Kapitel 15

Batanya tötete den Mörder mit einem Wurfstern. Sie stand mit dem Gesicht zu den Zuschauem, daher sah sie den einen noch stehenden Vampir, als alle anderen klugerweise schon auf dem Boden lagen. Dieser Vampir schoss die Pfeile nicht mit einem Bogen ab, sondern warf sie, weswegen er bislang nicht aufgefallen war. Selbst in einer Gesellschaft wie dieser hätte jemand mit einem Bogen in Händen doch eine gewisse Aufmerksamkeit erregt.

Nur Vampire konnten einen Pfeil derart werfen, dass er tödlich war. Und vielleicht konnten auch nur Britlinge einen rasiermesserscharfen Wurfstern derart schleudern, dass er einen Vampir köpfte.

Ich hatte früher schon mal gesehen, wie Vampire geköpft wurden. Das ist längst keine solche Schweinerei, wie man glauben würde, kein Vergleich zu der Enthauptung eines Menschen. Aber angenehm ist es auch nicht gerade, und als ich den Kopf herabpurzeln sah, wurde mir so übel, dass ich in die Knie gegangen wäre, wenn ich nicht bereits am Boden gelegen hätte. Dennoch rappelte ich mich auf, um nach Quinn zu sehen.

»So schlimm ist es nicht«, sagte er sofort. »Wirklich nicht. Der Pfeil hat meine Schulter erwischt, nicht mein Herz.« Er rollte sich herum, so dass er auf dem Rücken lag. Nur eine Sekunde nach Andre waren die Louisiana-Vampire allesamt aufgesprungen, auf die Bühne gerannt und hatten sich schützend im Kreis um ihre Königin gestellt. Erst als die Gefahr eindeutig gebannt war, versammelten sie sich um uns.

Cleo riss sich ihr Smokingjackett und ihr gebügeltes weißes Hemd vom Leib und faltete das Hemd mit so rasanten Bewegungen zu einem Stoffpad, dass ich kaum folgen konnte. »Festhalten«, sagte sie, drückte es mir in die Hand und wies auf die Wunde. »Gleich fest zudrücken.« Sie wartete nicht einmal mein Nicken ab. »Zähne zusammenbeißen«, sagte sie zu Quinn und hielt mit ihren starken Händen seine Schultern fest, während Gervaise den Pfeil herauszog.

Quinn brüllte auf, was niemanden weiter wunderte. Die folgenden Minuten waren ziemlich schlimm. Ich presste das Stoffpad auf die Wunde, und als Cleo ihr Smokingjackett über ihren schwarzen Spitzen-BH zog, forderte sie Herve, ihren menschlichen Geliebten, auf, sein Hemd ebenfalls zur Verfügung zu stellen. Ich muss sagen, er zögerte keine Sekunde. Aber es war ein ziemlicher Schock, inmitten all der feinen Abendkleidung plötzlich eine behaarte Brust zu sehen. Noch gruseliger war nur, dass mir das überhaupt auffiel, nachdem ich eben erst die Enthauptung eines Vampirs mitangesehen hatte.

Eric war in meiner Nähe. Ich wusste es, ehe er ein Wort gesagt hatte, denn plötzlich spürte ich weniger Angst. Er kniete sich neben mich. Quinn, der sich bemühte, nicht laut zu schreien vor Schmerzen, hielt die Augen geschlossen, als sei er bewusstlos, und um mich herum war immer noch die Hölle los. Doch Eric kniete neben mir, und ich fühlte mich ... na gut, nicht richtig beruhigt, aber zumindest nicht mehr so mies. Weil er da war.

Oh, wie ich das hasste.

»Das heilt wieder.« Eric klang nicht sonderlich glücklich darüber, aber auch nicht enttäuscht.

»Ja«, erwiderte ich.

»Ich habe den Pfeil nicht kommen sehen.«

»Oh, hättest du dich sonst etwa vor mich geworfen?«

»Nein«, sagte Eric ehrlich. »Denn wenn er mich ins Herz getroffen hätte, wäre ich gestorben. Aber ich hätte dich aus der Schusslinie des Pfeils gezogen, wenn noch Zeit genug gewesen wäre.«

Tja, was hätte ich darauf sagen sollen? Keine Ahnung.

»Ich weiß, dass du mich hasst, weil ich dich gebissen habe«, sagte er leise. »Aber im Vergleich zu Andre bin ich wirklich das geringere Übel.«

Ich warf ihm einen Blick zu. »Das weiß ich.« Meine Hände waren schon ganz rot von Quinns Blut, das die behelfsmäßigen Verbände durchweichte. »Ich wäre zwar nicht lieber gestorben, als mich von Andre beißen zu lassen, aber es hat nicht viel gefehlt.«

Er lachte. Quinns Augenlider flatterten. »Der Wertiger kommt wieder zu sich«, sagte Eric. »Liebst du ihn?«

»Weiß ich noch nicht.«

»Hast du mich geliebt?«

Ein Team mit einer Krankentrage kam zu uns, natürlich keine normalen Sanitäter. Normale Sanitäter wären in die Pyramide von Giseh gar nicht hineingekommen. Es waren Wergeschöpfe und Gestaltwandler, die für die Vampire arbeiteten, und ihre Leiterin, eine hübsche junge Frau, sagte: »Wir sorgen dafür, dass er in Rekordzeit wieder gesund wird.«

»Ich sehe nachher nach ihm.«

»Wir kümmern uns um ihn«, sagte sie. »Unter uns, es wird ihm bald besser gehen. Es ist uns eine Ehre, dass wir uns um Quinn kümmern dürfen.«

Quinn nickte. »Ich bin transportfähig.« Doch er stieß die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Bis später.« Ich nahm seine Hand. »Du bist der Tapferste der Tapferen, Quinn.«

»Liebling«, sagte er und musste sich vor Schmerz auf die Unterlippe beißen. »Pass auf dich auf.«

»Machen Sie sich ihretwegen keine Sorgen«, sagte ein Schwarzer mit kurzen Afrolocken. »Sie hat Beschützer.« Er warf Eric einen kühlen Blick zu. Eric hielt mir die Hand hin. Ich griff danach und ließ mir aufhelfen. Meine Knie schmerzten ein bisschen nach all der Zeit auf dem harten Boden.

Als sie ihn anhoben und auf die Trage legten, schien Quinn das Bewusstsein zu verlieren. Ich wollte zu ihm, doch der Schwarze hielt mich mit einem ausgestreckten Arm auf, der wie geschnitztes Ebenholz wirkte, so klar traten die Muskeln hervor. »Lady, Sie bleiben hier. Jetzt sind wir dran.«

Ich sah zu, wie sie Quinn hinaustrugen. Als sie außer Sicht waren, blickte ich an meinem Kleid hinab. Wahnsinn, es war total in Ordnung. Kein Schmutz, kein Blut, sogar die Knitterfalten hielten sich in Grenzen.

Eric wartete.

»Ob ich dich geliebt habe?« Ich wusste, Eric würde nicht aufgeben, da konnte ich genauso gut auch gleich antworten. »Vielleicht. Irgendwie. Aber ich wusste die ganze Zeit, wer immer da auch bei mir war, der echte Eric war es nicht. Und ich wusste, dass du dich früher oder später daran erinnern würdest, wer du bist und was du bist.«

»Wenn es um Männer geht, scheinst du eine Frage nie mit Ja oder Nein beantworten zu können«, sagte Eric.

»Du scheinst dir deiner Gefühle für mich doch auch nicht sicher zu sein«, erwiderte ich.

»Du bist mir ein Rätsel«, sagte er. »Wer war deine Mutter und wer dein Vater? Oh, ich weiß schon. Du wirst sagen, sie haben dich als Kind aufgezogen und sind gestorben, als du noch ein kleines Mädchen warst. Ich erinnere mich, dass du mir die Geschichte erzählt hast. Aber ich weiß nicht, ob sie wirklich stimmt. Und wenn sie stimmt, wann kam dann das Elfenblut in deine Familie? Durch deine Großeltern? Das vermute ich jedenfalls.«

»Und was geht dich das alles an?«

»Du weißt, dass es mich etwas angeht. Zwischen uns besteht jetzt eine Verbindung.«

»Die lässt doch sicher wieder nach. Wir werden diese Verbindung nicht immer haben, oder?«

»Mir gefällt es so. Und dir wird es auch gefallen«, sagte er und schien sich verdammt sicher zu sein.

»Wer war der Vampir, der die Pfeile geworfen hat?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln. Hoffentlich behielt Eric nicht recht. Aber wir hatten sowieso alles gesagt, was es dazu zu sagen gab, soweit es mich betraf.

»Gehen wir mal nachsehen.« Eric nahm mich bei der Hand, und ich ging mit, einfach weil ich es wissen wollte.

Batanya stand neben der Leiche des Vampirs, die sich bereits in dem typischen Auflösungsprozess befand. Sie hatte den Wurfstern wieder an sich genommen und wischte ihn gerade an ihrer Hose ab.

»Guter Wurf«, sagte Eric. »Wer war das?«

Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ein Typ mit Pfeilen, mehr weiß ich nicht. Mehr interessiert mich auch nicht.«

»War er allein?«

»Ja.«

»Können Sie mir sagen, wie er aussah?«

»Ich habe neben ihm gesessen«, sagte da ein sehr kleiner Vampir. Er war vielleicht 1,55 Meter groß und schlank, und sein Haar fiel ihm bis in den Rücken hinab. Wenn der je ins Gefängnis müsste, würden binnen einer halben Stunde jede Menge Typen an seine Zellentür klopfen. Was ihnen natürlich leidtun würde, später, aber auf den ersten, unaufmerksamen Blick wirkte er wie ein leichtes Opfer. »Ein ungehobelter Kerl, und nicht angemessen gekleidet für den Abend. Khakihosen und ein gestreiftes Hemd. Na, das sehen Sie ja selbst.«

Obwohl die Leiche schwarz wurde und sich in Ascheflocken auflöste, wie bei Vampiren üblich, blieben die Kleider heil.

»Vielleicht hat er einen Führerschein bei sich?«, schlug ich vor. Bei Menschen führte das fast immer weiter, bei Vampiren zwar nicht, aber einen Versuch war es wert.

Eric ging in die Hocke und fingerte in der vorderen Hosentasche des Mannes herum. Nichts, auch in der anderen Tasche nicht. Also drehte Eric ihn einfach herum. Ich trat einige Schritte zurück, um den aufstiebenden Ascheflocken aus dem Weg zu gehen. In einer der Gesäßtaschen steckte etwas: eine normale Brieftasche. Und darin fand sich, eindeutig, ein Führerschein.

Er war in Illinois ausgestellt worden. Unter Blutgruppe hatte man »Keine« eingetragen. Ja, ein Vampir, so viel war sicher. Über Erics Schulter las ich, dass der Vampir Kyle Perkins geheißen hatte. Als Alter war »3V« eingetragen, Perkins war also erst seit drei Jahren Vampir gewesen.

»Er muss schon vor seinem Tod Bogenschütze gewesen sein«, sagte ich. »Eine solch meisterliche Fertigkeit lernt man nicht mal eben so, vor allem nicht in so kurzer Zeit.«

»Ganz meine Meinung«, entgegnete Eric. »Ich möchte, dass du tagsüber in der Umgebung alle Clubs für Bogenschützen aufsuchst. Pfeilwerfen kann man auch nicht einfach so, er muss trainiert haben. Der Pfeil war extra angefertigt. Wir müssen herausfinden, was los war mit Kyle Perkins und warum der Schurke den Job angenommen hat, auf dieser Konferenz jemanden zu töten.«

»Dann war er also ein... Vampirauftragskiller?«

»Ich glaube schon«, sagte Eric. »Irgendwer spielt ein sehr geschicktes Spiel mit uns. Dieser Perkins war nur der Notnagel für den Fall, dass der Prozess schiefläuft. Und wärst du nicht gewesen, wäre er vielleicht nie zum Einsatz gekommen. Dieser Irgendwer hat sich viel Mühe gegeben, um mit Henriks Ängsten zu spielen. Doch dann war der dumme Henrik drauf und dran, ihn zu verraten. Kyle Perkins war nur hier, weil er genau das verhindern sollte.«

Schließlich kam der Reinigungstrupp: mehrere Vampire, die einen Leichensack mitbrachten und Putzmittel. Menschen hätte man nie zugemutet, Kyles Überreste zu entsorgen. Aber die Putzfrauen waren ohnehin alle damit beschäftigt, die Vampirzimmer aufzuräumen, die tagsüber tabu für sie waren.

Es dauerte nicht lange, und schon waren Kyles Überreste eingesackt und weggebracht. Nur ein Vampir, der einen kleinen Handstaubsauger schwang, blieb noch zurück. Wenn die Zuschauer von CSI: Den Tätern auf der Spur so was mal zu sehen bekämen, das wär's doch.

Ich spürte eine gewisse Unruhe um mich herum. Als ich aufblickte, sah ich durch die Servicetüren Angestellte in den großen Saal strömen und die Stühle hinaustragen. Nach nicht einmal fünfzehn Minuten waren Quinns Requisiten für das Gerichtsverfahren weggeräumt, unter Aufsicht seiner Schwester. Dann baute eine Band ihre Instrumente auf der Bühne auf, und es wurde alles für eine Tanzveranstaltung vorbereitet. So was hatte ich noch nie erlebt. Zuerst ein Prozess, dann zwei Morde und zum Schluss ein Ball. Tja, das Leben geht weiter. Oder, in diesem Fall: das untote Dasein.

»Du gehst besser zur Königin«, sagte Eric.

»Oh. Ja, vielleicht hat sie mir irgendwas zu sagen.« Ich sah mich um und entdeckte Sophie-Anne ziemlich schnell, da sie umringt war von Leuten, die ihr zu dem vorteilhaften Urteilsspruch gratulierten - und die sich natürlich genauso gefreut hätten, wenn sie hingerichtet worden wäre, oder welche Folgen auch immer ein gesenkter Daumen der Antiken Pythia gehabt hätte. Ach ja, die Alte...

»Eric, wo ist eigentlich die uralte Frau hin?«, fragte ich.

»Du meinst die Antike Pythia. Sie ist jenes Orakel von Delphi, das einst Alexander der Große befragte«, erwiderte er sachlich. »Die Pythia wurde so sehr verehrt, dass die recht schlichten Vampire ihrer Zeit sie selbst in ihrem hohen Alter noch herübergeholt haben. Inzwischen hat sie sie alle überdauert.«

Oje, ich wollte gar nicht wissen, wie sie sich ernährt hatte, ehe die Erfindung des synthetischen Bluts die Welt der Vampire revolutionierte. War sie ihren menschlichen Opfern hinterhergehumpelt? Oder wurden ihr etwa Menschen gebracht, so wie Schlangenbesitzer ihren Haustieren lebende Mäuse vorsetzten?

»Aber um deine Frage zu beantworten, ihre Dienerinnen haben sie vermutlich in ihre Suite gebracht. Sie kommt nur zu speziellen Anlässen hervor.«

»Wie das gute Tafelsilber«, sagte ich völlig ernsthaft und musste dann kichern. Zu meiner Überraschung lächelte sogar Eric, jenes breite Lächeln, bei dem sich so viele hübsche Lachfältchen in seinen Mundwinkeln zeigten.

Wir nahmen unsere Plätze hinter der Königin ein. Keine Ahnung, ob sie meine Anwesenheit überhaupt registrierte, sie war vollständig ausgelastet damit, die Ballkönigin zu geben. Doch als das allgegenwärtige Geplauder mal einen Augenblick abbrach, griff sie nach meiner Hand und drückte sie leicht. »Wir reden später«, sagte sie und begrüßte eine dralle Vampirin in einem paillettenbesetzten Hosenanzug. »Maude«, rief sie, »wie schön, Sie zu sehen. Wie stehen die Dinge in Minnesota?«

In diesem Moment wurde an einen Notenständer geklopft, was die Aufmerksamkeit aller Anwesenden erregte. Alles Vampire, bemerkte ich erschrocken. Auf der Bühne trat ein Typ mit Gel im Haar ans Mikrofon: »Wenn all ihr heißen Vamps jetzt so weit seid, legen wir los! Ich bin Rick Clark, und das ist... die Band der Untoten Tänzer!«

Höflicher Applaus erklang.

»Und zur Eröffnung dieses Ballabends kommen hier zwei der besten Tänzer von Rhodes. Bitte begrüßen Sie mit mir... Sean und Layla!«

Das Paar, das in die Mitte der Tanzfläche schritt, war höchst eindrucksvoll, für Menschen wie für Vampire. Sie selbst gehörten beide der kaltblütigen Spezies an, auch wenn er anscheinend schon älter und sie erst seit kurzem Vampirin war. Sie war eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen hatte, und trug ein beiges Spitzenkleid, das so weich um ihre Weltklassebeine herabfiel wie Schnee um einen Baum. Ihr Tanzpartner war der einzige Vampir mit Sommersprossen, den ich je gesehen hatte, und sein rotes Haar war so lang wie ihres.

Sie hatten nur Augen füreinander und tanzten miteinander, als glitten sie durch einen Traum.

So was hatte ich noch nie gesehen und die anderen, der hingerissenen Aufmerksamkeit zufolge, auch nicht. Als die Musik zu Ende ging - und bis zum heutigen Tag kann ich mich nicht erinnern, wozu sie tanzten -, warf Sean Layla über seinen Arm, beugte sich über sie und biss zu. Ich war entsetzt, doch die anderen schienen es zu erwarten, und es machte sie ziemlich an. Sophie-Anne himmelte Andre an (obwohl es da nicht viel zu himmeln gab, denn er war kaum größer als sie), und Eric sah mit jenem glühenden Blick zu mir herunter, der mich immer misstrauisch machte.

Ich wandte mich entschlossen der Tanzfläche zu und klatschte wie eine Wahnsinnige, während die beiden sich immer wieder verbeugten und andere Paare sich zu ihnen gesellten, als die Musik von Neuem begann. Aus Gewohnheit sah ich mich nach Bill um, der aber nirgends zu sehen war.

Dann sagte Eric: »Tanzen wir«, und das konnte ich ihm schlechterdings nicht abschlagen.

Wir tanzten gemeinsam mit der Königin und ihrem potenziellen König, und ich sah, dass Russell Edgington und sein Ehemann Bart sich ebenfalls auf die Tanzfläche begaben. Sie wirkten beinahe so bezaubert voneinander wie die beiden Vortänzer.

Ich kann nicht singen, aber bei Gott, ich kann tanzen. Und Eric musste auch ein paar Tanzstunden genossen haben auf seinem langen Lebensweg, in welchem Jahrhundert auch immer. Ich legte ihm meine Hand auf den Rücken und er mir seine, wir ergriffen die freie Hand des anderen, und schon ging es los. Keine Ahnung, was genau wir tanzten, aber er konnte sehr gut führen. Irgendwie erinnerte es an einen Walzer, fand ich.

»Hübsches Kleid«, sagte die Tänzerin Layla, als wir an dem Paar vorbeidrehten.

»Danke.« Ich strahlte sie an. Von einer so schönen Frau war das Kompliment gleich doppelt so viel wert. Dann gab ihr Tanzpartner ihr einen Kuss, und sie wirbelten davon.

»Wirklich ein hübsches Kleid«, sagte Eric. »Und du bist eine schöne Frau.«

Ich war seltsamerweise verlegen, obwohl ich schon oft Komplimente bekommen hatte. Als Kellnerin bekam man zwangsläufig welche, auch wenn die meisten darin bestanden, dass (verschieden stark angetrunkene) Typen mir sagten, wie süß ich sei - oder, wie ein Kerl mal, was für »tolle Titten« ich hätte. (Irgendwie war es JB du Rhone und Hoyt Fortenberry gelungen, diesem Kerl auf die Füße zu treten und gleichzeitig einen Drink über ihn auszukippen, rein zufällig natürlich.)

»Eric«, begann ich, konnte den Satz aber nicht beenden, weil ich nicht wusste, was ich als Nächstes sagen sollte. Ich musste mich auf die Geschwindigkeit konzentrieren, mit der sich meine Füße bewegten. Wir tanzten so schnell, dass ich fast meinte zu fliegen. Und plötzlich ließ Eric meine Hand los, umfasste meine Taille, und als wir uns wieder drehten, hob er mich an, und ich flog wirklich, mit ein klein wenig Hilfe eines Wikingers. Ich lachte wie eine Verrückte, meine Haare wirbelten um meinen Kopf, und dann ließ er mich los und fing mich knapp über dem Boden wieder auf, ein ums andere Mal, bis ich zum Schluss mit beiden Beinen wieder auf der Tanzfläche stand und die Musik aufhörte.

»Vielen Dank!« Wahrscheinlich sah ich aus wie frisch aus einem Orkan zurückgekehrt. »Entschuldige, aber ich muss mal auf die Toilette verschwinden.«

Schon eilte ich durch die Menge davon, und hoffentlich nicht mit so einem idiotischen Grinsen im Gesicht. Denn eigentlich hätte ich - oh, ja! - mit meinem Freund zusammensein sollen, statt mit einem anderen zu tanzen, bis ich vor Glück ein Prickeln verspürte. Und es machte die Sache nicht besser, dass ich mein Verhalten vor mir selbst damit rechtfertigte, dass es zwischen Eric und mir eben so eine Art Blutsbande gab.

Sophie-Anne und Andre tanzten nicht mehr miteinander, sondern standen mit einigen anderen Vampiren beisammen. Die Königin brauchte mich garantiert nicht, es waren keine Menschen zum Gedankenlesen da. Ich entdeckte Carla, die mit Gervaise tanzte. Die beiden schienen richtig glücklich zu sein. Carla erntete jede Menge bewundernder Blicke anderer Vampire, was Gervaises Brust vor Stolz schwellen ließ. Zu sehen, dass andere nach dem lechzten, was er besaß, gefiel ihm.

Ich wusste, wie Gervaise sich fühlte.

Ich blieb stehen.

Hatte ich ... ich las nicht wirklich seine Gedanken, oder? Nein, das konnte ich nicht. Wenn ich vor diesem Abend mal das Bruchstück eines Vampirgedankens aufgeschnappt hatte, waren es kalte, verschlungene Gedanken gewesen.

Aber ich hätte schwören können, dass ich wusste, wie Gervaise sich fühlte; genauso wie ich vorhin Henriks Gedanken hatte lesen können. War das nur mein Wissen um Männer und ihre Reaktionen? Oder mein Wissen über Vampire? Konnte ich den Gefühlen von Vampiren besser folgen, seit ich zum dritten Mal Erics Blut hatte? Oder hatte meine Fähigkeit, mein Talent oder mein Fluch - wie auch immer man es nennen wollte - sich tatsächlich auf Vampire ausgedehnt, seit ich selbst immer mehr zu einem wurde?

Nein. Nein, nein, nein. Ich fühlte mich wie ich selbst, wie ein Mensch, warm, ich atmete, ich musste auf die Toilette, außerdem verspürte ich Hunger. Ich dachte an die berühmten Schokoladenkekse der alten Mrs Bellefleur. Das Wasser lief mir im Munde zusammen. Ja, eindeutig Mensch.

Ach, diese Ähnlichkeit mit Vampiren würde mit der Zeit wieder vergehen, genau wie meine gesteigerten Kräfte. Von Bill hatte ich etwa zweimal Vampirblut bekommen, vielleicht auch öfter, von Eric dreimal. Und jedes Mal hatte ich spüren können, wie über zwei, drei Monate die Kraft und Aufmerksamkeit, die ich dem Vampirblut verdankte, langsam zurückgingen. Also würde es auch diesmal so laufen, stimmt's? Na klar würde es das.

Jake Purifoy lehnte an der Wand und sah den Tanzenden zu. Vorhin hatte ich ihn mit einer jungen Frau, die gut gelaunt lachte, über die Tanzfläche schweben sehen. Dann stand es also doch nicht ganz so traurig um Jake. Ein Glück.

»Hey«, sagte ich.

»Sookie, bei dem Prozess war ja richtig was los.«

»Ja, ziemlich furchterregend.«

»Wo ist denn dieser Typ plötzlich hergekommen?«

»Dieser Killer, meinen Sie wohl. Eric hat mich gebeten, mir morgen mal die Clubs für Bogenschützen anzusehen, um herauszufinden, wer er war und wer ihn angeheuert hat.«

»Gut. War ziemlich knapp für Sie, tut mir leid«, sagte er leicht verlegen. »Sie müssen schreckliche Angst gehabt haben.«

Ach was, ich hatte mir viel zu viele Sorgen um Quinn gemacht, um über den Pfeil nachzudenken, dem ich knapp entgangen war. »Irgendwie schon. Sie scheinen sich inzwischen ja ganz gut zu amüsieren.«

»Irgendeinen Ausgleich muss es ja geben dafür, dass ich meine Gestalt nicht mehr wandeln kann«, sagte Jake.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie es versucht haben.« Eine andere Bemerkung fiel mir nicht ein.

»Wieder und wieder«, sagte Jake. Einen Augenblick lang sahen wir uns an. »Na dann, ich schau mal nach einer anderen Tanzpartnerin«, sagte er und ging entschlossen auf eine Vampirin zu, die zu Stan Davis' Gruppe aus Texas gehörte und sich zu freuen schien, ihn zu sehen.

Ich war inzwischen auf die Damentoilette verschwunden, die natürlich sehr klein war, denn die meisten Frauen im Pyramide von Giseh würden so etwas nie brauchen, höchstens, um sich die Haare zu kämmen. Dort saß eine Toilettenfrau, was ich noch nie erlebt hatte, auch wenn ich es aus Büchern kannte. Vermutlich musste ich ihr ein Trinkgeld geben. Ich hatte immer noch meine kleine Abendhandtasche mit dem Zimmerschlüssel bei mir und war erleichtert, als ich mich erinnerte, außer einigen Taschentüchern, Pfefferminzbonbons und einer winzigen Bürste auch ein paar Dollar hineingesteckt zu haben. Ich nickte der Toilettenfrau zu, einer stämmigen Schwarzen mit unglücklichem Gesicht.

Als ich aus der netten, sauberen Kabine wieder herauskam, um mir die Hände zu waschen und die Haare zu kämmen, drehte die Toilettenfrau, laut Namensschild übrigens »Lena«, das Wasser für mich auf, was mich irgendwie aufregte. Ich meine, ich kann doch wohl einen Wasserhahn aufdrehen, oder? Aber ich wusch mir die Hände und benutzte das Handtuch, das sie mir hinhielt, denn das war anscheinend ihr Job, und ich wollte sie nicht beleidigen. Ich legte zwei Dollar in die Trinkgeldschale, und sie versuchte zu lächeln, was ihr aber misslang, da sie viel zu unglücklich wirkte. Sie musste wirklich einen schlechten Abend erwischt haben.

»Danke«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. Ich weiß nicht warum, aber ehe ich die Klinke drückte, warf ich noch einen Blick in den Spiegel an der Innenseite der Tür. Und da stand Lena und starrte mir ein Loch in den Rücken. Sie hatte so unglücklich ausgesehen, weil sie unterdrücken musste, wie sehr sie mich hasste.

Es ist ein miserables Gefühl, wenn man weiß, dass jemand einen hasst; vor allem dann, wenn es nicht mal einen vernünftigen Grund dafür gibt. Aber ihre Probleme waren nicht meine, und wenn sie für Frauen, die mit Vampiren ausgingen, den Wasserhahn nicht aufdrehen wollte, sollte sie sich einen anderen Job suchen. Mich nervte ihr verdammtes Wasserhahn-Aufdrehen sowieso, Herrgott.

Dann bahnte ich mir einen Weg durch die Ballgäste zur Königin, um zu sehen, ob ich irgendwelche Menschen um sie herum überprüfen sollte (nein) und ob sich irgendwo ein Wergeschöpf oder Gestaltwandler fand und mir Neues von Quinn berichten konnte (nein).

Aus purem Zufall sah ich den Zauberer wieder, der mir früher schon mal in der Lobby aufgefallen war. Zugegeben, ich war ein wenig stolz, dass mein Verdacht sich tatsächlich bewahrheitete. Denn seine Einladung zu diesem Ball heute Abend war eine Belohnung für gute Dienste - als Wetterzauberer! Auch wenn ich nicht herausfinden konnte, für wen er arbeitete. Er hielt einen Drink in der Hand und hatte eine Frau mittleren Alters am Arm. Mrs Zauberer, wie ich bei einem weiteren kurzen Eintauchen in seine Gedanken erfuhr. Er hoffte, seine Ehefrau würde nicht bemerken, wie sehr er sich für die wunderschöne Vampirtänzerin interessierte und für die hübsche menschliche Blondine, die da auf ihn zukam und die ihn vorhin schon angesehen hatte, als würde sie ihn kennen. Oh ... das war ja ich.

Seinen Namen konnte ich nicht aufschnappen. Schade, das hätte mir den Einstieg erleichtert, denn ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte. Doch auf diesen Mann musste ich Sophie-Anne unbedingt aufmerksam machen. Irgendwer hatte ihn gegen sie eingesetzt.

»Hallo«, sagte ich und schenkte ihnen mein sonnigstes Lächeln. Die Frau lächelte zurück, wenn auch vorsichtig, weil das langverheiratete Ehepaar auf glamourösen Partys normalerweise nicht von jungen Singlefrauen angesprochen wurde (sie hatte einen Blick auf meine linke Hand geworfen). Das Lächeln des Wetterzauberers wirkte eher verschreckt. »Amüsieren Sie sich gut?«, fragte ich.

»Ja, ein richtig schöner Abend«, sagte die Frau.

»Ich bin Sookie Stackhouse«, fuhr ich fort und ließ meinen Charme spielen.

»Olive Trout«, erwiderte sie, und wir gaben uns die Hand. »Und das ist Julian, mein Ehemann.« Oje, sie hatte nicht die geringste Ahnung, was ihr Ehemann war.

»Sind Sie hier aus der Gegend?« So unauffällig wie möglich sah ich mich im Saal um. Was sollte ich bloß mit den beiden anfangen, jetzt, da ich sie gefunden hatte?

»Oh, Sie haben wohl noch kein Lokalfernsehen gesehen«, sagte Olive stolz. »Julian ist der Wettermann von Kanal 7.«

»Wie interessant«, erwiderte ich absolut ernsthaft. »Ach, kommen Sie beide doch mal mit. Ich wüsste da jemanden, der Sie zu gern kennenlernen würde.« Als ich das Ehepaar durch die Menge lotste, bekam ich auf einmal Skrupel. Was, wenn Sophie-Anne auf einer Bestrafung bestand? Ach, das war doch Unsinn. Wichtig war nicht die Tatsache, dass es einen Wetterzauberer gab, sondern dass irgendwer Julian Trout angeheuert hatte, das Wetter für Louisiana vorauszusagen, und dadurch irgendwie die Vampirkonferenz hatte verschieben können, bis der Hurrikan Katrina verheerende Schäden angerichtet hatte.

Julian war klug genug, um zu erkennen, dass irgendetwas an meiner Begeisterung nicht stimmte, und ich fürchtete schon, die beiden würden einfach stehen bleiben. Zum Glück entdeckte ich da Gervaises blonden Schopf. Ich rief nach ihm in so herzlichem Ton, als hätte ich ihn schon seit Ewigkeiten nicht gesehen. Und als ich ihn erreichte, war ich ziemlich außer Atem, weil ich die Trouts so schnell und besorgt hinter mir hergeschleift hatte.

»Gervaise, Carla«, sagte ich und bugsierte die Trouts vor den Sheriff, als hätte ich sie aus dem Wasser gezogen. »Das sind Olive Trout und ihr Ehemann Julian. Die Königin wollte unbedingt jemanden wie Julian kennenlernen. Er versteht wirklich was vom Wetter.« Okay, nicht gerade geschickt gelöst. Aber Julian wurde bleich im Gesicht. Er spürte also ein gewisses Schuldbewusstsein.

»Schatz, geht's dir nicht gut?«, fragte Olive.

»Wir müssen nach Hause«, erwiderte er.

»Nein, nein, nein«, mischte Carla sich in das Gespräch ein. »Gervaise, Schatz, weißt du nicht mehr? Andre sagte doch, falls wir von einem echten Wetterprofi hören, würden er und vor allem die Königin gern mit ihm reden.« Sie schlang die Arme um die Trouts und strahlte sie an. Olive wirkte verunsichert.

»Ach, natürlich«, sagte Gervaise, dem endlich ein Licht aufging - man sah die Glühbirne regelrecht über seinem Kopf schweben. »Vielen Dank, Sookie. Bitte, kommen Sie.« Die beiden führten die Trouts weiter.

Vor Freude, recht gehabt zu haben, war ich fast ein wenig benommen.

Ich sah mich um und entdeckte Barry, der eben einen kleinen Teller auf einem leeren Tablett abstellte.

»Möchtest du tanzen?«, fragte ich, weil die Band der Untoten Tänzer gerade eine großartige Coverversion eines alten Jennifer-Lopez-Songs spielte. Barry zögerte, doch ich zog ihn an der Hand auf die Tanzfläche, und schon bald verrenkten wir uns in alle Richtungen und amüsierten uns prächtig. Es geht doch nichts übers Tanzen, um Spannung abzubauen und mal eine Weile ganz loszulassen. Okay, so gut wie Shakira hatte ich meinen Körper nicht unter Kontrolle, aber wenn ich vielleicht hin und wieder etwas üben würde...

»Was tust du da?«, fragte Eric, und das keineswegs scherzhaft. Seine Miene war eisig vor Missfallen.

»Tanzen, wieso?« Ich wedelte mit der Hand, damit Eric verschwand. Doch Barry hatte schon aufgehört und verabschiedete sich mit einem kleinen Winken.

»Ich habe mich prächtig amüsiert«, protestierte ich.

»Du präsentierst jedem Mann in diesem Saal deinen Körper«, sagte er. »Wie eine...«

»Mund halten, Freundchen! Aber sofort!« Warnend hielt ich einen Finger hoch.

»Nimm deinen Finger aus meinem Gesicht«, erwiderte er.

Ich holte ganz tief Luft, um etwas Unverzeihliches loszulassen - meine aufsteigende Wut kam mir gerade recht, schließlich war ich nicht mit ihm zusammen -, da umschlang mich ein kräftiger, drahtiger Arm, und eine fremde Stimme mit irischem Akzent sagte: »Tanzen wir, Schätzchen?« Als der rothaarige Tänzer, der den Ball eröffnet hatte, mit mir zu einer ruhigeren, aber komplizierteren Tanzschrittfolge ansetzte, sah ich, wie seine Partnerin Eric am Handgelenk nahm und ebenfalls zu tanzen begann.

»Lassen Sie sich einfach von mir führen, während Sie sich wieder beruhigen. Ich bin Sean.«

»Sookie.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, schöne Frau. Sie sind eine gute Tänzerin.«

»Oh, danke. Das ist ein großes Kompliment, wenn Sie das sagen. Ihre Tanzvorführung vorhin war einfach fantastisch.« Ich spürte, wie meine Wut verebbte.

»Das liegt an meiner Partnerin«, sagte er lächelnd. Es war kein unbeschwertes Lächeln, doch es verwandelte ihn von einem schmalgesichtigen Mann mit Sommersprossen und einem Zinken von einer Nase in einen Mann mit Sexappeal. »Meine Layla ist eine traumhafte Tanzpartnerin.«

»Sie ist sehr schön.«

»O ja, von innen wie von außen.«

»Wie lange sind Sie schon Partner?«

»Im Tanzen zwei Jahre, im Leben etwas über ein Jahr.«

»Ihrem Akzent nach zu urteilen sind Sie wohl auf Umwegen hierhergekommen.« Ich warf einen Blick auf Eric und die schöne Layla. Layla hatte ein unbeschwertes Lächeln auf den Lippen und sprach mit Eric, der immer noch grimmig wirkte, aber nicht mehr wütend.

»Könnte man so sagen«, bestätigte er. »Ich bin natürlich aus Irland, aber schon hier seit...« Nachdenklich runzelte er die bleiche Stirn - es sah aus, als würde Marmor Falten werfen.»... seit hundert Jahren auf jeden Fall. Hin und wieder überlegen wir, nach Tennessee zurückzugehen, dort kommt Layla her. Aber wir haben uns noch nicht entschieden.«

Na, das war doch mal eine ausführliche Antwort von so einem zurückhaltend wirkenden Mann. »Wird Ihnen das Leben in der Großstadt zu anstrengend?«

»Zu viele Anti-Vampir-Aktionen in letzter Zeit. Die Bruderschaft der Sonne, die Bewegung Nehmt den Untoten die Nacht, das scheint hier alles aus dem Boden zu schießen.«

»Die Bruderschaft ist überall«, sagte ich. Schon allein der Name konnte einem die Laune verderben. »Was wird erst passieren, wenn sie von den Wergeschöpfen erfahren?«

»Tja. Und das ist bald so weit, glaube ich. Ich höre von Wergeschöpfen dauernd, es stehe kurz bevor.«

Man sollte meinen, ich hätte wenigstens von einem der vielen Supras, die ich kannte, etwas erfahren. Früher oder später mussten Wergeschöpfe und Gestaltwandler die Welt in ihr großes Geheimnis einweihen, oder die Vampire würden sie outen, ob nun absichtlich oder nicht.

»Es könnte sogar einen Bürgerkrieg geben«, sagte Sean, und ich musste mich zwingen, beim Thema zu bleiben.

»Zwischen der Bruderschaft und den Supras?«

Er nickte. »Ich glaube, dazu könnte es kommen.«

»Was würden Sie in dem Fall tun?«

»Ich habe schon ein paar Kriege hinter mir und will keinen einzigen mehr mitmachen«, sagte er prompt. »Layla war noch nie in der Alten Welt, hätte aber Lust dazu. Wir würden nach England gehen, dort könnten wir tanzen oder uns einfach nur verstecken.«

So interessant das alles auch sein mochte, es half mir kein bisschen, die vielen Fragen zu beantworten, die ich mir im Moment stellte. Wer hatte Julian Trout bezahlt? Wer hatte die Dr-Pepper-Bombe gelegt? Wer hatte die restlichen Arkansas-Vampire getötet? War es dieselbe Person, die Henrik ermorden ließ, also der Auftraggeber des Vampirkillers?

»Wozu das Ganze?«, sagte ich laut, und der rothaarige Vampir war ganz verwirrt.

»Wie bitte?«

»Oh, ich habe mit mir selbst geredet. Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu tanzen. Entschuldigen Sie, aber ich muss nach einem Freund sehen.«

Sean tanzte mit mir an den Rand der Tanzfläche, und unsere Wege trennten sich. Er sah sich bereits nach seiner Freundin um. Vampirpaare blieben im Allgemeinen nie sehr lange zusammen. Sogar die hundertjährigen Ehen von Königen und Königinnen sahen nur einmal im Jahr ein eheliches Treffen vor. Hoffentlich waren Sean und Layla da die berühmte Ausnahme.

Ich wollte nach Quinn sehen. Das konnte länger dauern, weil ich keine Ahnung hatte, wohin die Wergeschöpfe ihn gebracht hatten. Ich war unglaublich durcheinander wegen Erics Wirkung auf mich, und das alles zu einem Zeitpunkt, zu dem ich gerade Gefühle für Quinn zu entwickeln begann. Aber ich wusste, wem ich zu Dank verpflichtet war. Quinn hatte mir heute Abend das Leben gerettet. Ich begann meine Suche, indem ich in seinem Zimmer anrief, doch es hob niemand ab.

Wenn ich ein Wergeschöpf wäre, wohin hätte ich einen verwundeten Tiger gebracht? Okay, keine Öffentlichkeit, denn die Wergeschöpfe lebten im Verborgenen. Sie würden alles tun, damit kein Hotelangestellter auch nur ein Wort aufschnappte, das ihnen die Existenz dieser anderen Supras verraten könnte. Sie würden Quinn daher auf eins ihrer Hotelzimmer bringen, stimmt's? Also, wer hatte ein eigenes Zimmer und außerdem noch etwas für Wergeschöpfe übrig?

Jake Purifoy, natürlich - früher Werwolf, jetzt Vampir. Bei ihm könnte Quinn sein - oder irgendwo unten in der Hotelgarage, beim Chef des Sicherheitsdienstes oder in der Krankenstation, wenn's hier so etwas gab. Doch irgendwo musste ich beginnen. Also fragte ich an der Rezeption, und der Portier sah anscheinend kein Problem darin, mir die Zimmernummer zu geben. Okay, Jake und ich waren als Mitglieder derselben Delegation eingetragen. Es war nicht der Portier, der sich bei unserer Ankunft so unmöglich benommen hatte. Dieser hier dachte, was für ein hübsches Kleid ich trug und dass seiner Frau so was auch gut stehen würde.

Jakes Zimmer war eine Etage über meiner, und als ich die Hand hob, um anzuklopfen, prüfte ich nebenbei, wie viele Gehirne sich in dem Zimmer befanden. An einer Stelle war ein Loch in der Luft, das deutete auf einen Vampir (besser kann ich's leider nicht beschreiben), ansonsten waren nur einige Menschen da. Doch ich stieß auf einen Gedanken, der mir die Hand erstarren ließ, noch ehe ich anklopfen konnte.

... sie sollten alle sterben, lautete der Gedanke, den ich auffing. Allerdings folgte nichts weiter - kein anderer Gedanke, der diese unheilvolle Idee erklärt oder ausgeführt hätte. Also klopfte ich schließlich, und sofort veränderte sich die Anordnung im Zimmer. Jake öffnete die Tür. Er wirkte nicht gerade einladend.

»Hi Jake«, sagte ich und lächelte so offen und unschuldig wie möglich. »Wie geht's? Ich wollte fragen, ob Quinn bei Ihnen ist.«

»Bei mir?« Jake klang verblüfft. »Seit ich herübergeholt wurde, habe ich kaum ein Wort mit Quinn gewechselt, Sookie. Es gibt nichts mehr, worüber wir reden könnten.« Ich muss ziemlich ungläubig dreingeschaut haben, denn er fügte rasch hinzu: »Oh, das liegt nicht an Quinn, sondern an mir. Ich kann einfach die Kluft nicht überwinden zwischen dem, der ich war, und dem, der ich jetzt bin. Ich bin ja nicht mal sicher, wer ich überhaupt bin.« Er ließ die Schultern hängen.

Das klang ziemlich aufrichtig. Und ich hatte eine Menge Mitgefühl für ihn. »Wie auch immer«, sagte Jake, »ich habe geholfen, ihn auf die Krankenstation zu tragen, und dort ist er bestimmt immer noch. Eine Gestaltwandlerin namens Bettina und ein Werwolf namens Hondo sind bei ihm.«

Jake hielt die Tür angelehnt, seine Freunde sollte ich nicht sehen. Er wusste nicht, dass ich auch so erkannte, dass er Besuch auf seinem Zimmer hatte.

Es ging mich natürlich überhaupt nichts an. Aber es war beunruhigend. Noch als ich ihm dankte und mich zum Gehen wandte, dachte ich über die Situation nach. Dem gebeutelten Jake noch mehr Probleme zu bereiten war das Letzte, was ich wollte. Doch falls er irgendwie in das Komplott verwickelt war, das hier im Hotel Pyramide von Giseh geschmiedet wurde, musste ich es herausfinden.

Das Wichtigste zuerst. Ich ging hinunter in mein Zimmer, rief an der Rezeption an und ließ mir den Weg zur Krankenstation beschreiben, den ich sorgfältig auf einen Notizzettel schrieb. Dann schlich ich wieder die Treppe hinauf zu Jakes Tür, doch inzwischen war sein Besuch gegangen. Ich sah bloß noch zwei Menschen von hinten. Seltsam. Ich war nicht ganz sicher, aber der eine sah aus wie der mürrische Joe, der computerfixierte Angestellte aus der Gepäckabteilung. Jake hatte sich in seinem Zimmer mit Hotelangestellten getroffen. Vielleicht fühlte er sich in der Gesellschaft von Menschen immer noch wohler als in der von Vampiren. Aber dann hätte er sich doch sicher für Wergeschöpfe entschieden...

Während er mir noch leidtat, öffnete sich Jakes Tür, und er trat heraus. Ich hatte nicht auf leere Stellen geachtet, nur auf Hinweise auf Lebende. Mein Pech. Jake wirkte leicht misstrauisch, als er mich sah. Was ich ihm nicht vorwerfen konnte.

»Wollen Sie mit mir gehen?«, fragte ich.

»Was?« Er wirkte erschrocken. Er war noch nicht lange genug Vampir, um sofort nach dem Hintersinn zu suchen.

»Um Quinn zu besuchen?«, fügte ich hinzu. »Ich habe mir den Weg zur Krankenstation beschreiben lassen. Sie sagten, Sie hätten ihn eine ganze Weile nicht gesprochen, und da dachte ich, Sie wollten vielleicht mitkommen?«

»Das ist zwar eine gute Idee, Sookie«, meinte Jake, »aber das lasse ich lieber. Die meisten Gestaltwandler wollen nichts mehr mit mir zu tun haben. Quinn ist da noch einer der Nettesten, aber auch ihn beunruhigt meine Gegenwart bestimmt. Er kennt meine Mutter, meinen Vater, meine Exfreundin, alle Leute meines früheren Lebens, die sich inzwischen von mir abgewandt haben.«

»Jake, es tut mir so leid«, rief ich impulsiv. »Es tut mir leid, dass Hadley Sie herübergeholt hat, obwohl Sie lieber gestorben wären. Sie mochte Sie sehr gern und wollte Ihren Tod verhindern.«

»Aber ich bin tot, Sookie«, erwiderte Jake. »Ich bin nicht mehr derselbe. Wie Sie sehr gut wissen.« Er nahm meinen Arm und betrachtete die Narbe, die er selbst mit seinen Zähnen hinterlassen hatte. »Und Sie werden auch nie mehr dieselbe sein«, sagte er noch, und dann ging er davon. Keine Ahnung, ob er überhaupt ein Ziel hatte. Er wollte vermutlich bloß weg von mir.

Ich sah ihm nach, bis ich ihn aus dem Blick verlor. Er drehte sich kein einziges Mal nach mir um.

Meine Stimmung war ohnehin anfällig gewesen, und diese Begegnung brachte sie vollends auf den absteigenden Ast. Ich trottete zum Fahrstuhl, entschlossen, diese verdammte Krankenstation zu finden. Die Königin hatte mich nicht per Pager zu sich beordert. Vermutlich saß sie mit anderen Vampiren zusammen, versuchte zu ergründen, wer den Wetterzauberer angeheuert hatte, und feierte ansonsten ihr Glück: kein weiterer Prozess, ein eindeutiges Erbe und die Möglichkeit, ihren geliebten Andre mit Macht zu versehen. Lief doch alles rosig für die Königin von Louisiana. Ich versuchte, mich nicht zu ärgern. Oder hatte ich ein Recht dazu?

Hmmm, mal sehen. Ich hatte geholfen, den Prozess zu beenden, auch wenn ich nicht damit gerechnet hatte, dass er ein so endgültiges und vollständiges Ende nehmen würde wie für den unseligen Henrik, zum Beispiel. Und da die Königin freigesprochen wurde, hatte sie das Erbe erhalten, genau so wie im Ehevertrag versprochen. Na, und wer hatte die Idee mit Andre gehabt? Und auch mit dem Zauberer hatte ich recht behalten. Okay, vielleicht hätte ich mich ein bisschen über mein eigenes, weniger wohlwollendes Schicksal ärgern können. Außerdem würde ich mich früher oder später zwischen Quinn und Eric entscheiden müssen, ohne selbst irgendeine Schuld daran zu tragen. Ich hatte ziemlich lange mit einer Bombe in Händen dagestanden. Die Antike Pythia, der die meisten Vampire mit Ehrfurcht begegneten, war nicht gerade Mitglied meines Fanclubs. Und ich wäre fast von einem Pfeil getötet worden.

Na ja, ich hatte schon schlimmere Abende erlebt.

Schließlich erreichte ich die Krankenstation, die einfacher zu finden war als befürchtet, denn die Tür stand offen, und ich hörte ein vertrautes Lachen. Ich trat ein und sah Quinn mit der hübschen jungen Frau sprechen, die wohl Bettina sein musste, und mit dem Schwarzen, der sicher Hondo war. Zu meiner Überraschung war auch Clovache dort. Sie hatte ihre Waffen nicht abgelegt, wirkte aber lässig wie ein Typ, der die Krawatte gelockert hatte.

»Sookie«, sagte Quinn und lächelte mich an, was die beiden Gestaltwandler nicht taten. Ich war eindeutig eine unwillkommene Besucherin.

Aber die anderen konnten mir egal sein. Ich war hier, um den Mann zu sehen, der mir das Leben gerettet hatte. Ich ging lächelnd auf ihn zu, setzte mich auf den Plastikstuhl neben seinem Bett und nahm seine Hand.

»Sag mir, wie's dir geht.«

»Als hätte ich gerade noch mal Glück gehabt«, sagte Quinn. »Aber bald geht es mir wieder besser.«

»Würden Sie uns einen Augenblick entschuldigen?«, fragte ich äußerst höflich und sah die anderen drei im Zimmer an.

»Ich gehe wieder Kentucky bewachen«, erklärte Clovache und verschwand. Vielleicht hatte sie mir sogar noch kurz zugezwinkert. Bettina wirkte etwas verstimmt, wie eine Studentin, die selbst unterrichtet hatte und deren Dozent jetzt zurückkam und die Autorität wieder an sich riss.

Hondo warf mir einen dunklen Blick zu, in dem mehr als nur die Andeutung einer Drohung lag. »Behandeln Sie ihn gut«, sagte er. »Und strengen Sie ihn nicht zu sehr an.«

»Auf keinen Fall«, erwiderte ich. Und weil ihm kein Grund einfiel, um zu bleiben, und Quinn offensichtlich mit mir reden wollte, ging auch er.

»Mein Fanclub wird größer und größer«, sagte ich, während ich ihnen nachsah. Ich stand auf und schloss die Tür. Solange kein Vampir oder Barry draußen stand, waren wir ziemlich unter uns.

»Ist das die Stelle, an der du mich wegen des Vampirs fallen lässt?«, fragte Quinn. Alle Gutmütigkeit war aus seinem Gesicht gewichen, er lag reglos da.

»Nein. Das ist die Stelle, an der ich dir erzähle, was passiert ist, du mir zuhörst und wir dann darüber reden.« Das alles sagte ich, als wäre ich völlig sicher, dass er mir folgen würde. Doch davon war ich weit entfernt, und mein Herz schlug mir bis in den Hals hinauf, während ich auf seine Antwort wartete. Schließlich nickte er, und ich schloss erleichtert die Augen, während ich seine Linke mit beiden Händen umklammert hielt. »Okay«, sagte ich, riss mich zusammen und begann, die ganze Geschichte zu erzählen. Hoffentlich würde Quinn erkennen, dass Eric wirklich das kleinere Übel von zweien gewesen war.

Quinn zog seine Hand zwar nicht zurück, doch er machte auch keine Anstalten, meine zu halten. »Du bist mit Eric verbunden«, sagte er.

»Ja.«

»Du hast mindestens dreimal sein Blut gehabt.«

»Ja.«

»Weißt du, dass er dich herüberholen kann, wann immer ihm danach ist?«

»Jeder von uns kann herübergeholt werden, wann immer einem Vampir danach ist, Quinn. Sogar du. Es mag vielleicht zwei erfordern, um dich zu Boden zu drücken, und noch einen weiteren, der dir das Blut aussaugt und dir seines gibt. Aber es wäre möglich.«

»Es würde nicht allzu lange dauern, wenn Eric es wollte, jetzt, da ihr so oft das Blut des anderen hattet. Und das ist Andres Schuld.«

»Ich kann nichts mehr dagegen tun. Wenn ich es nur könnte. Ich wünschte, ich könnte Eric aus meinem Leben streichen. Aber es geht nicht.«

»Es sei denn, er würde gepfählt«, sagte Quinn.

Ich spürte einen Stich im Herzen, der mich beinahe die Hand vor die Brust schlagen ließ.

»Du willst nicht, dass das geschieht.« Quinns Mund war eine einzige harte Linie.

»Nein, natürlich nicht!«

»Du machst dir etwas aus ihm.«

Oh, Scheiße. »Quinn, du weißt doch, dass Eric und ich mal eine Weile zusammen waren. Aber er litt an Gedächtnisschwund und hat deshalb alles vergessen. Ich meine, er weiß um die Tatsache an sich, kann sich aber an Details überhaupt nicht mehr erinnern.«

»Würde mir irgend jemand anders diese Geschichte erzählen, wüsstest du, was ich davon hielte.«

»Quinn, ich bin aber nicht irgendein anderer.«

»Liebling, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich mag dich und verbringe gern Zeit mit dir. Ich gehe gern mit dir ins Bett, ich esse gern mit dir zusammen und koche gern mit dir. Ja, ich mag fast alles an dir, sogar dein seltsames Talent. Aber mit dem Teilen habe ich es nicht so.«

»Ich bin nicht mit zwei Typen auf einmal zusammen.«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich will sagen, dass ich mit dir zusammen bin, solange du das auch willst.«

»Und was willst du machen, wenn der blonde Wikinger dich auffordert, mit ihm ins Bett zu springen?«

»Dann sage ich ihm, dass ich vergeben bin ... wenn du das auch so siehst.«

Ruhelos rückte Quinn in seinem schmalen Bett herum. »Meine Wunde heilt, aber ich habe noch Schmerzen.« Er wirkte sehr müde.

»Ich würde dich mit all dem nicht belasten, wenn es mir nicht so wichtig wäre«, sagte ich. »Ich versuche aufrichtig zu sein. Absolut aufrichtig. Du hast den Pfeil für mich abgefangen, und das ist das Mindeste, was ich tun kann.«

»Das weiß ich. Sookie, ich bin ein Mann, der fast immer weiß, was er will, aber ich muss dir sagen ... Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Bis zu all dem hier dachte ich, wir wären wie geschaffen füreinander.« Quinns Augen glühten auf. »Wenn er sterben würde, hätten wir keine Probleme.«

»Wenn du ihn töten würdest, hätte ich ein Problem«, sagte ich. Noch deutlicher konnte ich es nicht aussprechen.

Quinn schloss die Augen. »Wir müssen über all das noch mal nachdenken, wenn ich gesund bin und du ausgeschlafen und dich entspannt hast. Außerdem musst du Frannie richtig kennenlernen. Ich bin so ...« Zu meinem Entsetzen schienen Quinn die Worte zu stocken. Wenn er jetzt weinte, würde auch ich weinen, und Tränen waren das Letzte, was ich gebrauchen konnte. Ich beugte mich so weit über ihn, dass ich schon meinte, auf ihn draufzufallen, und küsste ihn. Nur ein rascher Druck meiner Lippen auf seine. Doch er ergriff mit dem gesunden Arm meine Schulter und zog mich wieder an sich, und plötzlich war da so vieles zu entdecken, seine Wärme und Intensität ... doch dann riss ein Stöhnen uns wieder in die Gegenwart zurück. Er versuchte, das Gesicht nicht vor Schmerz zu verziehen.

»Oh! Das tut mir so leid.«

»Entschuldige dich nie für einen solchen Kuss«, sagte Quinn, der überhaupt nicht mehr weinerlich wirkte. »Da ist etwas zwischen uns beiden, Sookie, etwas, das uns verbindet. Und ich will nicht, dass Andres Vampir-Mist das alles ruiniert.«

»Ich auch nicht«, entgegnete ich. Ich wollte Quinn nicht aufgeben, nicht zuletzt, weil es so dermaßen knisterte zwischen uns. Andre machte mir Angst, und wer wusste schon, welche Absichten er verfolgte? Vermutlich wusste das nicht einmal Eric, aber der stellte sich nie gegen die Macht.

Widerwillig verabschiedete ich mich von Quinn und machte mich auf den Weg zurück in den Ballsaal. Ich fühlte mich verpflichtet, zu fragen, ob die Königin mich brauchte, war aber vollkommen erschöpft und wollte eigentlich nur noch aus meinem Kleid heraus und ins Bett fallen.

Clovache lehnte an einer Wand im Flur vor mir, und ich hatte den Eindruck, sie würde auf mich warten. Die jüngere Britling war weniger statuenhaft als Batanya, und während Batanya wie ein eindrucksvoller Falke mit dunklen Locken wirkte, war Clovache insgesamt etwas normaler mit ihrem fedrigen aschbraunen Haar, das einen guten Friseur vertragen hätte, und den großen grünen Augen unter den gebogenen Augenbrauen.

»Er ist ein guter Mann«, sagte sie mit ihrem harten Akzent. Tja, besonders subtil war Clovache nicht, das stand mal fest.

»Ja, das finde ich auch.«

»Vampire dagegen sind per Definition falsch und verschlagen.«

»Per Definition? Meinen Sie, ausnahmslos alle?«

»Ja.«

Ich schwieg, während wir weitergingen. Ich war zu müde und wollte nicht darüber nachdenken, warum die Kriegerin mir das erzählte. Also fragte ich sie einfach. »Was heißt das, Clovache? Worauf wollen Sie hinaus?«

»Haben Sie sich nicht gefragt, warum wir hier sind und den König von Kentucky bewachen? Warum er beschlossen hat, unsere wahrhaft astronomischen Preise zu bezahlen?«

»Doch, schon, aber es geht mich ja nichts an.«

»Es geht Sie sogar sehr viel an.«

»Dann erzählen Sie es mir. Ich kann nicht mehr raten.«

»Isaiah hat vor einem Monat eine Spionin der Bruderschaft in seinem Gefolge entdeckt.«

Ich blieb wie angewurzelt stehen und Clovache auch. Über diese Worte musste ich einen Augenblick nachdenken. »Das ist richtig schlimm«, sagte ich schließlich und spürte selbst, wie unangemessen meine Bemerkung klang.

»Schlimm für die Spionin, stimmt. Aber sie hat ein paar Informationen rausgerückt, ehe sie ins Reich der Schatten einging.«

»Wow, hübsch formuliert.«

»Quatsch, sie starb, und das war nicht hübsch. Isaiah ist ein ziemlich altmodischer Kerl. Modern nach außen, aber im Kern ein traditioneller Vampir. Er hat sich bestens amüsiert mit dem armen Miststück, ehe sie aufgab.«

»Können Sie ihrer Aussage denn trauen?«

»Gute Frage. Ich würde alles Mögliche zugeben, wenn mir dadurch einige der Dinge erspart blieben, die seine Freunde ihr angetan haben.«

Na, ob das wirklich stimmte? Clovache war aus ziemlich hartem Holz geschnitzt.

»Aber ich glaube, sie hat die Wahrheit gesagt. Anscheinend hat eine Splittergruppe der Bruderschaft Wind von der Vampirkonferenz bekommen und darin eine günstige Gelegenheit gesehen, mit dem eigenen Kampf gegen Vampire an die Öffentlichkeit zu treten. Nicht nur Demonstrationen und Reden gegen Vampire, sondern echter Krieg. Diese Leute stehen nicht für die ganze Bruderschaft ... die Anführer sind ja immer sehr vorsichtig und beteuern: O Gott, wir dulden keinerlei Gewalt, gegen niemanden. Wir warnen die Menschen nur, dass sie mit dem Teufel verkehren, wenn sie sich auf Vampire einlassend«

»Sie wissen sehr gut Bescheid über die Dinge in dieser Welt«, sagte ich.

»Ja«, erwiderte sie. »Ich stelle eine Menge Nachforschungen an, bevor wir einen Job annehmen.«

Ich hätte sie gern gefragt, wie ihre Welt aussah, wie sie von der einen Welt in die andere kam, wie hoch ihre Preise waren, ob alle Krieger in ihrer Welt Frauen waren oder ob auch Männer dazugehörten; und wenn, wie sie in diesen knallengen Hosen aussahen. Aber es war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit für solche Fragen.

»Was steckt also dahinter?«, fragte ich stattdessen.

»Vielleicht versucht die Bruderschaft, hier irgendeinen Großangriff zu starten.«

»Die Bombe in der Limodose?«

»Na ja, das wundert mich. Die Bombe lag nicht in der Suite der Königin von Louisiana, und die Bruderschaft dürfte inzwischen wissen, dass ihr Anschlag vereitelt wurde, wenn es denn ihr Anschlag war.«

»Und es gibt ja auch noch die drei ermordeten Vampire in der Arkansas-Suite«, erinnerte ich sie.

»Wie gesagt, ich wundere mich«, meinte Clovache.

»Hätten sie Jennifer Cater und die anderen denn getötet?«

»Sicher, wenn sie Gelegenheit dazu gehabt hätten. Aber sich mit so einer kleinen Sache die Hände schmutzig zu machen, wenn sie laut Aussage ihrer Spionin eine richtig große Sache planen - das scheint recht unwahrscheinlich. Außerdem, wie sollte ein Mensch in eine Suite gelangen und drei Vampire töten können?«

»Wozu war die Dr-Pepper-Bombe dann gut?«, fragte ich, weil ich einfach keine Absicht dahinter erkennen konnte. Wir waren immer weiter gegangen und befanden uns jetzt in der Nähe des Zeremoniensaals. Ich konnte das Ballorchester bereits hören.

»Um Ihnen ein paar graue Haare mehr zu bescheren«, sagte Clovache lächelnd.

»Das dürfte kaum der Zweck gewesen sein«, erwiderte ich. »So wichtig bin ich nicht.«

Clovache wurde wieder ernst. »Sie haben recht. Die Bruderschaft hätte die Bombe nicht gelegt, weil so eine kleine Aktion nur Aufmerksamkeit auf ihre größeren Pläne gezogen hätte.«

»Dann wurde sie aus einem anderen Grund gelegt.«

»Aus welchem anderen Grund?«

»Wäre die Bombe explodiert, hätte sie der Königin einen mächtigen Schreck eingejagt«, sagte ich langsam.

Clovache wirkte überrascht. »Und sie nicht getötet?«

»Sie war nicht mal in der Suite.«

»Die Bombe hätte eigentlich früher hochgehen sollen«, sagte Clovache.

»Woher wissen Sie das?«

»Von diesem Sicherheitstypen. Donati. Das hat die Polizei ihm erzählt. Donati sieht uns als Profikollegen.« Clovache grinste. »Ihm gefallen Frauen in Rüstung.«

»Hey, wem nicht?« Ich erwiderte ihr Grinsen.

»Und es war eine schwache Bombe, wenn eine Bombe schwach genannt werden kann. Ich will nicht sagen, dass sie keine Schäden verursacht hätte. Vielleicht wäre sogar jemand umgekommen, möglicherweise Sie. Aber die ganze Aktion erscheint ziemlich nutzlos und schlecht geplant.«

»Es sei denn, die Bombe sollte bloß Angst und Schrecken verbreiten. Gelegt, nur um entdeckt und entschärft zu werden.«

Clovache zuckte die Achseln.

»Ich versteh's nicht«, sagte ich. »Wenn nicht die Bruderschaft, wer dann? Was hat die Bruderschaft vor? Will sie mit hammerharten Baseballschlägern ausgerüstet in der Lobby aufmarschieren?«

»Der Sicherheitsdienst hier ist nicht sonderlich gut.«

»Ja, ich weiß. Als ich unten im Keller einen Koffer für die Königin abgeholt habe, waren die Wachmänner ziemlich nachlässig. Und ich glaube, die Angestellten werden auch nicht durchsucht, ehe sie mit ihrer Schicht beginnen. Außerdem kriegen die da unten eine Menge Koffer durcheinander.«

»Dabei wurden die Leute von Vampiren eingestellt. Unglaublich. Einerseits wissen die Vampire, dass sie nicht unsterblich sind und getötet werden können. Andererseits haben sie schon so lange überlebt, dass sie sich allmächtig fühlen.« Clovache zuckte die Achseln. »Also, zurück an die Arbeit.« Wir hatten den Ballsaal erreicht. Die Band der Untoten Tänzer spielte immer noch.

Die Königin stand sehr dicht bei Andre, der sich nicht mehr hinter ihr hielt, sondern neben sie getreten war. Ich wusste, was das bedeutete, doch es war nicht auffällig genug, um Kentucky die Hoffnung zu nehmen. Christian Baruch hielt sich ebenfalls in ihrer Nähe auf. Hätte er einen Schweif gehabt, hätte er damit auch noch gewedelt, so sehr war er darauf erpicht, Sophie-Anne zu gefallen. Ich blickte mich nach den anderen Königen und Königinnen um, die an ihren Gefolgen zu erkennen waren. Alle zusammen in einem Raum hatte ich sie noch nie gesehen, und ich begann zu zählen. Es gab nur vier Königinnen, die anderen zwölf Herrscher waren männlich. Von den vier Königinnen schien Minnesota mit dem König von Wisconsin verheiratet zu sein. Ohio hatte den Arm um Iowa gelegt, die waren also auch ein Paar. Sophie-Anne war neben Alabama die einzige nicht verheiratete Königin.

Viele Vampire waren ziemlich anpassungsfähig, was das Geschlecht ihres Sexualpartners anging, oder zumindest sehr tolerant denen gegenüber, die etwas anderes bevorzugten. Andere dagegen weniger. Kein Wunder, dass Sophie-Anne so sehr strahlte, auch wenn die dunklen Wolken von Peter Threadgills Tod sich noch nicht ganz verzogen hatten. Vampire schienen lustige Witwen nicht zu fürchten.

Alabamas Geliebter spazierte mit seinen Fingern ihren nackten Rücken hinauf, und sie kreischte vor Schreck. »Du weißt doch, dass ich Angst vor Spinnen habe«, sagte sie spielerisch und wirkte beinahe wie ein Mensch, als sie ihn an sich zog. Obwohl er sie absichtlich erschreckt hatte, rückte sie ihm noch näher.

Moment, dachte ich. Einen Moment mal. Doch die Idee wollte einfach keine Form annehmen.

Sophie-Anne sah mich und winkte mich heran. »Ich glaube, die meisten Menschen sind schon gegangen«, sagte sie.

Ein Blick durch den Ballsaal bestätigte das. »Was halten Sie von Julian Trout?«, fragte ich, weil ich die Sorge loswerden wollte, sie könnte ihm etwas Schreckliches angetan haben.

»Er wusste gar nicht, was genau er getan hat«, erklärte Sophie-Anne. »Zumindest in mancher Hinsicht. Aber ich werde mich mit ihm einigen.« Sie lächelte. »Seiner Frau und ihm geht es gut. Ich brauche Sie heute Nacht nicht mehr. Gehen Sie sich amüsieren.« Es klang keineswegs herablassend. Sophie-Anne wollte wirklich, dass ich mich amüsierte, auch wenn es sie nicht interessierte, was ich tat.

»Danke«, erwiderte ich, und dann fiel mir ein, dass ich das besser noch etwas ausstaffieren sollte. »Vielen Dank, Ma'am, und auch Ihnen noch eine schöne Nacht. Wir sehen uns morgen Abend.«

Ich war froh, dort endlich herauszukommen. In einem Saal voller Vampire wurden mir die Blicke, die ich auf mich zog, langsam etwas zu begehrlich. Einzelnen Blutsaugern fiel es leichter, sich an künstliches Blut zu halten, als einer ganzen Gruppe. Irgendwie ließ die gemeinsame Erinnerung an die gute alte Zeit sie etwas Warmes direkt aus der Quelle wünschen, und nicht diesen Drink, der im Labor hergestellt und in der Mikrowelle aufgewärmt wurde. Wie aufs Stichwort kamen da die freiwilligen Blutspender durch eine Hintertür und reihten sich an einer Wand auf. Schon nach kurzer Zeit waren sie alle beschäftigt und (vermutlich) glücklich.

Als Bill mal während des Sex mein Blut hatte, erzählte er mir, dass das Blut aus dem Hals eines Menschen - nach sehr viel TrueBlood - zu vergleichen wäre mit einem Besuch im Steakhouse, wenn man vorher nur bei McDonald's gegessen hatte. Ich sah, wie Gervaise sich in einer Ecke liebkosend über Carla hermachte, und fragte mich einen Moment lang, ob sie Hilfe brauchte. Dann sah ich ihr Gesicht - eindeutig nein.

Carla kam auch in dieser Nacht nicht aufs Zimmer, und weil Quinn nicht da war, fand ich das fast schade. Andererseits gab es viel zu viel, über das ich nachdenken musste. Anscheinend suchten die Schwierigkeiten auf den Fluren der Pyramide von Giseh geradezu nach mir, und ganz egal, um welche Ecke ich bog, sie fanden mich immer.