet, so dass sich jeder von uns angesprochen fühlen konnte.

Ich war's leid, ihn als den Namenlosen anzusehen. Ach, verdammt, es war Bill. Ich mochte ja jedes einzelne Molekül seines Körpers hassen, aber er war nun mal hier - da half kein Leugnen. Konnten Werwölfe die, von denen sie sich losgesagt hatten, wirklich völlig aus ihrem Gesichtskreis ausblenden? Wie machten sie das bloß? Mir gelang es jedenfalls nicht allzu gut.

»Ja, es gibt Schwierigkeiten«, sagte die Königin. »Ich wüsste allerdings nicht, was Ihre Anwesenheit daran ändern könnte.«

Ich hatte Bill noch nie beschämt gesehen, doch jetzt war es so weit. »Verzeiht, meine Königin«, erwiderte er. »Wenn Sie mich brauchen, so finden Sie mich an meinem Stand in der Messehalle.«

In eisigem Schweigen schlossen sich die Fahrstuhltüren wieder vor der Gestalt meines ersten Liebhabers. Schon möglich, dass Bill diesen hastigen Auftritt vor allem für mich hingelegt hatte. Vielleicht wollte er mir zeigen, welch große Sorgen er sich um mich machte, obwohl er sich eigentlich um die Geschäfte der Königin kümmern musste. Wenn er damit jedoch mein Herz erweichen wollte, so war ihm das gründlich misslungen.

»Kann ich Ihnen bei Ihren Untersuchungen behilflich sein?«, fragte Andre Donati, doch seine Worte waren im Grunde an Christian Baruch gerichtet. »Da die Königin die rechtmäßige Erbin von Arkansas ist, stehen wir natürlich zu Ihrer Verfügung.«

»Von einer so schönen Königin, die gleichermaßen für ihren Geschäftssinn wie für ihre Zielstrebigkeit bekannt ist, würde ich nichts anderes erwarten.« Baruch verbeugte sich vor der Königin.

Selbst Andre blinzelte angesichts dieses gewundenen Kompliments, und die Königin musterte Baruch mit zusammengekniffenen Augen. Ich starrte unverwandt die Topfpflanzen an und versuchte, möglichst keine Miene zu verziehen. In mir brodelte es, und beinahe hätte ich losgekichert. Ein solches Geschleime hatte ich ja noch nie erlebt.

Jetzt schien es wirklich gar nichts mehr zu sagen zu geben, und so trat ich brav schweigend mit den Vampiren und dem bemerkenswert zurückhaltenden Mr Cataliades in den Fahrstuhl.

Als die Türen sich geschlossen hatten, sagte Letzterer: »Meine Königin, Sie müssen wieder heiraten, und zwar unverzüglich.«

Da hatte er ja eine echte Bombe platzen lassen. Nicht mal Andre und die Königin konnten ihr Erstaunen verhehlen. Eine Sekunde lang rissen sie die Augen auf.

»Heiraten Sie irgendwen: Kentucky, Florida, ich würde sogar Mississippi vorschlagen, wenn er nicht bereits mit Indiana verhandeln würde. Sie brauchen einen Verbündeten, jemand Todgefährlichen, der Ihnen Rückhalt bietet. Sonst umkreisen bald Schakale wie dieser Baruch Sie und heischen um Ihre Aufmerksamkeit.«

»Mississippi ist zum Glück aus dem Rennen. All die Männer um ihn herum könnte ich nicht ertragen. Hin und wieder mal den ein oder anderen, natürlich, aber doch nicht tagein, tagaus und in diesen Mengen«, sagte Sophie-Anne.

Das waren die aufrichtigsten und offensten Worte, die ich sie je hatte sagen hören. Sie klang beinahe menschlich.

Andre drückte einen Knopf, um den Fahrstuhl zwischen den Etagen anzuhalten. »Zu Kentucky würde ich nicht raten«, meinte er. »Wenn er es nötig hat, Britlinge anzuheuern, steckt er selbst bis zum Hals in Schwierigkeiten.«

»Alabama ist reizend«, sagte Sophie-Anne. »Aber sie hat einige Vorlieben im Bett, mit denen ich gar nichts anfangen kann.«

Ich war's langsam leid, wie bloße Dekoration behandelt zu werden. »Ich hätte da mal eine Frage.«

Nach kurzem Schweigen nickte Sophie-Anne.

»Warum sind Sie eigentlich in der Lage, Ihre Geschöpfe, mit denen Sie sogar ins Bett gegangen sind, immer um sich zu haben? Normalerweise ist die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf bei den Vampiren doch nur von kurzer Dauer.«

»Die Geschöpfe bleiben meist nur eine gewisse Zeit bei ihren Schöpfern«, bestätigte Sophie-Anne. »Und es gibt nur wenige Fälle, in denen die Geschöpfe so lange bei ihrem Schöpfer geblieben sind wie Andre und Sigebert bei mir. Diese besondere Nähe herstellen zu können, ist meine Gabe, mein Talent. Jeder Vampir hat eine Gabe: Manche können fliegen, manche hervorragend mit dem Schwert umgehen. Ich kann meine Geschöpfe in meiner Nähe halten. Wir können telepathisch miteinander reden, so wie Barry und Sie. Und wir können uns auch körperlich lieben.«

»Und warum machen Sie dann nicht einfach Andre zum König von Arkansas und heiraten ihn?«

Absolute Totenstille trat ein. Sophie-Anne öffnete zweimal den Mund, als wolle sie mir erklären, warum das unmöglich sei. Doch beide Male schloss sie ihn wieder. Andre starrte mich derart eindringlich an, dass ich befürchtete, ich bekäme zwei Brandmale im Gesicht. Und Mr Cataliades wirkte einfach nur schockiert, so als hätte ein Affe begonnen, mit ihm in fünffüßigen Jamben zu sprechen.

»Ja«, sagte Sophie-Anne schließlich. »Warum tue ich das nicht einfach? Warum mache ich meinen liebsten Freund nicht zu meinem Ehemann und König?« Und plötzlich strahlte sie über das ganze Gesicht. »Andre, der einzige Nachteil wäre, dass du dich für einige Zeit von mir trennen müsstest, um die Staatsangelegenheiten in Arkansas zu regeln. Mein treuestes Geschöpf, wärst du bereit dazu?«

Andre war ganz verwandelt vor lauter Liebe. »Für dich, meine Liebe, würde ich alles tun.«

Hach, man hätte glatt ein Foto machen müssen von dieser Szene. Ich war richtig ein bisschen gerührt.

Und dann drückte Andre noch einmal den Knopf, und der Fahrstuhl fuhr weiter hinunter.

Ich bin nicht immun gegen Liebesromanzen, ganz und gar nicht. Aber trotz aller Rührung fand ich, die Königin sollte sich jetzt auf die Aufklärung des Mordes an Jennifer Cater und den Arkansas-Vampiren konzentrieren, statt bei der Eröffnung der Konferenz huldvoll herumzuflanieren. Es wäre viel besser, sie würde mal diesem Handtuch-Typen auf den Zahn fühlen, diesem überlebenden kleinen Vampir namens Henrik Sowieso.

Doch wie so oft fragte mich Sophie-Anne natürlich nicht nach meiner Meinung, und ich hatte für heute schon genug aus freien Stücken zum Besten gegeben.