Kapitel 13

Ich kam einfach nicht klar mit dem, was gerade geschehen war. Es passte nicht zu dem Bild, das ich von mir selbst hatte, oder dazu, wie ich mich sonst verhielt. Ich konnte mir nur immer wieder sagen: Es blieb dir gar nichts anderes übrig. Aber auch das klang nicht wirklich überzeugend.

Okay, Sookie, sagte ich mir selbst. Was hättest du denn tun sollen? Tja, nicht gerade der optimalste Zeitpunkt, um lange über diese Frage nachzudenken. Na, dann eben in aller Kürze. Den Kampf mit Andre hätte ich nicht aufnehmen können, und er hätte sich nie überreden lassen, das Ganze einfach zu vergessen. Eric dagegen hätte den Kampf mit ihm aufnehmen können, hatte es aber unterlassen, weil er seinen Rang in der Louisiana-Hierarchie nicht aufs Spiel setzen wollte und auch, weil er den Kampf hätte verlieren können. Selbst wenn er gewonnen hätte, wäre seine Strafe extrem ausgefallen. Vampire kämpften eben nicht um Menschen miteinander.

Ich hätte natürlich auch beschließen können, lieber zu sterben als mich dieser Blutmischerei zu fügen. Aber wie, bitte schön, hätte ich denn in dem Moment sterben sollen? Und hätte ich das überhaupt gewollt? Auf keinen Fall.

Eben, es gab einfach nichts, was ich hätte tun können. Zumindest fiel mir nichts ein, als ich dort in dem hässlich beige gestrichenen Treppenhaus für Angestellte hockte.

Ich schüttelte mich, wischte mir mit einem Erfrischungstuch aus meiner Handtasche durchs Gesicht, strich mein Haar glatt und fühlte mich schon wieder etwas besser, als ich aufstand. Genau, das war der richtige Weg, um das Selbstbewusstsein wiederzugewinnen. Alles andere würde bis später warten müssen.

Ich öffnete eine Metalltür und trat in ein gewölbeartiges Kellergeschoss mit Betonboden. Je weiter ich in die Arbeitsbereiche des Hotels vordrang (angefangen bei dem ersten beigefarbenen Durchgang), desto schmuckloser und kahler wirkte alles. Und dieser Bereich hier war nur noch funktional.

Niemand schenkte mir die geringste Beachtung, und so konnte ich mich ein wenig umsehen. Außerdem hatte ich es auch nicht gerade eilig, zur Königin zurückzukommen. In der gegenüberliegenden Wand war ein riesiger Lastenaufzug eingelassen. Dieses Hotel war mit so wenigen Öffnungen zur Außenwelt gebaut wie möglich, um jegliches unbefugte Eindringen zu vermeiden, das der Menschen wie auch das des ärgsten Feindes, der Sonne. Aber das Hotel benötigte wenigstens eine große Ladestation, wo Gepäck, Särge und Hotelbedarf aller Art angeliefert werden konnten. Und dafür war dieser Aufzug da. Hier trafen Gepäck und Särge ein, ehe sie in die entsprechenden Zimmer gebracht wurden. Zwei mit Gewehren bewaffnete Uniformierte standen vor dem Aufzug, aber ich muss sagen, dass sie unglaublich gelangweilt wirkten - ganz das Gegenteil der wachsamen Sicherheitsleute in der Lobby.

Etwas weiter weg, links von dem riesigen Lastenaufzug, stapelten sich einige Koffer verloren zusammengepfercht in einem Bereich, der mit diesen Markierungsbändern abgegrenzt war, mit denen auf Flughäfen die Passagiere in bestimmte Bahnen gelenkt werden. Niemand schien dafür verantwortlich zu sein, also ging ich hinüber und begann, die Namensschilder zu lesen. Ein junger Mann mit Brille und im Anzug, vermutlich ein Lakai wie ich, war bereits dabei, das Gepäck zu durchsuchen.

»Wonach suchen Sie?«, fragte ich. »Wenn ich bei meiner Suche darauf stoße, kann ich Ihnen Bescheid geben.«

»Gute Idee. Die Rezeption hat angerufen, dass hier unten noch einer unserer Koffer liegt, deshalb bin ich da. Auf dem Namensschild sollte Phoebe Golden, Königin von Iowa stehen oder so ähnlich. Und bei Ihnen?«

»Sophie-Anne Leclerq, Louisiana.«

»Wow, für die arbeiten Sie? Und - hat sie's getan?«

»Nein, und ich muss es wissen, denn ich war dabei«, sagte ich, und seine neugierige Miene wurde noch neugieriger. Er konnte sich natürlich denken, dass ich nicht viel mehr erzählen würde. Aber er starrte mich weiterhin an.

Ich wunderte mich, wie viele Koffer hier gestrandet waren.

»Wie kommt es«, fragte ich den jungen Mann, »dass diese Koffer nicht einfach grob vorsortiert und in die Zimmer hinaufgebracht werden? Wie das andere Gepäck auch?«

Er zuckte die Achseln. »Hat irgendwas mit der Haftung zu tun, habe ich gehört. Wir müssen unsere Koffer persönlich identifizieren, damit sie sagen können, wir hätten sie ja selbst genommen. Hey, nach dem hier habe ich gesucht«, sagte er einen Augenblick später. »Ich kann zwar den Namen des Eigentümers nicht lesen, aber es steht Iowa drauf. Also muss er einem aus unserer Delegation gehören. Na dann, nett, Sie kennengelernt zu haben.« Und schon hatte er sich mit einem schwarzen Rollkoffer auf den Weg gemacht.

Gleich danach hatte auch ich Erfolg. An einem blauen Lederkoffer hing ein Schild mit der Aufschrift »Sheriff, Bezirk -« Tja, das war zu unleserlich, um es entziffern zu können. Vampire benutzten alle möglichen Schriftarten, das hing immer davon ab, welche Bildung sie in dem Jahrhundert ihrer Geburt genossen hatten. Aber darunter stand noch »Louisiana«, also nahm ich den alten Koffer und hievte ihn aus dem abgegrenzten Bereich heraus. Ich starrte noch mal aus allernächster Nähe auf das Schild, doch die Schrift blieb unleserlich. Wie mein Kollege aus Iowa beschloss ich, den Koffer mit hinaufzunehmen und herumzuzeigen, bis ihn jemand als den seinen erkannte.

Einer der bewaffneten Wachmänner hatte sich halb von seinem Posten weggedreht, um zu sehen, was ich da tat. »Wohin wollen Sie denn damit, schöne Frau?«, rief er.

»Ich arbeite für die Königin von Louisiana. Sie hat mich hier heruntergeschickt.«

»Wie heißen Sie?«

»Sookie Stackhouse.«

»Hey, Joe!«, rief er einem Kollegen zu, einem ziemlich dicken Typen, der an einem richtig hässlichen Tisch mit einem schäbigen Computer saß. »Prüf doch mal diesen Namen, Stackhouse, ja?«

»Geht klar«, sagte Joe und löste seinen Blick von dem jungen Mann aus Iowa, der kaum noch zu erkennen war am anderen Ende des gewölbeartigen Kellergeschosses. Dann musterte Joe mich mit derselben Neugier, sah aber schnell schuldbewusst weg, als ich seinen Blick bemerkte. Er begann, in die Tasten zu hämmern, und blickte dabei auf den Bildschirm, als könne der ihm alles sagen, was er wissen musste - was, soweit es seinen Job betraf, ja vielleicht sogar stimmte.

»Okay«, rief Joe dem Wachmann zu. »Die ist auf der Liste.« Die schroffe Stimme vom Telefon, ich erkannte sie sofort wieder. Er war also der Anrufer gewesen. Und dann starrte Joe mich einfach wieder an. Seltsam, alle anderen hier unten hatten ziemlich normale, neutrale Gedanken, nur Joe nicht. Seine Gedanken waren abgeschottet. So was war mir noch nie begegnet. Irgendjemand hatte eine Art unsichtbaren Helm über seinen Kopf gestülpt. Ich versuchte hindurchzudringen, ihn anzuheben, darunter zu gelangen, aber er blieb an seinem Platz. Während ich mit allen möglichen Tricks an seine Gedanken heranzukommen versuchte, sah Joe mich mit verärgerter Miene an. Ich glaube kaum, dass er wusste, was ich tat. Er war eher der typische Nörgelheini.

»Entschuldigung«, rief ich laut, damit Joe meine Frage auch hörte. »Haben Sie da etwa ein Bild von mir bei Ihrer Namensliste?«

»Nee«, erwiderte er schnaubend, als hätte ich eine höchst seltsame Frage gestellt. »Wir haben hier 'ne Liste mit allen Gästen und ihren Begleitern.«

»Woher wollen Sie dann wissen, dass ich ich bin?«

»Hä?«

»Woher wollen Sie wissen, dass ich Sookie Stackhouse bin?«

»Sind Sie's etwa nicht?«

»Doch.«

»Na also, was soll dann der Mist? Raus hier mit dem verdammten Koffer.« Joe sah wieder auf seinen Computer, und der Wachmann drehte sich zum Lastenaufzug um. Tja, das war sie wohl, die legendäre Unhöflichkeit der Yankees, dachte ich.

Der Koffer hatte keine Rollen, ich wollte lieber gar nicht wissen, wie lange sein Eigentümer ihn schon besaß. Also hob ich ihn an und marschierte zurück zu der Tür, die zu der Treppe führte, von der ich gekommen war. Neben der Tür war noch ein Aufzug, der nicht annähernd so groß war wie der riesige mit dem Zugang nach außen. Okay, man konnte schon auch Särge damit transportieren, aber höchstens einen auf einmal.

Ich hatte die Tür zur Treppe bereits geöffnet, als mir einfiel, dass ich auf diesem Weg auch den Servicedurchgang wieder durchqueren müsste. Was, wenn Eric, Andre und Quinn immer noch dort waren? Was, wenn sie sich dort gegenseitig an die Kehle gingen? Auch wenn mich in diesem Augenblick nicht mal mehr dieses Szenario umgehauen hätte, beschloss ich, besser einen Bogen um sie zu machen, und nahm den Aufzug. Stimmt, ziemlich feige, aber es gibt Grenzen bei dem, womit eine Frau an einem einzigen Abend fertig wird.

Dieser Aufzug war eindeutig für die Lohnsklaven des Hotels gedacht. An den Wänden waren Polster angebracht, damit beförderte Fracht keinen Schaden nahm, und er bediente nur die ersten vier Etagen: Kellergeschoss, Lobby, Mezzanin und die Etage für Menschen. Dann musste man aufgrund der Pyramidenform des Gebäudes in die Mitte des Hotels gehen und einen der Aufzüge nehmen, die bis ganz nach oben fuhren. Das machte den Transport der Särge zu einer ziemlich langwierigen Angelegenheit. Die Angestellten dieses Hotels mussten wirklich hart arbeiten für ihr Geld.

Ich beschloss, den Koffer direkt in die Suite der Königin zu bringen. Was sonst hätte ich damit anfangen sollen?

Als ich auf Sophie-Annes Etage ausstieg, war der Platz vor und um den Aufzug herum völlig leer. Vermutlich waren alle Vampire und ihre Begleiter unten auf der Hochzeitsparty. Irgendeiner hatte eine zerdrückte Limodose in die große, verwegen gemusterte Urne gelegt, in die ein Bäumchen gepflanzt war und die an der Wand zwischen den beiden Fahrstühlen stand. Das Bäumchen sollte wohl so eine Art Palme sein, vermutete ich, und das ägyptische Design des Hotels betonen. Aber diese dämliche Limodose störte mich. Natürlich gab es Putzleute im Hotel, die alles sauber zu halten hatten. Doch Aufräumen war mir irgendwie in Fleisch und Blut übergegangen. Zwanghaft war's noch nicht, keine Sorge, aber trotzdem. Das hier war doch ein schönes Hotel, und da warf irgend so ein Idiot einfach seinen Müll in die Gegend. Ich streckte meine freie rechte Hand nach der Dose aus, um sie in den erstbesten Mülleimer zu werfen.

Doch diese Dose war sehr viel schwerer, als sie hätte sein dürfen.

Ich stellte den Koffer ab, um mir das Ding genauer anzusehen, und musste es tatsächlich mit beiden Händen anheben. Den Farben und dem Design nach hätte es fast in jeder Hinsicht eine Dose »Dr Pepper« sein können - hätte, wie gesagt. Da öffneten sich mit einem Mal die Fahrstuhltüren, und Batanya trat mit einer seltsamen Pistole in der einen Hand und einem Schwert in der anderen heraus. Über ihre Schulter hinweg sah ich den König von Kentucky im Fahrstuhl stehen, der meinen Blick neugierig erwiderte.

Batanya schien ein bisschen überrascht, mich dort stehen zu sehen, so direkt vor den Fahrstuhltüren. Sie scannte die Etage und ließ schließlich den Lauf ihrer pistolenartigen Waffe sinken. Das Schwert hielt sie allerdings weiter angriffsbereit in der linken Hand. »Würden Sie bitte zur Seite treten?«, fragte sie äußerst höflich. »Der König möchte in der Suite dort einen Besuch machen.« Sie nickte zu einer der Türen zu ihrer Rechten.

Ich stand reglos da und hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte.

Batanya sah sich an, wie ich dastand, musterte meinen Gesichtsausdruck und sagte mitfühlend: »Ich verstehe auch nicht, warum die Leute diese kohlensäurehaltigen Sachen trinken. Ich kriege davon immer Blähungen.«

»Das ist es nicht.«

»Stimmt irgendwas nicht?«

»Diese Dose ist nicht leer«, sagte ich.

Batanyas Miene erstarrte. »Wofür halten Sie es?«, fragte sie sehr, sehr ruhig und so, als würde sie den allergrößten Ärger erwarten.

»Für eine Spionagekamera vielleicht?«, sagte ich hoffnungsvoll. »Nein, eigentlich für eine Bombe. Denn es ist keine echte Dose. Sie ist angefüllt mit etwas Schwerem, und dieses Schwere ist nicht flüssig.« Der Verschluss war abgerissen, und trotzdem spritzte nichts heraus.

»Verstehe«, erwiderte Batanya. Wieder fast unwirklich ruhig. Sie drückte oberhalb der Brust auf ihre Rüstung, auf eine kleine dunkelblaue Fläche von der Größe einer Kreditkarte. »Clovache«, sagte sie. »Unbekanntes Objekt auf vier. Ich bringe den König wieder hinunter.«

Clovaches Stimme ertönte: »Wie groß ist das unbekannte Objekt?« Ihr Akzent klang irgendwie russisch, zumindest in meinen nicht gerade weitgereisten Ohren. (»Wiiie grrrosss... ?«)

»So groß wie eine der Dosen mit diesem süßen Sirup«, antwortete Batanya.

»Ah, diese Rülps-Drinks«, sagte Clovache. Gutes Gedächtnis, Clovache, dachte ich.

»Ja. Sookie Stackhouse hat sie entdeckt, nicht ich«, sagte Batanya grimmig. »Und jetzt steht sie hier mit der Dose in der Hand.«

»Am besten sollte sie das Ding hinlegen«, schlug die unsichtbare Clovache mit der Naivität desjenigen vor, der eine offensichtliche Tatsache feststellt.

Der König von Kentucky, der noch hinter Batanya stand, begann langsam nervös zu werden. Batanya sah ihn über die Schulter an. »Ruf die Polizei an, sie sollen ein Team von Bombenexperten schicken«, befahl Batanya Clovache. »Ich bringe den König wieder nach unten.«

»Der Tiger ist auch hier«, sagte Clovache. »Sie ist seine Freundin.«

Noch ehe ich aussprechen konnte: »Um Himmels willen, schickt ihn nicht herauf«, drückte Batanya wieder auf die rechteckige kleine Fläche, die daraufhin dunkel wurde.

»Ich muss den König schützen«, sagte Batanya beinahe entschuldigend. Dann trat sie zurück in den Fahrstuhl, drückte einen Knopf und nickte mir ein letztes Mal zu.

Nichts erschreckte mich mehr als dieses Nicken. Es war ein Abschiedsgruß. Und die Türen schlossen sich.

Tja, und da stand ich nun, allein auf einem verlassenen Hotelflur, mit einer tödlichen Bombe in Händen. Vielleicht.

Keiner der beiden Fahrstühle gab ein Lebenszeichen von sich. Niemand trat aus den Türen auf die vierte Etage und niemand lief über den Flur. Die Tür zum Treppenhaus rührte sich nicht. Eine unendlich lange Wartezeit verstrich, in der ich nichts tat, nur dastand und eine falsche Dose »Dr Pepper« festhielt. Okay, etwas geatmet habe ich auch, aber nicht allzu kräftig.

Und dann knallte es, dass ich vor Schreck beinahe die Dose fallen ließ, und Quinn stürmte auf die Etage. Er war in größter Hast die Treppe heraufgerannt, wenn ich sein Keuchen richtig deutete. Ich musste mich auf die Dose konzentrieren, daher konnte ich nicht schnell mal nachsehen, was in seinen Gedanken los war. Und in seinem Gesicht sah ich nichts als die gleiche beunruhigend ruhige Miene, die Batanya aufgesetzt hatte. Todd Donati, der Sicherheitschef, folgte Quinn auf den Fersen. Etwa einen Meter vor mir blieben sie beide abrupt stehen.

»Das Bombenräumkommando trifft gleich ein«, verkündete Donati. Na, das waren doch mal gute Nachrichten.

»Leg die Dose dahin zurück, wo sie war, Liebling«, sagte Quinn.

»Oh, klar, sehr gern sogar«, erwiderte ich. »Ich habe bloß viel zu viel Angst.« Seit einer Million Jahren hatte ich, wie mir schien, keinen einzigen Muskel mehr bewegt, und so langsam spürte ich die Erschöpfung. Aber ich stand immer noch da mit dem Blick auf die Dose gerichtet, die ich in Händen hielt. Ich schwor mir, dass ich bis zum Ende meiner Tage keine einzige Dose »Dr Pepper« mehr trinken würde, und bis zu diesem Abend hatte ich das Zeug wirklich gemocht.

Quinn streckte eine Hand aus. »Gib sie mir.«

Nichts hätte ich lieber getan in meinem Leben.

»Erst, wenn wir wissen, was es ist«, entgegnete ich trotzdem. »Vielleicht ist es ja bloß eine Kamera, weil irgendein Boulevardblatt Fotos von der Vampirkonferenz haben will.« Ich versuchte zu lächeln. »Vielleicht ist es auch ein Minicomputer, der die vorbeigehenden Vampire und Menschen zählt. Aber vielleicht ist es eine Bombe, die Jennifer Cater gelegt hat, ehe sie's selbst erwischt hat, und mit der sie die Königin in die Luft jagen wollte.« Tja, ich hatte eine ganze Weile Zeit gehabt zum Nachdenken.

»Und vielleicht reißt sie dir die Hände ab«, sagte Quinn. »Gib sie mir, Liebling.«

»Du reißt mir bestimmt den Kopf ab, nach dem, was heute Abend geschehen ist, oder?«, fragte ich bedrückt.

»Darüber reden wir später. Mach dir keine Sorgen. Gib mir einfach die verdammte Dose.«

Mir fiel auf, dass Todd Donati seine Hilfe gar nicht anbot, obwohl er bereits eine tödliche Krankheit hatte. Wollte er nicht als Held sterben? Was war los mit ihm? Doch dann schämte ich mich für solche Gedanken. Er hatte Familie und würde sicher jede noch bleibende Minute mit ihr verbringen wollen.

Donati schwitzte sichtlich, und er war bleich geworden wie ein Vampir. Er sprach in ein kleines Headset hinein, das er trug, und erzählte irgendjemandem alles, was er sah.

»Nein, Quinn. Diese Dose muss mir jemand in einem dieser Spezialschutzanzüge abnehmen«, sagte ich. »Ich bewege mich nicht. Die Dose bewegt sich nicht. Alles okay so weit. Bis einer dieser Experten kommt. Oder eine Expertin«, fügte ich der Fairness halber hinzu. Mir war ein bisschen schwindlig. Die vielen Schocks dieses Abends strapazierten mich langsam ganz schön, und ich begann zu zittern. Es war doch völlig wahnsinnig, was ich hier tat. Aber ich tat es. »Irgendwer hier, der den Röntgenblick hat?«, fragte ich und versuchte zu lächeln. »Wo bleibt Superman eigentlich, wenn man ihn mal braucht?«

»Willst du etwa wegen dieser verdammten Bande als Märtyrerin enden?«, fragte Quinn. Ich schloss messerscharf, dass »diese verdammte Bande« wohl die Vampire waren.

»Oh, haha«, lachte ich. »Ja, die lieben mich wirklich, was? Siehst du, wie viele Vampire hier sind? Kein einziger, stimmt's?«

»Einer«, korrigierte Eric, der in diesem Moment aus dem Treppenhaus trat. »Für meinen Geschmack ist die Verbindung zwischen uns ein wenig zu eng, Sookie.« Er war sichtlich angespannt. Ich konnte mich nicht erinnern, Eric schon mal so in Sorge gesehen zu haben. »Scheint, als wäre ich hier, um mit dir zusammen zu sterben.«

»Na prima. Hier haben wir mal wieder Eric. Wenn das meinen Tag nicht absolut perfekt macht«, erwiderte ich. Und falls meine Worte etwas sarkastisch klangen, was soll's? Jetzt war ich mal dran. »Seid ihr eigentlich alle komplett verrückt? Haut verdammt noch mal hier ab!«

»Gut, ich gehe«, sagte Todd Donati schroff. »Sie lassen sich die Dose nicht abnehmen, Sie wollen die Dose nicht ablegen, und Sie sind bis jetzt nicht in die Luft geflogen. Also, ich warte unten auf das Bombenräumkommando.«

Ich konnte ihm in keinem Punkt widersprechen. »Danke, dass Sie die Experten gerufen haben«, rief ich Donati nach, der auf die Treppe zuging, weil ich zu nahe beim Fahrstuhl stand. Ich konnte seine Gedanken sehr deutlich lesen. Er war tief beschämt, dass er mir keine konkretere Hilfe anbieten konnte, und wollte auf der nächsten Etage in den Fahrstuhl steigen, um seine Kräfte zu schonen. Die Tür zum Treppenhaus fiel hinter ihm ins Schloss, und dann standen nur noch wir drei da: Quinn, Eric und ich. Hatte das etwa symbolische Bedeutung, oder was?

Mir war schwindlig.

Eric bewegte sich sehr langsam und vorsichtig - wohl damit ich mich nicht erschreckte. Und schon einen Moment später stand er neben mir. Quinns Gedanken pochten und pulsierten kreisend wie ein Discoball weiter rechts von mir. Er wusste nicht, wie er mir helfen sollte, und hatte natürlich auch ein wenig Angst vor dem, was passieren könnte.

Und wer konnte das schon wissen, bei Eric? Denn auch ich erkannte nur, wo er gerade stand und worauf er zusteuerte.

»Gib mir die Dose und geh«, sagte Eric, der versuchte, mit all seiner Vampirmacht Besitz von mir zu ergreifen.

»Funktioniert nicht, hat's noch nie«, murmelte ich.

»Was bist du bloß so stur«, sagte er.

»Bin ich nicht«, entgegnete ich, den Tränen nahe. Erst wurde ich zur Märtyrerin stilisiert, und jetzt war ich also die Sturheit in Person, na danke. »Ich will die Dose bloß nicht bewegen! Das ist am sichersten!«

»Manche würden das für selbstmörderisch halten.«

»Ach ja? Dann können manche mich mal am Arsch lecken.«

»Liebling, leg sie doch einfach wieder hin, in die Urne, ga-a-anz langsam«, sagte Quinn in seinem sanftesten Tonfall. »Und dann hole ich dir einen riesengroßen Drink, mit jeder Menge Alkohol. Du bist wirklich eine starke Frau, weißt du? Ich bin stolz auf dich, Sookie. Aber wenn du das Ding jetzt nicht gleich weglegst und hier abhaust, werde ich richtig böse auf dich, hast du das verstanden? Ich will nicht, dass dir etwas passiert. Das ist doch alles Wahnsinn!«

Der Rest dieses Streits blieb mir erspart, da jetzt ein anderes Geschöpf die Szene betrat. Die Polizei hatte per Fahrstuhl einen Roboter heraufgeschickt.

Als die Türen zischend auseinanderfuhren, zuckten wir alle zusammen. Wir waren so in dem Drama gefangen gewesen, dass keiner von uns die Geräusche des Fahrstuhls gehört hatte. Ich konnte nicht anders, ich musste kichern, als der gedrungene Roboter aus dem Fahrstuhl rollte, und hielt ihm die Bombe hin. Der Roboter sollte sie mir aber vermutlich gar nicht abnehmen. Er schien per Fernbedienung gesteuert zu werden und drehte sich leicht, um mich direkt von vorne anzusehen. Ein, zwei Minuten lang verharrte er reglos vor mir, wohl um einen Blick auf das Ding in meinen Händen zu werfen. Dann rollte er wieder in den Fahrstuhl hinein, hob ruckartig den Arm, um einen Knopf zu drücken, die Türen schlossen sich, und der Fahrstuhl entschwand.

»Ich hasse die moderne Technik«, sagte Eric.

»Gar nicht wahr«, entgegnete ich. »Du bist begeistert, wie viel Arbeit der Computer dir abnimmt. Denk dran, wie glücklich du warst, als du den Dienstplan des Fangtasia schon fix und fertig ausgefüllt ausdrucken konntest.«

»Mir gefällt das Unpersönliche daran nicht. Dass man so viele Daten speichern und verarbeiten kann, gefällt mir natürlich schon.«

Herrje, so langsam nahm das Gespräch wirklich eine verrückte Wendung, wenn man die Umstände bedachte.

»Jemand kommt die Treppe herauf«, sagte Quinn und öffnete die Tür zum Treppenhaus.

Zu unserer kleinen Gruppe stieß ein Bombenentschärfer. Die Mordkommission von Rhodes konnte sich vielleicht keines Vampirpolizisten rühmen, das Bombenräumkommando aber schon. Der Vampir trug einen dieser Spezialanzüge, die aussahen, als könne man damit auch zum Mond fliegen. (Selbst wenn man's überlebt: In die Luft zu fliegen kann keine schöne Erfahrung sein, oder?) Jemand hatte »BUMM« auf seine Brusttasche geschrieben, wo normalerweise der Name stand. Oh, wie witzig.

»Sie beide müssen die Etage räumen und die Lady und mich allein lassen«, sagte Bumm, der sehr langsam auf mich zuging. »Verschwindet, Jungs«, fügte er hinzu, als sich keiner der beiden Männer rührte.

»Nein«, sagte Eric.

»Verdammt, nein«, sagte Quinn.

Es ist nicht leicht, in einem dieser Schutzanzüge die Achseln zu zucken, aber Bumm gelang es. Er hatte einen viereckigen Behälter dabei. Ehrlich gesagt, war ich nicht sonderlich scharf darauf, einen Blick hineinzuwerfen. Doch er öffnete den Deckel und schob ihn vorsichtig unter meine Hände.

Ganz, ganz behutsam senkte ich die Dose in das dick gepolsterte Innere des Behälters, löste schließlich meine Hände und zog sie mit einer Erleichterung, die schier nicht zu beschreiben ist, wieder hervor. Bumm lächelte fröhlich hinter seinem durchsichtigen Gesichtsschutz und schloss den Behälter. Ich bebte am ganzen Körper, und meine Hände zitterten heftig von der plötzlichen Entspannung.

Bumm drehte sich, von seinem Schutzanzug behindert, behäbig herum und bedeutete Quinn, ihm die Tür zum Treppenhaus zu öffnen. Was Quinn nur zu gern tat. Und so stieg der Vampir die Stufen hinab: langsam, vorsichtig, gleichmäßig. Vielleicht lächelte er sogar auf dem ganzen Weg, wer weiß. Auf jeden Fall ist er nicht in die Luft geflogen, denn ich hörte keine Explosion, und das, obwohl wir alle noch eine ganze Weile wie erstarrt dastanden und lauschten.

»Oh«, sagte ich schließlich. »Oh.« Nicht gerade brillant, okay, aber ich fühlte mich emotional völlig erschlagen. Meine Knie gaben nach.

Quinn stürzte auf mich zu und nahm mich in die Arme. »Du Dummkopf«, sagte er. »Du Dummkopf.« Aber es klang wie: »Danke, lieber Gott.« Ich war ganz und gar umfangen von Wertiger und rieb mein Gesicht an seinem E(E)E-Shirt, um die Tränen zu trocknen, die ich nicht mehr zurückhalten konnte.

Als ich unter seinem Arm hervorspähte, entdeckte ich niemand anderen mehr auf dem Flur. Eric war verschwunden. Und so konnte ich mich einen Moment lang ganz der Freude darüber hingeben, dass Quinn mich immer noch mochte, dass die Sache mit Andre und Eric nicht all seine Gefühle für mich getötet hatte. Und einen weiteren Moment lang genoss ich einfach die enorme Erleichterung, dem Tod entkommen zu sein.

Doch dann öffneten sich alle Türen um uns herum gleichzeitig, und Leute aller Art wollten mit mir sprechen.