Kapitel 6

Am zweiten Morgen nach Jasons Hochzeit war ich schon wieder mehr ich selbst. Es half, eine Aufgabe zu haben. Ich sollte gleich um zehn, wenn geöffnet wurde, bei Tara's Togs sein und mir die Kleidung aussuchen, die ich laut Eric für die Vampirkonferenz brauchte. Im Merlotte's fing ich heute erst gegen Abend an, um halb sechs, so dass ich das herrliche Gefühl hatte, ein ganzer freier Tag erstrecke sich vor mir.

»Hey, Sookie!«, rief Tara zur Begrüßung, als sie aus den hinteren Gefilden der Boutique kam. Ihre Teilzeithilfe McKenna sah kurz zu mir herüber, räumte dann aber weiter Kleidungsstücke von hier nach dort. Vermutlich hängte sie Sachen an den richtigen Platz zurück, mit so was schienen Verkäuferinnen in Bekleidungsgeschäften ja jede Menge Zeit zu verbringen. McKenna sagte nichts, und falls ich mich nicht irrte, ging sie einem Gespräch mit mir absichtlich aus dem Weg. Ganz schön verletzend, immerhin hatte ich sie nach ihrer Blinddarmoperation vor zwei Wochen noch im Krankenhaus besucht und ihr sogar ein kleines Geschenk mitgebracht.

»Mr Northmans Mitarbeiter Bobby Burnham hat angerufen. Du brauchst also etwas zum Anziehen für eine Reise?«, fragte Tara. Ich nickte und versuchte, sachlich zu wirken. »Was soll's denn sein, Freizeitkleidung? Oder ein Kostüm, etwas für berufliche Zwecke?« Sie warf mir ein unglaublich falsches, strahlendes Lächeln zu. Ich wusste sofort, dass sie sauer auf mich war, weil sie sich Sorgen um mich machte. »McKenna, bringen Sie mal diese Briefe zur Post«, sagte Tara verärgert zu ihrer Angestellten, und McKenna flitzte mit den Sendungen unter dem Arm wie ein reitender Bote zur Hintertür hinaus.

»Tara«, begann ich, »es ist nicht so, wie du denkst.«

»Sookie, das geht mich nichts an.« Tara bemühte sich, möglichst neutral zu klingen.

»Ich finde schon«, sagte ich. »Du bist meine Freundin, und ich will nicht, dass du glaubst, ich würde nur so zum Spaß mit einem Haufen Vampire verreisen.«

»Warum denn sonst?« All die falsche Fröhlichkeit schwand aus Taras Gesicht. Sie meinte es todernst.

»Ich werde dafür bezahlt, dass ich einige Vampire aus Louisiana zu einer großen Konferenz begleite. Als so eine Art, na ja, menschlicher Geigerzähler. Ich soll ihnen sagen, ob jemand sie hinters Licht führen will, denn ich weiß ja, was die Menschen im Gefolge der anderen Vampire denken. Es ist nur dieses eine Mal.« Ausführlicher konnte ich es nicht erklären. Tara war schon einmal viel tiefer, als gut für sie war, in die Welt der Vampire verstrickt gewesen und dabei fast ums Leben gekommen. Sie wollte nichts mehr damit zu tun haben, und das konnte ich ihr nicht verübeln. Deshalb hatte sie mir aber noch lange nicht vorzuschreiben, was ich tun sollte. Ich war selbst gewissenhaft in mich gegangen, sogar noch vor Claudines Predigt, und wenn ich erst mal eine Entscheidung getroffen hatte, erlaubte ich niemandem, sie im Nachhinein anzuzweifeln. Es war okay, dass ich Kleider bekam. Es war okay, dass ich für Vampire arbeitete... solange ich nicht dazu beitrug, dass dabei Menschen umkamen.

»Wir kennen uns schon seit Urzeiten«, sagte Tara leise.

»Sind durch dick und dünn gegangen. Ich hab dich lieb, Sookie, und daran wird sich nie was ändern. Aber das hier ist nicht gerade leicht für mich.« Tara hatte in ihrem Leben schon so viele Sorgen und Enttäuschungen erlebt, dass sie einfach nicht gewillt war, noch mehr durchzumachen. Also ging sie innerlich auf Distanz zu mir. In ihren Gedanken las ich, dass sie heute Abend mal JB anrufen und wieder mit ihm ins Bett gehen würde - und das mehr oder weniger in memoriam unserer Freundschaft.

Tja, was für seltsame Formen so ein verfrühtes Trauern doch annehmen konnte.

»Ich brauche ein Abendkleid, eine Art Cocktailkleid und ein paar hübsche Sachen für tagsüber«, erklärte ich, wobei ich unnötigerweise noch mal auf meine Liste sah. Ich würde mir das alles nicht länger von Tara vermiesen lassen. Ich wollte Spaß haben, egal, wie mürrisch sie aussah. Sie würde damit schon klarkommen.

Das Kleiderkaufen machte mir mehr und mehr Spaß. Ich begann mit dem Abendkleid, dann suchte ich das Cocktailkleid aus und außerdem zwei Kostüme, so richtige Businessdinger (okay, nicht ganz, in schwarzen Nadelstreifen gefalle ich mir einfach nicht). Ferner zwei Hosenanzüge, eine Strumpfhose, Kniestrümpfe und ein, zwei Nachthemden. Und ein paar Dessous.

Ich war hin und her gerissen zwischen Freude und Schuldgefühlen, weil ich viel mehr von Erics Geld ausgab, als nötig gewesen wäre. Und was würde ich tun, wenn Eric meine Einkäufe sehen wollte? Dann käme ich mir ziemlich schäbig vor. Doch irgendwie schien ich wie im Kaufrausch gefangen, teils aus reiner Freude, teils aus Ärger über Tara und teils aus Verleugnung meiner Angst, die mich beschlich bei der Aussicht, mit einer Gruppe Vampire irgendwohin zu reisen.

Mit einem Seufzen, einem sehr leisen, legte ich die Dessous und die Nachthemden zurück ins Regal. Nichts, was nicht unbedingt notwendig war. Es tat mir in der Seele weh, aber ich fühlte mich gleich besser. Kleider für einen bestimmten Zweck einzukaufen, war ja okay. So wie man Nahrungsmittel kaufen musste. Aber Dessous einzukaufen, war noch mal was anderes. Das war wie Kuchen oder Brownies. Lecker, aber nicht gut für einen.

Auch der Pfarrer von Bon Temps, der inzwischen Treffen der Bruderschaft der Sonne besuchte, hatte mich gewarnt: Wer die Freundschaft von Vampiren suche oder sogar für sie arbeite, drücke damit einen Todeswunsch aus. Das war letzte Woche gewesen, als er im Merlotte's seinen Hamburger aß. Daran musste ich denken, während ich an der Kasse stand und Tara all meine Einkäufe einscannte, für die mit Vampirgeld gezahlt wurde. Glaubte ich daran? Dass ich sterben wollte? Ich schüttelte den Kopf. Quatsch. Und die Bruderschaft der Sonne, diesen ultrarechten Flügel der Anti-Vampir-Bewegung, der in Amerika erschreckend große Hochburgen hatte, hielt ich für einen Haufen Idioten. Einfach lächerlich, dass die alle Menschen verdammten, die irgendwie mit Vampiren zu tun hatten oder auch nur das Geschäft eines solchen betraten. Aber warum zogen mich die Vampire eigentlich dermaßen an?

Um die Wahrheit zu sagen: Ich hatte so wenig Chancen auf ein Leben gehabt, wie meine Schulfreunde es heute führten - ein Leben, das ich als Teenager für das Ideal hielt -, dass jede andere sich mir bietende Gelegenheit interessant erschien. Wenn ich schon keinen Ehemann und Kinder haben konnte und mir nicht darüber den Kopf zerbrechen durfte, welchen Salat ich zum Kirchenfest mitnehmen sollte und ob mein Haus einen neuen Anstrich brauchte, dann würde ich mich eben stattdessen fragen, welche Auswirkungen sieben Zentimeter hohe Absätze wohl auf meinen Gleichgewichtssinn haben würden, wenn ich noch dazu einige Extrapfund Pailletten am Leib trug.

Als alles eingepackt war, trug McKenna, die gerade von der Post zurückkam, meine Tüten zum Auto. Tara telefonierte mit Erics Mitarbeiter Bobby Burnham und besprach mit ihm die Summe. Als sie auflegte, wirkte sie zufrieden.

»Na, hab ich alles ausgegeben?«, fragte ich neugierig. Schließlich wollte ich wissen, wie viel Eric in mich investiert hatte.

»Nicht annähernd«, sagte sie. »Willst du noch was?«

Doch jetzt war der Spaß vorbei. »Nein, mir reicht's.« Fast hätte ich dem Impuls nachgegeben, Tara jedes einzelne Teil wieder zurückzugeben. Aber ihr das anzutun, wäre ziemlich schäbig gewesen. »Danke für deine Hilfe, Tara.«

»Nichts zu danken.« Ihr Lächeln wirkte wärmer und echter als vorhin. Tara machte immer gern ein gutes Geschäft, und es war ihr noch nie gelungen, längere Zeit richtig sauer auf mich zu sein. »Du solltest unbedingt zur Welt der Schuhe in Clarice fahren und dir ein Paar zum Abendkleid kaufen. Sie haben ihre Ware gerade reduziert.«

Ich riss mich zusammen. Heute war genau der Tag, um all das zu erledigen. Also, nächster Halt: Welt der Schuhe.

In einer Woche würde ich abfahren, und an diesem Abend rauschte die Arbeit im Merlotte's nur so an mir vorbei, weil meine Aufregung wegen der Reise immer stärker wuchs. So weit wie Rhodes, das irgendwo oben bei Chicago lag, war ich noch nie von zu Hause weg gewesen; ich hatte ja noch nicht mal die Mason-Dixon-Linie Richtung Norden überquert. Geflogen war ich erst ein einziges Mal, die ziemlich kurze Strecke von Shreveport nach Dallas. Ich brauchte noch einen großen Koffer, so einen mit Rollen. Ich brauchte... ach, ich hatte da eine lange Liste voller Kleinigkeiten. Einige Hotels stellten Föhne zur Verfügung, das wusste ich. Auch im »Pyramide von Giseh«? Die Hotels der Pyramide-Kette waren die berühmtesten, ganz auf Vampire ausgerichtete Häuser, die in allen Großstädten Amerikas aus dem Boden geschossen waren.

Mit meinem Boss Sam hatte ich, was meine freien Tage betraf, alles so weit besprochen. Heute Abend wollte ich ihm nur noch Bescheid sagen, wann genau ich fliegen würde. Sam saß am Schreibtisch seines Büros, als ich an die Tür klopfte - okay, an den Türrahmen, denn Sam schloss seine Tür eigentlich nie. Er sah von seinen Rechnungen auf, froh über die Unterbrechung. Wenn er an den Geschäftsbüchern arbeitete, fuhr er sich ständig mit der Hand durch das rotblonde Haar, das jetzt wie elektrisiert abstand. Sam hätte sehr viel lieber hinter dem Bartresen gestanden. Aber für heute Abend war eine Aushilfe angeheuert, weil er die Bücher in Ordnung bringen musste.

»Komm rein, Sook«, sagte er. »Wie läuft's da draußen?«

»Ziemlich was los, ich muss gleich wieder zurück. Ich wollte dir nur sagen, dass ich nächsten Donnerstag fliege.«

Sam versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, was leider damit endete, dass er einfach nur unglücklich aussah. »Muss das wirklich sein?«

»Hey, das haben wir doch alles schon besprochen.« In meiner Stimme schwang ein warnender Unterton mit.

»Na ja, du wirst mir fehlen«, erwiderte er. »Und ich werde mir auch ein wenig Sorgen machen. Du allein mit all diesen Vampiren.«

»Es werden ja auch andere Menschen da sein, solche wie ich.«

»Eben nicht wie du, sondern Menschen mit einer krankhaften Liebe zu Vampiren, oder Totengräber, die hoffen, mit den Untoten das schnelle Geld machen zu können. Das sind keine vernünftigen Leute mit Aussicht auf ein langes Leben.«

»Sam, noch vor zwei Jahren hatte ich keine Ahnung, wie die Welt um mich herum wirklich aussieht. Ich wusste nicht, was für ein Geschöpf du bist, dass Vampire sich genauso voneinander unterscheiden wie wir oder dass es echte Elfen gibt. Nichts davon konnte ich mir auch nur ansatzweise vorstellen.« Ich schüttelte den Kopf. »Was für eine Welt das doch ist, Sam. Wunderbar, aber auch erschreckend. Jeder Tag ist anders. Ich hätte nie gedacht, mal ein eigenes Leben zu haben, und jetzt habe ich eins.«

»Ich bin der Letzte auf der Welt, der dir deinen Platz an der Sonne nimmt, Sookie.« Sam lächelte. Doch mir war nicht entgangen, dass seine Bemerkung nicht so ganz eindeutig war.

An diesem Abend kam Pam ins Merlotte's und wirkte ziemlich gelangweilt in ihrem hellgrünen Anzug mit den dunkelblauen Paspeln, zu dem sie dunkelblaue Mokassins trug... kein Scherz. Ich hätte nie gedacht, dass es die Dinger überhaupt noch zu kaufen gab. Aber der Schuh war neu und das dunkle Leder auf Hochglanz poliert. Sie erntete eine Menge bewundernder Blicke, ehe sie sich an einen Tisch in meinem Bereich setzte und, die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet, geduldig wartete. Sie versetzte sich in diesen abwesenden Zustand von Vampiren, der einen echt nerven kann, wenn man ihn nicht kennt - der Blick leer, die Augen aber weit geöffnet, der Körper absolut reglos, die Miene ausdruckslos. Da sie sich also eine Auszeit gönnte, bediente ich erst mal einige andere Leute, ehe ich an ihren Tisch ging. Ich hätte schwören können, dass ich wusste, warum sie hier war. Auf das Gespräch freute ich mich ganz und gar nicht.

»Pam, möchtest du etwas trinken?«

»Was hat es mit diesem Tiger auf sich?«, fragte sie, ohne sich mit einer Vorrede aufzuhalten.

»Ich bin jetzt mit Quinn zusammen«, sagte ich. »Wegen seines Jobs sehen wir uns nicht allzu häufig, wir treffen uns aber auf der Konferenz.« Quinn hatte als Eventmanager den Auftrag erhalten, die Zeremonien und Rituale der Vampirkonferenz auszurichten. Er hatte sicher viel zu tun, aber ich würde ihn wenigstens ab und zu sehen und war deswegen schon ganz aufgeregt. »Und nach der Konferenz verbringen wir einen ganzen Monat miteinander«, erzählte ich.

Uuuh, vielleicht hatte ich's ein bisschen übertrieben mit dem Vertrauen. Das Lächeln schwand aus Pams Gesicht.

»Sookie, ich weiß nicht, welches seltsame Spiel zwischen Eric und dir läuft. Aber es ist nicht gut für uns.«

»Da läuft kein Spiel! Gar keins!«

»Bei dir vielleicht nicht, aber bei Eric. Er ist nicht mehr derselbe seit der Zeit, die ihr beide miteinander verbracht habt.«

»Ich weiß nicht, was ich da tun könnte«, sagte ich matt.

»Ich auch nicht«, erwiderte Pam. »Aber ich hoffe, er kann das mit seinen Gefühlen für dich klären. Konflikte kann er nicht leiden, genauso wenig wie Anhänglichkeit, also, seine eigene. Er ist nicht mehr der sorglose Vampir, der er früher war.«

Ich zuckte die Achseln. »Pam, ich bin so aufrichtig wie nur möglich ihm gegenüber gewesen. Vielleicht macht er sich wegen etwas ganz anderem Sorgen. Du übertreibst, was meine Bedeutung für Eric angeht. Sollte er irgendwie unsterblich in mich verliebt sein, hat er mir jedenfalls nichts davon erzählt. Ich gehe ja nicht mal mit ihm aus. Und er weiß von Quinn.«

»Er hat Bill gezwungen, es dir zu beichten, nicht wahr?«

»Na ja, Eric war dabei«, sagte ich unsicher.

»Glaubst du, Bill hätte dir das je erzählt, wenn Eric es ihm nicht befohlen hätte?«

Ich hatte mich echt bemüht, diesen Abend komplett aus meinem Gedächtnis zu streichen. Irgendwo im hintersten Winkel wusste ich natürlich, dass Bills Beichte zu einem ziemlich seltsamen Zeitpunkt gekommen war. Aber ich hatte einfach nie darüber nachdenken wollen.

»Eric hätte Bills Auftrag doch ganz egal sein können - ganz zu schweigen davon, dass er nie einer Menschenfrau davon erzählt hätte -, wenn er nicht unangebrachte Gefühle für dich hegen würde!«

So hatte ich das Ganze noch nie betrachtet. Ich war dermaßen fertig gewesen wegen Bills Beichte - die Königin hatte ihn darauf angesetzt, mich (wenn nötig) zu verführen, um mein Vertrauen zu gewinnen -, dass ich keinen Gedanken daran verschwendet hatte, warum Eric Bill gezwungen hatte, mir die ganze Geschichte zu erzählen.

»Pam, ich weiß es nicht. Hör mal, ich arbeite hier, und du solltest etwas zu trinken bestellen. Es gibt noch andere Tische, um die ich mich kümmern muss.«

»Dann 0-negativ. TrueBlood.«

Ich beeilte mich, den Drink aus dem Kühlschrank zu holen, wärmte ihn in der Mikrowelle auf und schüttelte ihn vorsichtig, damit die Temperatur auch gleichmäßig war. Leider lief etwas außen an der Flasche herunter, was ein bisschen eklig aussah. Aber es wirkte wie echtes Blut und schmeckte auf jeden Fall auch so. Ich hatte bei Bill mal ein paar Tropfen probiert, konnte also aus Erfahrung sprechen. Wenn's nach mir ging, schmeckte synthetisches Blut haargenau wie echtes. Bill hatte es immer gemocht, obwohl er mehr als einmal betont hatte, dass es gar nicht um den Geschmack ginge, sondern um das Gefühl, in lebendes Fleisch zu beißen, den Herzschlag des Menschen zu spüren - das machte Vampiren Spaß. Blut aus der Flasche, das brachte es einfach nicht. Ich nahm die Flasche und ein Weinglas, ging zu Pam und stellte beides vor sie auf den Tisch, mit einer Serviette natürlich.

»Sookie?« Ich blickte auf und sah, dass Amelia gekommen war.

Meine Mitbewohnerin war schon oft im Merlotte's gewesen, doch es überraschte mich, sie heute Abend hier anzutreffen. »Was ist los?«, fragte ich.

»Hm... hi«, sagte Amelia zu Pam. Mir fiel sofort Amelias sorgfältig gebügelte Hose auf, ihr schneeweißes Poloshirt und die ebenso weißen Tennisschuhe. Pam hatte ihre hellen Augen weiter aufgerissen, als ich es je gesehen hatte.

»Meine Mitbewohnerin Amelia Broadway«, stellte ich vor. »Amelia, das ist die Vampirin Pam.«

»Erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte Pam.

»Hey, schickes Outfit«, entgegnete Amelia.

Pam wirkte geschmeichelt. »Sie sehen auch sehr gut aus.«

»Sind Sie eine Vampirin von hier?«, fragte Amelia.

Wenn irgendetwas, dann war Amelia schon unverschämt direkt. Und redselig.

»Ich bin Erics Stellvertreterin«, erzählte Pam. »Sie wissen bestimmt, wer Eric Northman ist?«

»Aber sicher«, bestätigte Amelia. »Dieser hinreißende blonde Liebesgott, der in Shreveport lebt, oder?«

Pam lächelte. Ihre Fangzähne traten ein wenig hervor. Ich sah von Amelia zu der Vampirin. Ach herrje, was bahnte sich da denn an?

»Vielleicht haben Sie Lust, mal ins Fangtasia zu kommen?«, schlug Pam vor.

»Oh, gern«, sagte Amelia, aber nicht so, als würde sie es besonders aufregend finden. Tja, sie spielte mal wieder die Unnahbare. Wie ich Amelia kannte, würde es ungefähr zehn Minuten dauern.

Ich ging zu einem anderen Gast, der bestellen wollte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Amelia sich zu Pam setzte und eine Weile mit ihr sprach, ehe sie wieder aufstand und am Bartresen auf mich wartete.

»Und warum bist du heute Abend nun hier?«, fragte ich, vielleicht selbst ein bisschen zu direkt.

Amelia zog die Augenbrauen hoch, aber ich entschuldigte mich nicht.

»Ich wollte dir nur ausrichten, dass du zu Hause einen Anruf bekommen hast.«

»Von wem?«

»Von Quinn.«

Ich spürte, wie mir ein Lächeln ins Gesicht trat, ein aufrichtiges. »Was hat er gesagt?«

»Dass er dich in Rhodes trifft und dich jetzt schon vermisst.«

»Danke, Amelia. Aber du hättest auch einfach hier anrufen oder warten können, bis ich nach Hause komme.«

»Ach, mir war so langweilig.«

Das hatte ich mir schon gedacht, es war nur eine Frage der Zeit gewesen. Amelia brauchte einen Job, einen Vollzeitjob. Sie vermisste natürlich ihre Stadt und ihre Freunde. Auch wenn sie New Orleans bereits vor Katrina verlassen hatte, litt sie jeden Tag ein bisschen mehr, seit der Hurrikan mitsamt seinen Nachwirkungen die Stadt verwüstet hatte. Außerdem vermisste sie ihre Hexenkunst. Ich hatte gehofft, Amelia würde sich mit Holly anfreunden, einer anderen Kellnerin aus dem Merlotte's und überzeugten Wicca. Aber nachdem ich die beiden miteinander bekannt gemacht und sie sich eine Weile unterhalten hatten, erzählte Amelia mir enttäuscht, dass sie völlig unterschiedliche Hexen seien. Amelia selbst war (jedenfalls sah sie das so) eine echte Hexe und Holly eben bloß eine Wicca. Tja, Amelia verhehlte ihre Verachtung für den Glauben der Wiccas kaum. Nur ein- oder zweimal war sie zu Hollys Hexenzirkel gegangen, teils, um nicht aus der Übung zu kommen ... und teils, weil sie sich nach dem Austausch mit anderen Hexen sehnte.

Andererseits fürchtete meine Mitbewohnerin jedoch nichts so sehr, wie von den Hexen aus New Orleans aufgespürt zu werden und für die Verzauberung von Bob einen hohen Preis zahlen zu müssen. Und um dem Ganzen noch einen weiteren emotionalen Dreh zu geben, fürchtete Amelia seit Katrina um die Sicherheit dieser Hexenfreundinnen. Sie konnte einfach nicht herausfinden, ob es ihnen gut ging, ohne ihren eigenen Aufenthaltsort zu verraten.

Aber trotz all dem hatte ich schon auf den Tag (oder den Abend) gewartet, an dem Amelia rastlos genug sein würde, um Haus und Hof und Bob hinter sich zu lassen.

Ich verkniff mir ein Stirnrunzeln, als Amelia wieder auf Pams Tisch zusteuerte, und ermahnte meine sorgenvolle innere Stimme, dass meine Mitbewohnerin auf sich selbst aufpassen konnte. Das nahm ich jedenfalls an. Vorgestern Abend in Hotshot war ich mir da allerdings noch sicherer gewesen. Während ich meine Arbeit tat, dachte ich an Quinn Anruf. Hätte ich nur mein neues Handy dabeigehabt (dank der Miete, die Amelia zahlte - nur eine kleine Summe, aber immerhin -, konnte ich mir jetzt eins leisten). Aber irgendwie fand ich's nicht richtig, es mit zur Arbeit zu nehmen. Quinn wusste zudem, dass ich es nur einschaltete, wenn ich frei hatte. Ach, würde Quinn doch zu Hause auf mich warten, wenn ich in einer Stunde hier im Merlotte's fertig war. Diese Vorstellung hatte etwas geradezu Berauschendes.

Es wäre zwar wunderbar gewesen, mich von dieser Fantasie und dem Freudentaumel ob meiner neuen Beziehung forttragen zu lassen, doch ich riss mich zusammen. Höchste Zeit, mal wieder der Realität ins Auge zu blicken. Ich konzentrierte mich darauf, die Gäste an meinen Tischen zu bedienen, zu lächeln und, soweit nötig, mit ihnen zu plaudern. Ein- oder zweimal brachte ich Pam noch ein neues TrueBlood. Ansonsten überließ ich sie und Amelia ihrem Tête-à-tête.

Schließlich war auch meine letzte Arbeitsstunde vorüber, und das Merlotte's leerte sich. Zusammen mit den anderen Kellnerinnen erledigte ich die letzten Aufräumarbeiten. Als endlich jeder Serviettenhalter und jeder Salzstreuer für den nächsten Tag aufgefüllt waren, ging ich den kleinen Gang entlang zum Vorratsraum, wo ich meine Schürze in den großen Wäschekorb warf. Nach unseren jahrelangen Andeutungen und Nörgeleien hatte Sam dort mittlerweile einen Spiegel angebracht. Und auf einmal bemerkte ich, dass ich absolut reglos davorstand und hineinstarrte. Ich schüttelte mich. Arlene, mit der ich in letzter Zeit nicht mehr allzu gut auskam, bauschte hinter mir ihr leuchtend rotes Haar auf. Sie hatte sich der Bruderschaft der Sonne angeschlossen. Obwohl die Bruderschaft sich selbst als eine wohltätige Organisation präsentierte, die sich der Verbreitung der »Wahrheit« über Vampire verschrieben hatte, waren ihre Reihen durchsetzt von Leuten, die in den Vampiren das Böse schlechthin sahen und es auslöschen wollten, wenn nötig mit Gewalt. Und die schlimmsten dieser Sonnenbrüder ließen ihre Ängste und ihre Wut an den Menschen aus, die mit Vampiren Umgang hatten.

An Menschen wie mir.

Arlene versuchte, im Spiegel meinen Blick aufzufangen. Was ihr aber nicht gelang.

»Diese Vampirin vorhin in der Bar, war das eine Freundin von dir?«, fragte sie mit einer ganz unangenehmen Betonung auf »Freundin«.

»Ja«, erwiderte ich. Selbst wenn ich Pam nicht leiden könnte, hätte ich sie in diesem Moment als meine Freundin ausgegeben. Alles an dieser Bruderschaft der Sonne ließ mir die Haare zu Berge stehen.

»Du solltest dich mehr mit Menschen abgeben«, riet Arlene mir. Ihr Mund war nur noch eine strenge schmale Linie, und ihre stark geschminkten Augen hatte sie vor lauter Abscheu zusammengekniffen. Arlene war nie das gewesen, was man einen klugen Kopf nannte, daher war es erstaunlich und erschreckend zugleich, wie schnell sie die Denkweise der Bruderschaft aufgesogen hatte.

»Ich bin zu fünfundneunzig Prozent meiner Zeit von Menschen umgeben, Arlene«, erwiderte ich.

»Du solltest hundert Prozent draus machen.«

»Arlene, was geht dich das eigentlich an?« Meine Geduld war schon beinahe überstrapaziert.

»Du hast doch all diese Überstunden gemacht, weil du mit einem Haufen Vampire auf irgend so eine Konferenz fahren willst, richtig?«

»Noch mal, was geht dich das an?«

»Wir waren lange befreundet, Sookie, bis dieser Bill Compton ins Merlotte's kam. Jetzt triffst du dich dauernd mit Vampiren, und bei dir zu Hause wohnen seltsame Leute.«

»Ich muss doch mein Leben nicht vor dir rechtfertigen!« Jetzt reichte es aber wirklich. In ihren Gedanken las ich nichts als Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit. Das tat weh, und es machte mir zu schaffen. Ich hatte ihre Kinder gehütet, ihren Wohnwagen geputzt, sie getröstet, wenn sie mal wieder von einem ihrer Mistkerle verlassen worden war, und sie ermutigt, mit Männern auszugehen, die ihr nicht so übel mitspielten. Und jetzt starrte sie mich nur an, völlig überrascht von meiner Wut.

»Anscheinend liegt in deinem eigenen Leben so einiges im Argen, wenn du's nötig hast, dich mit diesem Bruderschaft-Mist abzugeben«, fuhr ich fort. »Guck dir doch mal an, was für gediegene Typen du selbst abschleppst und auch noch heiratest.« Und mit dieser unchristlichen Beleidigung drehte ich mich auf dem Absatz um und stiefelte aus dem Vorratsraum hinaus. Ich war nur froh, dass ich meine Handtasche schon aus Sams Büro geholt hatte. Es gab doch nichts Schlimmeres, als einen rechtschaffenen Abgang noch mal unterbrechen zu müssen.

Irgendwie lief plötzlich Pam neben mir her. Sie hatte sich mir so blitzschnell angeschlossen, dass ich sie nicht hatte kommen sehen. Ich blickte über die Schulter zurück. Arlene stand mit dem Rücken an der Wand, das Gesicht verzerrt von Schmerz und Wut. Mit meinem letzten Satz hatte ich mitten ins Schwarze getroffen. Einer von Arlenes Liebhabern hatte ihr das Familiensilber gestohlen, und ihre Ehemänner ... tja, bei denen wusste man nicht, wo man anfangen sollte.

Pam und ich waren schon aus dem Merlotte's raus, ehe ich etwas zu ihr sagen konnte.

Ich war noch ganz starr vor Schreck über Arlenes verbalen Angriff und meine eigene Wut. »Das hätte ich nicht sagen sollen«, begann ich. »Dass einer von Arlenes Ehemännern ein Mörder war, ist noch lange kein Grund, so aggressiv zu werden.« Ich klang wie meine eigene Großmutter und stieß ein nervöses Gelächter aus.

Pam war etwas kleiner als ich und beobachtete neugierig, wie ich um Selbstkontrolle rang.

»Die ist doch eine Schlampe«, sagte Pam.

Ich zog ein Kleenex aus der Handtasche und wischte mir die Tränen ab. Wenn ich wütend war, musste ich meistens weinen. Wie ich das hasste. Wer weint, wirkt immer schwach, egal, aus welchem Grund man weint.

Pam ergriff meine Hand und fuhr mir mit dem Daumen über die Wangen. Diese liebevolle Geste verlor etwas von ihrem Charme, als sie ihren Daumen danach ableckte. Aber ich verstand schon, dass sie es gut meinte.

»Eine Schlampe würde ich sie nicht nennen. Aber sie sollte wirklich besser aufpassen, mit wem sie sich einlässt«, sagte ich.

»Warum verteidigst du sie auch noch?«

»Aus Gewohnheit vermutlich. Wir waren jahrelang gut befreundet.«

»Was hat sie denn für dich getan in dieser Freundschaft? Welchen Vorteil hatte es für dich?«

»Sie...« Darüber musste ich erst mal nachdenken. »Na ja, so konnte ich halt sagen, dass ich eine Freundin hatte. Ich mochte ihre Kinder und habe ihr geholfen. Wenn sie nicht arbeiten konnte, habe ich ihre Schicht übernommen, und wenn sie meine gemacht hat, habe ich ihren Wohnwagen geputzt. Und wenn ich krank war, hat sie mich besucht und mir was zum Essen gebracht. Aber vor allem war es ihr immer egal, dass ich irgendwie anders war.«

»Sie hat dich benutzt, und du warst auch noch dankbar dafür«, sagte Pam. Ihr ausdrucksloses bleiches Gesicht ließ keine Rückschlüsse auf ihre Gefühle zu.

»Hör mal, Pam, so war es nicht.«

»Wie war es dann, Sookie?«

»Sie mochte mich wirklich. Und manchmal hatten wir auch richtig Spaß miteinander.«

»Sie ist faul. Und das gilt auch für ihre Freundschaft. Solange es keine Mühe macht, freundlich zu sein, ist sie es. Aber sobald der Wind aus einer anderen Richtung weht, ist es aus mit ihrer Freundschaft. Und ich glaube, der Wind weht gerade aus einer anderen Richtung. Sie hat eine neue Methode gefunden, sich selbst wichtig zu machen - indem sie andere hasst.«

»Pam!«

»Stimmt das etwa nicht? Ich beobachte die Menschen schon seit Jahrhunderten. So langsam kenne ich sie.«

»Es gibt Wahrheiten, die man aussprechen kann, und Wahrheiten, die man besser für sich behalten sollte.«

»Es gibt Wahrheiten, die ich besser für mich behalten sollte, meinst du«, korrigierte sie mich.

»Ja. Tatsächlich, das... stimmt.«

»Dann fahre ich jetzt wieder nach Shreveport.« Pam drehte sich um und wollte schon um das Gebäude herum zum Parkplatz gehen, wo ihr Auto stand.

»Pam!«

Sie drehte sich erneut um. »Ja?«

»Warum bist du eigentlich wirklich hier?«

Ganz unerwartet lächelte Pam. »Abgesehen von meinen Fragen nach deiner Beziehung zu meinem Schöpfer? Und dem glücklichen Zufall, dass ich deine reizvolle Mitbewohnerin kennengelernt habe?«

»Ja, klar. Abgesehen von all dem.«

»Ich will mit dir über Bill reden«, sagte sie zu meinem allergrößten Erstaunen. »Über Bill und Eric.«