Kapitel 8

»Ich reise in die weite Welt...«, sang ich vor mich hin.

»Na, ich werde vor Einsamkeit nicht gleich in Tränen ausbrechen«, sagte Amelia, die mir freundlicherweise versprochen hatte, mich zum Flughafen zu fahren. Vielleicht hätte ich ihr noch das Versprechen abnehmen sollen, an diesem Morgen auch freundlich zu mir zu sein. Schon während ich mich schminkte, hatte sie ziemlich verdrossen gewirkt.

»Wenn ich nur mitfahren könnte.« Na, endlich gab Amelia zu, was ihr im Magen lag. Ich hatte ihr Problem natürlich längst erkannt, ehe sie es aussprach. Aber ich konnte auch nichts dagegen tun.

»Ich habe keinen Einfluss darauf, wer mitfährt und wer nicht. Ich bin nur eine angeheuerte Hilfskraft.«

»Ja, ja«, erwiderte Amelia mürrisch. »Ich kümmere mich um die Post, gieße die Blumen und bürste Bob. Übrigens, weißt du, dass dein Versicherungsvertreter von der State Farm eine Empfangsdame sucht? Die Mutter seiner bisherigen Mitarbeiterin wurde aus New Orleans evakuiert und braucht jetzt den ganzen Tag über Hilfe.«

»Oh, bewirb dich doch um den Job«, ermunterte ich sie. »Das gefällt dir garantiert.« Mein Versicherungsvertreter war ein Zauberer, der Versicherungen mit Zaubersprüchen absicherte. »Du wirst Greg Aubert bestimmt mögen - und noch dazu interessant finden.« Dieses Bewerbungsgespräch würde eine freudige Überraschung für Amelia bereithalten.

Amelia sah mich von der Seite an und lächelte. »Oh, ist er etwa ein toller Typ und Single?«

»Nee, er hat ganz andere verborgene Qualitäten. Aber vergiss nicht, du hast Bob versprochen, die Hände von den Jungs zu lassen.«

»Oh, klar.« Amelias Miene verdüsterte sich. »Komm, wir sehen uns mal dein Hotel an.«

Amelia brachte mir gerade bei, den Computer meiner Cousine Hadley zu benutzen. Eigentlich hatte ich ihn bloß aus New Orleans mitgebracht, um ihn zu verkaufen, aber Amelia hatte mich überredet, ihn bei mir zu Hause anzuschließen. Sah ziemlich witzig aus, wie das Ding in der ältesten Ecke meines Hauses thronte, in dem Raum, den ich als Wohnzimmer nutzte. Die extra Telefonleitung fürs Internet zahlte Amelia, weil sie die im oberen Stockwerk für ihr Notebook sowieso brauchte. Ich war immer noch eine blutige Anfängerin.

Amelia schaltete ihr Notebook an, ging online, rief Google auf und gab »Hotel Pyramide von Giseh« ein. Wir starrten das Bild an, das sich auf dem Bildschirm öffnete. Die meisten Häuser dieser Vampirhotelkette standen in großen Ballungsgebieten, wie das in Rhodes, und waren stets eine Touristenattraktion. Von allen einfach kurz »Pyramide« genannt, waren sie natürlich auch wie eine geformt und rundum mit bronzefarbenem Spiegelglas verkleidet. Nur um eine der unteren Etagen lief wie ein Band eine Fensterfront aus hellerem Glas.

»Nicht so ganz ... hmmm.« Amelia betrachtete das Gebäude und legte den Kopf schief.

»Der Winkel ist zu groß«, bestätigte ich nickend.

»Stimmt. Sieht aus, als hätten sie eine Pyramide bauen wollen, aber nicht so viele Etagen benötigt, dass es mit der Form richtig hinhaut. Der Winkel ist nicht spitz genug, damit's wirklich großartig wirkt.«

»Und der Grundriss sieht so merkwürdig rechteckig aus.«

»Das auch. Das da sind sicher die Konferenzräume.«

»Nirgends Parkhäuser.« Ich sah noch mal genauer hin.

»Oh, die Parkgaragen liegen bestimmt unter dem Gebäude. So was können die dort oben bauen.«

»Aber das Hotel liegt doch an einem See«, erwiderte ich. »Hey, ich werde den Michigansee sehen. Sieh mal, da ist nur ein kleiner Park zwischen Hotel und Seeufer.«

»Und eine ungefähr sechsspurige Straße«, bemerkte Amelia.

»Okay, das auch.«

»Die großen Einkaufszentren sind ganz in der Nähe«, sagte sie.

»Eine unserer Etagen ist Menschen vorbehalten«, las ich vor. »Wetten, das ist diese hier, die mit dem helleren Glas? Erst dachte ich, das wäre bloß Design. Aber hör mal: Dort können unsere Menschengäste das helle Tageslicht genießen, was sehr wichtig für ihr Wohlbefinden ist.«

»Eine nette Umschreibung für: Das ist so Vorschrift«, sagte Amelia. »Was gibt's denn sonst noch? Tagungsräume, bla bla bla. Durchgehend blickdichtes Glas, außer auf der Etage für Menschen. Erlesen ausgestattete Suiten für höchste Ansprüche, und so weiter und so fort. Unsere Mitarbeiter sind ganz auf die Bedürfnisse von Vampiren eingestellt. Soll das heißen, die stellen sich da alle zum Blutspenden oder zum Vögeln zur Verfügung?«

Herrgott, Amelia konnte wirklich zynisch sein. Aber seit ich wusste, wer ihr Vater war, erschien mir das nicht mehr ganz so merkwürdig.

»Ich würde ja zu gern den obersten Raum sehen, die Spitze der Pyramide«, sagte ich.

»Geht nicht. Hier steht, dass das kein Gästebereich ist. Dort ist die Klimaanlage untergebracht und anderer technischer Kram.«

»Na, dann nicht. Ich glaub, wir müssen los.« Ich sah auf meine Armbanduhr.

»Oh, ja.« Düster starrte Amelia auf den Bildschirm.

»Ich bin doch bloß eine Woche weg«, sagte ich. Amelia gehörte eindeutig zu den Leuten, die nicht gern allein sind. Wir gingen hinunter und trugen mein Gepäck ins Auto.

»Für Notfälle habe ich die Nummer des Hotels, und deine Handynummer auch. Hast du dein Ladegerät dabei?« Amelia ließ den Wagen an, kurvte meine lange kiesbestreute Auffahrt hinunter und bog in die Hummingbird Road ab. Wir würden einen Bogen um Bon Temps machen und direkt auf die Autobahn fahren.

»Klar.« Und meine Zahnbürste samt Zahnpasta, Rasierer, Deo, Föhn (nur für den Fall), Make-up, all meine neuen Klamotten und noch einige andere Anziehsachen, jede Menge Schuhe, ein Nachthemd, Amelias Reisewecker, Unterwäsche, ein bisschen Schmuck, eine zweite Handtasche und zwei Taschenbücher. »Danke, dass du mir deine Reiseausrüstung geliehen hast.« Amelia hatte mir ihren hellroten Rollkoffer und einen dazu passenden Kleidersack überlassen, plus Umhängetasche, in die ich ein Buch, Kreuzworträtsel, einen tragbaren CD-Player, Kopfhörer und eine kleine CD-Box gestopft hatte.

Auf der Fahrt redeten wir nicht viel. Wie komisch, dachte ich, dass Amelia allein im Haus meiner Familie zurückblieb. Dort hatten seit über hundertsiebzig Jahren nur Stackhouses gewohnt.

Unsere sporadischen Gespräche erstarben ganz, als wir uns dem Flughafen näherten. Es schien nichts mehr zu sagen zu geben. Wir kamen direkt vor dem Shreveport-Hauptterminal heraus, mussten aber noch weiter zu einem kleinen privaten Hangar. Hätte Eric nicht schon vor Wochen ein Flugzeug von Anubis Airline gechartert, hätte er jetzt ein echtes Problem gehabt, denn die Vampirkonferenz strapazierte die Anubis-Flotte ziemlich. Alle beteiligten Bundesstaaten entsandten Delegationen, und zu den Gruppen aus Zentralamerika kamen auch noch die aus Mittelamerika hinzu, vom Golf bis zur kanadischen Grenze.

Noch vor ein paar Monaten hätte Louisiana zwei Flugzeuge benötigt. Jetzt reichte eins, zumal einige Leute bereits vorausgereist waren. Nach dem Treffen im Fangtasia hatte ich auf die Liste vermisster Vampire geschaut und darauf leider auch die Namen von Melanie und Chester gefunden. Die beiden hatte ich in der Residenz der Königin in New Orleans kennengelernt. Es war zwar keine Zeit geblieben, sich richtig anzufreunden, doch sie schienen sehr nette Vampire zu sein.

Der Hangar war eingezäunt, und am Tor stand ein Wachmann, der erst meinen und dann Amelias Führerschein überprüfte, ehe er uns durchfahren ließ. Er war ein Mensch und schien ein richtiger Polizist außer Dienst zu sein, aber er wirkte überaus kompetent und aufmerksam. »Fahren Sie nach rechts. Einen Parkplatz finden Sie in der Nähe des nach Osten gelegenen Eingangs«, erklärte er.

Amelia beugte sich ein wenig vor beim Fahren, aber der Eingang war deutlich genug zu sehen. Außerdem parkten dort bereits andere Autos. Es war ungefähr zehn Uhr morgens, und ein kühler Hauch lag in der Luft, den die Wärme noch nicht überdeckte. Ein früher Einbruch des Herbstes. Nach diesem enorm heißen Sommer ein einziger Segen. In Rhodes würde es ohnehin kälter sein, hatte Pam gesagt, die im Internet die Wettervorhersage für die kommende Woche angesehen und mich extra noch angerufen hatte, damit ich einen warmen Pullover mitnahm. Sie hatte beinahe aufgeregt geklungen, was bei Pam schon etwas heißen wollte. Mir erschien Pam in letzter Zeit ein wenig rastlos, ein wenig gelangweilt von Shreveport und dem Fangtasia. Aber vielleicht irrte ich mich da auch.

Amelia half mir, das Gepäck auszuladen. Sie hatte einige Zauber von dem roten Samsonite nehmen müssen, ehe sie ihn mir geben konnte. Was passiert wäre, wenn sie es vergessen hätte, hatte ich lieber nicht gefragt. Ich zog den Griff des Rollkoffers heraus und hängte mir die Umhängetasche über die Schulter. Amelia nahm den Kleidersack und öffnete die Eingangstür.

Ich war noch nie in einem Flugzeughangar gewesen, aber es sah aus wie im Film: ein einziger riesiger Hohlraum. Einige kleinere Flugzeuge parkten darin, und wir gingen, wie Pam uns erklärt hatte, zu der großen Öffnung an der westlichen Seite des Hangars. Unser Charterflugzeug stand draußen, wo uniformierte Anubis-Angestellte Särge auf ein Gepäckförderband luden. Sie alle trugen Schwarz, das nur von einem Schakalkopf auf der Brusttasche aufgelockert wurde - ziemlich affektiert, wie ich fand. Beiläufig sahen sie zu uns herüber, doch keiner verlangte nach Ausweispapieren, ehe wir zur Gangway kamen.

Dort, am Fuß der Treppe, stand Bobby Burnham mit einem Klemmbrett in der Hand. Da es helllichter Tag war, konnte Bobby natürlich kein Vampir sein, doch sein Gesieht war genauso bleich und seine Miene genauso streng wie die der Untoten. Ich war ihm noch nie begegnet, wusste aber, wer er war, und er erkannte mich auch. Das las ich in seinen Gedanken. Sein Wissen hinderte ihn jedoch nicht daran, meinen Personalausweis mit seiner dämlichen Liste abzugleichen. Amelia warf er einen finsteren Blick zu, ganz so, als wolle er ihr zu verstehen geben: Nein, du kannst mich nicht in eine Kröte verzaubern. (Das war es nämlich, was Amelia durch den Kopf schoss.)

»Dann müsste er quaken«, murmelte ich, und sie lächelte.

Bobby stellte sich selbst vor, und als wir nickten, sagte er: »Ihr Name steht auf der Liste, Miss Stackhouse, aber der von Miss Broadway nicht. Ich fürchte, Sie müssen Ihr Gepäck allein hinauftragen.« Bobby genoss seine Macht.

Amelia murmelte etwas vor sich hin, und keine Sekunde später sprudelte Bobby hervor: »Den schweren Koffer trage selbstverständlich ich für Sie hinauf, Miss Stackhouse. Kommen Sie mit dem Kleidersack zurecht? Wenn Ihnen das zu viel Mühe macht, ich bin in einer Minute wieder da und hole ihn.« Das Erstaunen in seinem Gesicht über sich selbst war unbezahlbar, aber ich versuchte, meine Schadenfreude im Zaum zu halten. Amelia spielte ihm da einen ziemlich gemeinen Streich.

»Danke, das schaffe ich schon«, versicherte ich ihm und nahm Amelia den Kleidersack ab, während er mit dem schweren Koffer die Gangway hinaufpolterte.

»Amelia, du Schlitzohr«, sagte ich, aber nicht zu wütend.

»Wer ist denn dieser Mistkerl?«, fragte sie.

»Bobby Burnham, Erics Mann für tagsüber.« Jeder Vampir von gewissem Rang hatte einen in seinem Gefolge. Bobby war von Eric erst kürzlich eingestellt worden.

»Was tut er? Särge abstauben?«

»Nein, er vereinbart Geschäftstermine, geht zur Bank, holt Wäsche aus der Reinigung, sucht Ämter auf, die nur tagsüber geöffnet sind, und so weiter.«

»Also ein Laufbursche.«

»Irgendwie schon. Aber er ist ein wichtiger Laufbursche. Er ist Erics Laufbursche.«

Bobby kam die Treppe wieder herunter, immer noch erstaunt darüber, wie höflich und hilfsbereit er gewesen war. »Lass ihn zufrieden«, sagte ich, weil sie sich schon eine weitere Gemeinheit überlegte.

Amelias Augen flammten auf, ehe sie begriff, was ich meinte. »Ach, was bin ich doch kleinlich«, gab sie zu. »Wie kann ich solch machtbesessene Vollidioten bloß hassen?«

»Wer tut das nicht? Also, wir sehen uns in einer Woche. Danke, dass du mich zum Flugzeug gebracht hast.«

»Ja, ja.« Sie warf mir ein untröstliches Lächeln zu. »Amüsier dich gut, und sieh zu, dass du nicht getötet wirst oder gebissen oder so was.«

Da nahm ich sie ganz spontan in den Arm, und nach einer Schrecksekunde drückte auch sie mich zum Abschied.

»Pass gut auf Bob auf«, rief ich noch, als ich schon die Treppe hinauflief.

Ich konnte mir nicht helfen, irgendwie hatte ich doch ein wenig Angst, weil ich die Verbindung zu meinem vertrauten Leben kappte, wenn auch nur vorübergehend. Die Stewardess von Anubis Airline sagte: »Suchen Sie sich bitte einen Platz aus, Miss Stackhouse«, nahm mir den Kleidersack ab und verstaute ihn. Die Kabine glich in keiner Weise dem Inneren eines Flugzeugs nur für Menschen, jedenfalls wurde das auf der Webseite von Anubis Airline behauptet. Die Anubis-Flotte war ganz auf den Transport schlafender Vampire ausgerichtet, Menschen wurden erst in zweiter Linie als Passagiere befördert. Überall in den Wänden waren, riesigen Kofferablagen ähnlich, Einlassungen für Särge. Nur vorne im Flugzeug fanden sich drei Reihen Sitzplätze, rechts jeweils drei und links zwei, für Leute wie mich... oder zumindest für Leute, die den Vampiren auf der Konferenz eine Hilfe sein konnten. Im Moment saßen nur drei andere Passagiere dort. Okay, genau genommen ein weiterer Mensch und zwei Geschöpfe, die nur zum Teil Mensch waren.

»Hi, Mr Cataliades«, sagte ich, und der kugelrunde Mann erhob sich mit einem strahlenden Lächeln aus seinem Sitz.

»Meine liebe Miss Stackhouse«, entgegnete er herzlich, denn genau so sprach Mr Cataliades, »wie sehr ich mich freue, Sie wiederzusehen.«

»Ich freue mich auch, Mr Cataliades.«

Sein Name wurde Ka-TAL-ii-ah-diiz gesprochen, und falls er auch einen Vornamen hatte, kannte ich ihn nicht. Neben ihm saß eine sehr junge Frau, der ihr dunkelrotes Haar in kurzen Igelstacheln vom Kopf abstand: seine Nichte Diantha. Diantha trug stets die gewagtesten Sachen, und heute hatte sie sich selbst übertroffen. Sie war etwa 1,55 Meter groß und klapperdürr und hatte sich für orangefarbene Leggings entschieden, blaue Crocs, einen weißen gecrashten Rock und ein ärmelloses Shirt im Batiklook. Es wurde einem glatt schwindlig bei ihrem Anblick.

Diantha hielt nichts davon, beim Sprechen zu atmen, sondern ratterte alles ohne Punkt und Komma herunter. »Freu-mich-Sie-wieda-zu-sehn.«

»Ich mich auch«, gab ich zurück, und da sie sich sonst nicht rührte, nickte ich ihr nur kurz zu. Manche Supras schütteln einem die Hand, andere nicht, da musste man immer gut aufpassen. Ich drehte mich zu dem dritten Passagier um. Bei einem Menschen konnte nicht viel schiefgehen, dachte ich und streckte ihm meine rechte Hand entgegen. Erst nach einem deutlichen Zögern ergriff der Mann sie - geradeso, als hätte ich ihm einen toten Fisch angeboten. Nach einem schlaffen Händedruck zog er seine Hand sofort wieder zurück. Hätte nur noch gefehlt, dass der Mistkerl sie an seinem Hosenbein abwischte.

»Miss Stackhouse, das ist Johan Glassport, ein Spezialist für Vampirrecht.«

»Mr Glassport«, sagte ich höflich bemüht. Dem würde ich nicht auch noch zeigen, wie beleidigt ich mich fühlte.

»Johan, das ist Sookie Stackhouse, die Telepathin der Königin«, erklärte Mr Cataliades in seiner liebenswürdigen Art. Mr Cataliades' Sinn für Humor war genauso ausgeprägt wie sein kugelrunder Bauch. Sogar jetzt sah ich ein Blitzen in seinen Augen. Doch man sollte besser nie vergessen, dass der nichtmenschliche Teil von ihm - und das war der weitaus größere Teil von Mr Cataliades - der Welt der Dämonen angehörte. Diantha dagegen war nur eine Halbdämonin.

Johan musterte mich kurz von oben bis unten (man hörte ihn beinahe schnauben) und wandte sich wieder dem Buch auf seinem Schoß zu.

Dann begann die Anubis-Stewardess uns mit dem üblichen Sicherheitssermon zu beglücken, und ich schnallte mich an. Kurz darauf waren wir in der Luft. Ich spürte nicht mal die leiseste Flugangst, weil ich dermaßen aufgebracht über Johan Glassports Verhalten war.

So eine aggressive Unhöflichkeit hatte ich noch nie erlebt! Die Menschen in Nordlouisiana mochten nicht viel Geld haben, es gab eine hohe Zahl an Teenagerschwangerschaften und alle möglichen anderen Probleme, aber Herrgott, wir wussten uns höflich zu benehmen.

»Johan-iss'n-Arschloch«, meinte Diantha bloß.

Johan schenkte dieser absolut korrekten Einschätzung überhaupt keine Beachtung und blätterte in seinem Buch eine Seite um.

»Danke, meine Liebe«, sagte Mr Cataliades. »Miss Stackhouse, lassen Sie mich doch wissen, was es Neues in Ihrem Leben gibt.«

Ich drehte mich etwas in meinem Sitz, damit ich die drei sehen konnte. »Da gibt's nicht viel zu erzählen, Mr Cataliades. Den Scheck habe ich bekommen, aber das habe ich Ihnen ja schon geschrieben. Danke, dass Sie sich um alle offenen Fragen zu Hadleys Apartment gekümmert haben. Und wenn Sie es sich doch noch mal überlegen und mir eine Rechnung schicken wollen, so bezahle ich gern dafür.« Okay, nicht gerade gern, aber immerhin in dem guten Gefühl, eine Verpflichtung weniger zu haben.

»Aber nein, meine Liebe. Das war doch das Mindeste, was ich tun konnte. Die Königin hat sich glücklich geschätzt, so ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen zu können. Zumal der Ballabend kaum so verlaufen ist wie geplant.«

»Keiner von uns konnte wissen, dass der Abend so enden würde.« Ich sah noch einmal Wyberts Kopf in einem feinen Sprühregen von Blut an mir vorbeifliegen und schauderte.

»Sie sind die Zeugin«, sagte da plötzlich Johan, legte ein Lesezeichen in sein Buch und klappte es zu. Mit seinen blassen, durch seine Brillengläser vergrößerten Augen fixierte er mich. Jetzt war ich auf einmal nicht mehr der letzte Dreck für ihn, sondern eine interessante und beachtenswerte Person.

»Ja. Ich bin die Zeugin.«

»Dann müssen wir uns unterhalten, sofort.«

»Das kommt etwas überraschend, muss ich sagen. Wenn Sie in diesem wichtigen Prozess wirklich die Königin vertreten, warum haben Sie mich dann nicht längst kontaktiert?«, fragte ich so freundlich wie nur irgend möglich.

»Die Königin hatte Schwierigkeiten, mich zu erreichen, und ich musste noch für andere Klienten Fälle abschließen«, sagte Johan. Der Ausdruck seines glatten Gesichts veränderte sich im Grunde nicht, er wirkte nur plötzlich ein wenig angespannt.

»Johan. Saß. Im. Knast.« Diantha betonte genüsslich jedes einzelne Wort.

»Ach du meine Güte!«, rief ich ehrlich entsetzt.

»Die Anklage war natürlich völlig haltlos«, sagte Johan.

»Natürlich, Johan«, warf Mr Cataliades absolut sachlich ein.

»Ooohhh«, machte ich. »Was für eine Anklage war da denn so völlig haltlos?«

Johan sah mich direkt an, diesmal schon weniger arrogant. »Die Anklage lautete auf Verletzung einer Prostituierten in Mexiko.«

Okay, okay. Ich habe keine Ahnung von der Gesetzeslage in Mexiko. Aber es erschien mir absolut unglaubwürdig, dass ein Amerikaner in Mexiko ins Gefängnis wanderte, weil er eine Prostituierte verletzt hatte, falls das die einzige Anklage sein sollte. Da müsste er schon jede Menge Feinde haben.

»Könnte es vielleicht sein, dass Sie sie mit irgendeinem Gegenstand verletzt haben?«, fragte ich mit einem Lächeln.

»Ich glaube, Johan hielt ein Messer in der Hand«, sagte Mr Cataliades sehr ernst.

Spätestens in diesem Moment erstarb mein Lächeln. »Sie haben in Mexiko im Gefängnis gesessen, weil Sie eine Frau niedergestochen haben?« Wer war hier jetzt der letzte Dreck?

»Eine Prostituierte«, korrigierte er. »So lautete die Anklage. Ich war natürlich völlig unschuldig.«

»Natürlich«, sagte ich.

»Aber hier geht es nicht um die Anklage gegen mich, Miss Stackhouse. Mein Job ist es, die Königin gegen eine äußerst schwerwiegende Beschuldigung zu verteidigen, und Sie sind eine wichtige Zeugin.«

»Ich bin die einzige Zeugin.«

»Gewiss, die Einzige, die den Tod mit eigenen Augen gesehen hat.«

»Ich habe den Tod einiger Leute mit eigenen Augen gesehen.«

»Der einzige Tod, auf den es ankommt, ist der von Peter Threadgill.«

Ich seufzte, weil ich noch einmal an Wyberts Kopf denken musste. »Ja, ich habe Peter Threadgills Tod mit eigenen Augen gesehen.«

Johan war vielleicht noch weniger wert als Abschaum, aber er verstand etwas von seinem Metier. Wir durchliefen ein langes Frage-und-Antwort-Spiel, nach dem der Rechtsanwalt über die Geschehnisse besser Bescheid wusste als ich, und das, obwohl ich dabei gewesen war. Mr Cataliades hörte mit großem Interesse zu und schaltete sich hin und wieder mit einer Richtigstellung ein oder erklärte Johan Glassport den Grundriss des umgebauten Klosters, das die Königin für Feste nutzte.

Diantha hörte auch eine Weile zu, spielte auf dem Boden sitzend eine halbe Stunde »Jacks«, verkrümelte sich dann aber wieder in ihren Sitz und schlief.

Eine Stewardess von Anubis Airline bot uns auf dem Drei-Stunden-Flug von Zeit zu Zeit Drinks und Snacks an. Als ich dem Rechtsanwalt alle Fragen beantwortet hatte, verschwand ich erst mal aufs Klo. Na, das war eine Erfahrung für sich! Ich war vorher noch nie auf einer Flugzeugtoilette gewesen.

Statt gleich zu meinem Platz zurückzukehren, schlenderte ich den Mittelgang entlang und schaute mir all die Särge an. An den Tragegriffen waren jeweils Gepäckschilder angebracht. Mit uns flogen Eric, Bill, die Königin, Andre und Sigebert. Außerdem entdeckte ich den Sarg von Gervaise, der der Königin Unterkunft gewährt hatte, und von Cleo Babbitt, die Sheriff von Bezirk Drei war. Arla Yvonne, Sheriff von Bezirk Zwei, war während der Abwesenheit der Königin die Verantwortung für Louisiana übertragen worden.

Der Sarg der Königin war mit Perlmutt verziert, doch die anderen waren schlicht gehalten und alle aus poliertem Holz gefertigt: keine neumodischen Metallbeschläge für diese uralten Vampire. Ich fuhr mit der Hand über Erics Sarg, und bei der Vorstellung, dass er jetzt ziemlich leblos darin lag, überlief mich ein gruseliger Schauder.

»Gervaises Freundin ist nachts mit Rasul vorausgefahren, um sich zu vergewissern, dass alle Vorbereitungen für die Königin getroffen wurden«, ertönte plötzlich Mr Cataliades' Stimme an meiner rechten Schulter. Ich schrie vor Schreck auf und machte einen Satz, was der Hebenswürdige Anwalt der Königin so witzig fand, dass er rosarot anlief vor Gekichere und Gegluckse.

»Na, Sie schleichen ja vielleicht herum«, sagte ich in einem Tonfall so sauer wie eine frischgepresste Zitrone.

»Sie wollten sehen, wo der Sheriff von Bezirk Fünf liegt.«

»Ja, aber da hinken Sie ein, zwei Gedanken hinterher.«

»Ich besitze leider keine telepathischen Fähigkeiten, meine Liebe. Das habe ich allein aus Ihrer Miene und Ihren Bewegungen geschlossen. Sie haben die Särge gezählt und die Gepäckschilder gelesen.«

»Stimmt es, dass die Königin nicht nur Königin, sondern auch Sheriff ihres eigenen Bezirks ist?«

»Ja, so gibt es weniger Durcheinander. Nicht alle Regenten verfahren so, aber die Königin findet es lästig, stets einen anderen Vampir konsultieren zu müssen, wenn sie etwas in die Tat umsetzen will.«

»Klingt ganz nach der Königin.« Ich sah nach vorn zu unseren Begleitern. Diantha und Johan waren beschäftigt: Diantha schlief und Johan las in seinem Buch. Ob es wohl ein Buch über Sezierkunst war, mit Abbildungen - oder vielleicht eine Auflistung aller Morde von Jack the Ripper, mit Fotos von den Tatorten? Das entsprach in etwa der Geschwindigkeit, mit der Johan umblätterte. »Wie kommt es, dass die Königin jemanden wie den zu ihrem Rechtsanwalt macht?«, fragte ich so leise wie möglich. »Er erscheint mir so ... tja, miserabel.«

»Johan Glassport ist ein ausgezeichneter Jurist, einer, der Fälle übernimmt, die andere längst aufgegeben haben«, sagte Mr Cataliades. »Und außerdem ist er ein Mörder. Aber sind wir das nicht alle, irgendwie?« Mit seinen dunklen Knopfaugen fixierte er mich.

Einen Augenblick lang erwiderte ich seinen Blick. »In Notwehr, wenn ich mein eigenes Leben oder das einer geliebten Person verteidigen müsste, würde ich einen Angreifer töten.« Ich hatte jedes meiner Worte mit Bedacht gewählt.

»Wie diplomatisch Sie das ausdrücken, Miss Stackhouse. Für mich kann ich das nicht behaupten. Manche Geschöpfe habe ich aus reinem Spaß an der Freude getötet.«

Oh, bäh! Das hatte ich nun wirklich nicht wissen wollen.

»Diantha geht gern auf Rotwildjagd, und zu meiner Verteidigung hat sie auch schon Leute getötet. Zusammen mit ihrer Schwester hat sie sogar ein, zwei kriminelle Vampire erledigt.«

Unbedingt Diantha respektvoller behandeln, ermahnte ich mich. Einen Vampir oder Dämon zu töten war wirklich extrem schwierig. Und sie konnte wie der Teufel »Jacks« spielen, hatte ich gesehen.

»Und Johan?«, fragte ich.

»Johans kleine Vorlieben erwähne ich im Moment lieber nicht. Er wird nicht aus der Reihe tanzen, solange er mit uns zu tun hat. Gefällt es Ihnen, wie Johan arbeitet, ich meine bei Ihrer Befragung?«

»Ist das sein Job? Ja, ich glaube schon. Er war sehr gründlich, das meinten Sie wohl.«

»Genau.«

»Können Sie mir sagen, was mich auf der Konferenz erwartet? Was die Königin will?«

»Setzen wir uns«, erwiderte Mr Cataliades, »dann erkläre ich es Ihnen.«

Und so redete er die ganze folgende Stunde, und ich hörte zu oder stellte Fragen.

Als Diantha gähnend erwachte, fühlte ich mich schon ein bisschen besser vorbereitet auf all die neuen Dinge, die in Rhodes auf mich warteten. Johan Glassport klappte sein Buch zu und sah uns an, als wäre er bereit zu einem Gespräch.

»Mr Glassport, waren Sie schon mal in Rhodes?«, fragte Mr Cataliades.

»Ja«, antwortete der Rechtsanwalt. »Ich hatte früher eine Kanzlei dort. Eigentlich bin ich zwischen Rhodes und Chicago gependelt und habe auf halbem Weg gewohnt.«

»Wann sind Sie nach Mexiko gegangen?«, fragte ich.

»Oh, vor ein oder zwei Jahren«, erwiderte er. »Ich hatte hier ein paar Streitigkeiten mit Geschäftspartnern, und es schien ein idealer Zeitpunkt zu sein, um ... nun ...«

»Aus der Stadt zu verschwinden?«, beendete ich hilfsbereit den Satz.

»Die Beine in die Hand zu nehmen?«, schlug Diantha vor.

»Sich das Geld zu schnappen und abzuhauen?«, sagte Mr Cataliades.

»Das alles zusammen trifft es haargenau«, erwiderte Johan Glassport und zeigte die Spur eines feinen Lächelns.