Kapitel 9

Es war Nachmittag, als wir in Rhodes ankamen. Ein Lastwagen von Anubis wartete schon, um die Särge zum Hotel Pyramide von Giseh zu transportieren. Wir wurden in einer Limousine in die Stadt chauffiert, und ich sah den ganzen Weg über aus dem Fenster. Trotz der vielen Läden der allgegenwärtigen Ketten, die es auch in Shreveport gab, bestand kein Zweifel daran, dass ich in einer anderen Stadt war. Massive rote Backsteingebäude, dichter Stadtverkehr, Reihenhäuser, hier und da ein Blick auf den See ... am liebsten hätte ich in jede Richtung gleichzeitig gesehen. Dann tauchte das Hotel vor uns auf - der reine Wahnsinn. Der Tag war nicht so sonnig, dass die bronzefarbene Glasverspiegelung geschimmert hätte, aber die Pyramide war nichtsdestotrotz unglaublich eindrucksvoll. Und genau, dort war die sechsspurige Straße, die von Verkehr überquoll, gleich auf der anderen Seite lag der Park und dahinter der riesige Michigansee.

Der Lastwagen von Anubis bog ab zur Rückseite des Hotels, um dort die Vampirsärge und Koffer abzuliefern, während unsere Limousine vor dem Haupteingang der Pyramide vorfuhr.

Als die Türen der Limousine geöffnet wurden, wusste ich nicht, wohin ich meinen Blick zuerst wenden sollte: auf den majestätisch daliegenden See oder auf die sich hoch erhebende Konstruktion des Gebäudes.

Der Haupteingang der Pyramide wurde von jeder Menge Männern in beigebraunen Uniformen bewacht, aber es gab auch unkenntliche Wachmänner. Zu beiden Seiten des Haupteingangs waren zwei senkrecht aufgestellte Sarkophage platziert. Sie waren faszinierend, und ich hätte sie mir zu gern genauer angesehen, doch wir wurden von den Hotelangestellten direkt ins Gebäude hineingelotst. Ein Mann half uns aus der Limousine heraus, ein anderer prüfte unsere Ausweise und stellte sicher, dass wir im Hotel angemeldete Gäste waren - und nicht Reporter, Neugierige oder irgendwelche Verrückten -, und zwei weiterere hielten uns schließlich die großen Flügeltüren des Hotels auf.

Ich war früher schon mal in einem Vampirhotel gewesen, erwartete also, dass ich auf bewaffnete Wachmänner treffen und nirgends im Erdgeschoss Fenster sehen würde. Im Pyramide von Giseh war man jedoch sehr viel stärker als im Silent Shore in Dallas bemüht, wie ein normales Hotel für Menschen zu wirken - auch wenn die Wände mit Gemälden im Stil ägyptischer Grabmalereien geschmückt waren, die Lobby in künstliches Licht getaucht war und im Hintergrund eine fürchterlich flotte Musik dudelte. Wer war bloß auf die Idee verfallen, in einem Vampirhotel The Girl from Ipanema zu spielen?

Und in dieser Lobby hier war auch sehr viel mehr los als im Silent Shore. Menschen und andere Geschöpfe liefen geschäftig von hier nach dort oder drängten sich an der Rezeption, und auch am Messestand für Geschäftsleute herrschte reges Kommen und Gehen. Ich war mit Sam mal auf einer Messe für Gaststättenbedarf in Shreveport gewesen, als er ein neues Pumpensystem brauchte, und erkannte sofort den typischen Anmeldetresen. Irgendwo hier gab es sicher eine Ausstellungshalle mit Messeständen und einem Programm mit Vorträgen und Vorführungen.

Hoffentlich lag unserer Begrüßungsmappe ein Plan des Hotels bei mit allen Events und Veranstaltungsorten. Oder waren Vampire zu versnobt für solch gewöhnliche Hilfen? Nein, dort hing, eingerahmt und beleuchtet, ein Lageplan des Hotels, auf dem sich alle Gäste orientieren konnten. Die Pyramide war von oben nach unten durchnummeriert. Die oberste Etage, das Penthouse, hatte die Nummer 1. Die unterste und größte - die für Menschen - trug die Nummer 15. Zwischen der Etage für Menschen und der Lobby lag noch ein Zwischengeschoss, das Mezzanin. Und in einem Anbau nach Norden waren große Tagungsräumlichkeiten untergebracht. Dieser fensterlose Komplex war es, der den Grundriss des Hotels im Internet so merkwürdig rechteckig hatte wirken lassen.

Ich beobachtete die Leute, die durch die Lobby hasteten - Zimmermädchen, Bodyguards, Kellner, Gepäckträger ... all die armen Arbeitstiere, die ganz auf die Bedürfnisse von Vampiren eingestellt waren und eilfertig alles für die untoten Konferenzteilnehmer vorbereiteten. Ein irgendwie bitteres Gefühl beschlich mich, aber so war es jetzt wohl, sagte ich mir. Vor einigen Jahren waren es noch die Vampire gewesen, die herumhasteten - von einer dunklen Ecke in die andere, um sich zu verstecken. Aber vielleicht war das doch normaler? Ich verpasste mir innerlich selbst eine Ohrfeige. Wieso trat ich nicht gleich in die Bruderschaft der Sonne ein, wenn ich so dachte? In dem kleinen Park gegenüber der Pyramide von Giseh hatte ich Demonstranten gesehen, die Schilder mit Sprüchen wie »Pyramide von Greisen« hochgehalten hatten.

»Wo sind die Särge?«, fragte ich Mr Cataliades.

»Sie werden durch einen Tiefgarageneingang angeliefert.«

Am Hoteleingang hatten wir durch einen Metalldetektor gehen müssen. Ich hatte mich bemüht, nicht hinzusehen, als Johan Glassport seine Taschen leerte. Der Detektor hatte losgeheult wie eine Sirene, als er hindurchtrat. »Müssen die Särge auch durch einen Metalldetektor?«

»Nein. Unsere Vampire liegen in Holzsärgen, nur die Griffe sind aus Metall. Und man kann die Vampire schlecht herausholen, um ihre Taschen zu kontrollieren. Es hätte also sowieso keinen Sinn«, erklärte Mr Cataliades, der zum ersten Mal ungeduldig klang. »Außerdem bevorzugen manche Vampire auch die modernen Zinksärge.«

»Die Demonstranten da draußen auf der anderen Straßenseite haben mich erschreckt«, sagte ich. »Die würden sich zu gern mal hier hereinschleichen.«

Mr Cataliades lächelte. Ein grauenerregender Anblick. »Hier kann sich niemand hereinschleichen, Miss Sookie. Es gibt Wachmänner, die Sie nicht mal sehen können.«

Während Mr Cataliades uns eincheckte, sah ich mir die Leute in der Lobby an. Sie waren hübsch gekleidet, und alle unterhielten sich mit jemandem. Über uns. Die Blicke, die sie uns zuwarfen, beunruhigten mich, und die lärmenden Gedanken der wenigen lebendigen Gäste und Angestellten steigerten diese Unruhe noch. Wir waren die Menschen im Gefolge der Königin von Louisiana, die eine der mächtigsten Vampirregentinnen Amerikas gewesen war. Jetzt war sie nicht nur wirtschaftlich geschwächt, sondern würde auch noch des Mordes an ihrem Ehemann angeklagt werden. Ich konnte schon verstehen, warum die Gaffer so interessiert herübersahen - ich hätte uns auch interessant gefunden. Aber mir war unbehaglich zumute, und all meine Gedanken kreisten um die Frage, wie sehr meine Nase wohl glänzte. Ach, am liebsten wäre ich eine Zeit lang allein gewesen.

Der Portier ging unsere Reservierungen sehr langsam und sorgfältig durch, so als wollte er uns möglichst lange als Ausstellungsstücke in der Lobby festhalten. Mr Cataliades behandelte ihn mit seiner gewohnt ausgesuchten Höflichkeit, obwohl auch die nach zehn Minuten überstrapaziert war.

Ich hatte mich diskret ein Stück abseits gestellt. Doch als ich erkannte, dass dieser Portier - ein Mann in den Vierzigern, Drogenkonsument, Vater von drei Kindern - zum Spaß seine Spielchen mit uns trieb, trat ich näher. Ich legte Mr Cataliades eine Hand auf den Arm, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich mich in das Gespräch einschalten wollte. Er verstummte und sah mich interessiert an.

»Sie geben uns jetzt sofort unsere Schlüssel und sagen uns, wo unsere Vampire sind, oder ich erzähle Ihrem Boss, dass Sie derjenige sind, der Gegenstände aus diesem Hotel bei eBay verkauft. Und wenn Sie ein Zimmermädchen bestechen und es wagen, die Höschen der Königin auch nur anzurühren, geschweige denn, sie zu stehlen, hetze ich Ihnen Diantha auf den Hals.« Diantha kam gerade mit einer Flasche Wasser auf uns zu. Zuvorkommend entblößte sie ihre messerscharfen spitzen Zähne mit einem tödlichen Lächeln.

Der Portier wurde erst bleich und dann rot - interessant, in welchen Mustern sich mit Blut füllende Adern in einem Gesicht so abzeichnen. »Ja, Ma'am«, stammelte er so, dass ich schon fürchtete, er mache sich gleich in die Hose. Aber das war mir nach dem kleinen Durchmarsch durch seine Gedanken ziemlich egal.

Blitzschnell hatten wir alle unsere Schlüssel, eine Liste der Tagesruheorte »unserer« Vampire, und der Gepäckträger verstaute unsere Koffer auf einem dieser praktischen Gepäckwagen. Hey, da fiel mir etwas ein!

Barry, sagte ich in Gedanken. Bist du hier?

Ja, erwiderte eine Stimme, die nicht mehr annähernd so zögerlich klang wie bei unserer ersten Begegnung. Sookie Stackhouse?

Ja, ich bin 's. Wir checken gerade ein. Ich habe Zimmer 1538. Und du?

Ich bin in 1576. Wie geht's?

Mir selbst gut. Aber Louisiana... erst der Hurrikan und jetzt dieser Prozess. Schätze, davon hast du schon gehört, was?

Klar. War einiges los bei euch.

Kann man sagen, erwiderte ich und fragte mich, ob sich mein Lächeln wohl auch mit meinen Gedanken übertrug.

Laut und deutlich angekommen.

Tja, nun bekam ich selbst mal einen Eindruck davon, wie sich normale Menschen in meiner Gegenwart fühlen mussten.

Wir sehen uns später, sagte ich zu Barry. Hey, heißt du eigentlich wirklich Bellboy mit Nachnamen ? So werden doch bloß die Gepäckträger in Hotels gerufen.

Tja, da hast du was losgetreten damals, als du mein Talent entdeckt hast, antwortete er. Mein richtiger Name ist Barry Horowitz. Aber inzwischen nenne ich mich nur noch Barry Bellboy. Unter dem Namen hab ich hier auch eingecheckt, falls du meine Zimmernummer vergessen solltest.

Okay. Freu mich schon, dich zu sehen.

Ich mich auch.

Und dann wandten Barry und ich unsere Aufmerksamkeit beide wieder anderen Dingen zu, und das seltsam kribbelnde Gefühl des Gedankengesprächs verschwand.

Barry ist der einzige andere Telepath, dem ich in meinem Leben je begegnet bin.

Mr Cataliades hatte erfahren, dass die Menschen - oder vielmehr die Nichtvampire - unserer Konferenzgruppe alle mit jemand anderem ein Zimmer teilen mussten. Er war nicht gerade erfreut, dass er selbst in einem Zimmer mit Diantha untergebracht war. Das Hotel sei völlig ausgebucht, hatte der Portier gesagt. Er hatte vielleicht in mancher Hinsicht gelogen, aber das entsprach eindeutig der Wahrheit.

Ich hatte ein Zimmer zusammen mit Gervaises Freundin. Ob sie wohl schon da war, fragte ich mich, als ich meine Karte in den Schlitz an der Tür steckte. War sie. Ich hatte eine dieser ergebenen Vampirsüchtigen erwartet, wie sie im Fangtasia herumhingen. Doch Carla Danvers war eine ganz andere Sorte Frau.

»Hey, hallo!«, rief sie, als ich reinkam. »Als sie dein Gepäck brachten, dachte ich mir schon, dass du bald kommst. Ich bin Carla, Gerrys Freundin.«

»Freut mich«, erwiderte ich und gab ihr die Hand. Carla war eine Provinzschönheit. Okay, vielleicht kam sie gar nicht aus der Provinz, und vielleicht war sie auch nicht immer eine Schönheit gewesen, aber sie hatte definitiv einiges dafür getan. Carlas dunkelbraunes Haar war kinnlang geschnitten und passte im Farbton perfekt zu ihren großen braunen Augen. Ihre Zähne waren so gerade und so strahlend weiß, dass sie für jeden Kieferorthopäden hätte Werbung machen können. Ihre Brüste waren vergrößert und ihre Ohren und ihr Bauchnabel gepierct. Direkt über dem Hintern trug sie ein Tattoo, einige schwarze, V-förmig rankende Rebenblätter mit ein paar Rosen in der Mitte. Das alles konnte ich so prima erkennen, da Carla splitterfasernackt war. Und sie schien nicht im Geringsten zu ahnen, dass ihre Nacktheit mir für meinen Geschmack ein bisschen zu viel Info preisgab.

»Bist du schon lange mit Gervaise zusammen?«, fragte ich, um meine Befangenheit zu überspielen.

»Ich habe Gerry, lass mal sehen, vor sieben Monaten kennengelernt. Er meinte, es sei besser für mich, wenn wir getrennte Zimmer haben. In seinem muss er vermutlich auch geschäftliche Dinge regeln, wenn du verstehst? Außerdem will ich hier shoppen gehen - ist doch die beste Therapie! Riesige Großstadtläden! Und ich brauchte dringend einen Ort, an dem ich meine Einkaufstüten unterbringen kann, ohne gleich von Gerry gefragt zu werden, was das alles gekostet hat.« Sie zwinkerte mir zu wie ein alter Gauner.

»Okay. Klingt gut.« Eigentlich fand ich das gar nicht, aber Carlas Pläne gingen mich wohl kaum etwas an. Mein Koffer wartete auf der Ablage auf mich, also öffnete ich ihn und begann auszupacken. Mein Kleidersack hing schon im Schrank. Carla hatte genau die Hälfte von Schrank und Kommode frei gelassen, echt anständig. Sie hatte ungefähr zwanzigmal so viele Klamotten dabei wie ich, was die Sache noch umso bemerkenswerter machte.

»Mit wem bist du zusammen?«, fragte Carla, während sie ihre Zehennägel pedikürte. Als sie ein Bein heranzog, blitzte im Schein der Deckenleuchte etwas Metallisches zwischen ihren Schenkeln auf. Total verlegen drehte ich mich um und strich mein Abendkleid auf dem Bügel glatt.

»Mit Quinn«, sagte ich.

Ich schaute über die Schulter, bemüht, meinen Blick hochzuhalten.

Carla sah mich verständnislos an.

»Der Wertiger«, erklärte ich, »der hier die Zeremonien organisiert.«

Ihre Miene veränderte sich nur unmerklich.

»Großer Typ, kahlrasierter Schädel«, fügte ich hinzu.

Ihr Gesicht hellte sich auf. »Oh, klar, den hab ich heute Morgen gesehen! Er hat im Restaurant gefrühstückt, als ich eincheckte.«

»Hier gibt's ein Restaurant?«

»Na klar. Obwohl, es ist ziemlich klein. Aber sie haben ja Zimmerservice.«

»In Vampirhotels gibt es meist kein Restaurant, weißt du«, sagte ich, nur um Konversation zu machen. Das hatte ich in einem Artikel in Vampire in Amerika« gelesen.

»Oh. Na, das ist aber seltsam.« Mit dem einen Fuß war Carla fertig, jetzt begann sie mit dem anderen.

»Nicht aus Sicht der Vampire.«

Carla runzelte die Stirn. »Ich weiß, dass sie nicht essen. Aber Menschen tun es. Und dies ist doch eine Welt der Menschen, oder? Das wäre ja, als wolltest du nach Amerika einwandern, aber kein Englisch lernen.«

Ich drehte mich um, weil ich Carla ins Gesicht sehen wollte. War das wirklich ihr Ernst? Ja, war es.

»Carla«, begann ich, verstummte aber gleich wieder. Keine Ahnung, wie ich ihr hätte erklären sollen, dass einem vierhundert Jahre alten Vampir die Essgewohnheiten einer Zwanzigjährigen ziemlich egal waren. Aber Carla wartete darauf, dass ich weitersprach. »Na, ist doch gut, dass es hier ein Restaurant gibt«, sagte ich matt.

Carla nickte. »O ja, denn meinen Kaffee morgens, den brauch ich. Ohne den komm ich gar nicht erst in Gang. Obwohl, wenn du mit einem Vampir zusammen bist, findet dein Morgen schon mal um drei oder vier Uhr nachmittags statt.« Sie lachte.

»Stimmt.« Ich hatte alles ausgepackt und ging jetzt zum Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen. Das Glas war so stark eingefärbt, dass man die Aussicht kaum erkennen konnte, aber es war wenigstens nicht blickdicht. Das Zimmer ging nicht auf den Michigansee hinaus, wie schade. Stattdessen sah ich mir neugierig die umliegenden Gebäude an. So oft kam ich ja nicht in die Großstadt, geschweige denn, in eine so weit nördlich gelegene Region. Der Himmel wurde so rasch dunkler, dass ich schon nach zehn Minuten nicht mehr allzu viel unterscheiden konnte. Bald würden die Vampire erwachen, und mein Arbeitstag würde beginnen.

Obwohl ihr Geplauder nur sporadisch abriss, fragte Carla nicht nach meiner Aufgabe auf dieser Konferenz. Vermutlich sah sie in mir auch so eine Art »reizende Begleiterin«. Was mir im Moment nur recht war. Früher oder später würde sie sowieso von meinem besonderen Talent erfahren und noch nervös genug werden. Allerdings war sie mir im Moment doch ein bisschen zu entspannt.

Carla zog sich an (endlich!) und verwandelte sich in eine Nobelnutte (anders kann ich's leider nicht nennen). Sie trug ein glänzendes grünes Cocktailkleid, dessen Top aus einem Hauch von nichts bestand - dafür war der Rock nur halb durchsichtig -, und echte High Heels. Okay, sie hatte eben ihre Arbeitskleidung und ich meine. Mir gefiel's ja selbst nicht, dass ich sie so aburteilte. Vielleicht war ich auch nur neidisch, weil meine eigenen Sachen so konservativ waren.

Für heute Abend hatte ich das Cocktailkleid aus brauner Spitze herausgesucht. Ich steckte meine großen goldenen Ohrringe an und schlüpfte in braune Pumps, legte etwas Lippenstift auf und bürstete mein Haar, bis es glänzte. Dann griff ich nach meiner kleinen Abendhandtasche, verstaute diese Schlüsselkarte darin, und schon eilte ich zur Rezeption, um nach der Zimmernummer der Königin zu fragen, denn Mr Cataliades hatte mir gesagt, dass ich mich dort einfinden solle.

Ich hatte gehofft, Quinn auf dem Weg zu begegnen, konnte ihn jedoch nicht mal von weitem sehen. Tja, ich war mit einer Zimmergenossin gesegnet und Quinn mit jeder Menge Arbeit. Diese Konferenz würde wohl kaum so viel Spaß nebenbei erlauben, wie ich erhofft hatte.

Der Portier wurde bleich, als er mich kommen sah, und blickte sich sofort ängstlich nach Diantha um. Während er mit zitternden Händen nach der Zimmernummer der Königin suchte und sie auf einen Notizzettel schrieb, sah ich mich etwas aufmerksamer als zuvor in der Lobby um.

An einigen Stellen waren Überwachungskameras angebracht, die auf den Eingangsbereich und die Rezeption zeigten. Und beim Fahrstuhl meinte ich auch noch eine zu erkennen. Wie üblich liefen bewaffnete Wachmänner herum - üblich für Vampirhotels, meine ich. Genau das war ja der unschlagbare Vorteil solcher Hotels: dass sie den untoten Gästen Sicherheit und Diskretion garantierten. Denn Vampire konnten natürlich auch günstiger und zentraler absteigen, jedes normale Mittelklassehotel bot inzwischen spezielle Vampirzimmer an. (Selbst Motel 6 hatte ein Vampirzimmer in nahezu jeder Niederlassung.) Wenn ich an die Demonstranten draußen dachte, konnte ich nur hoffen, dass die Sicherheitsleute der Pyramide auf Zack waren.

Ich nickte einer anderen Menschenfrau zu, als ich quer durch die Lobby zu den Fahrstühlen ging. Vermutlich wurden die Zimmer immer nobler, je höher man kam, denn es wurden ja mit jedem Stockwerk weniger. Die Königin bewohnte eine Suite in der vierten Etage, da sie für diese Konferenz bereits lange im Voraus gebucht hatte, schon vor Katrina - wahrscheinlich war zu der Zeit sogar ihr Ehemann noch am Leben gewesen. Auf der vierten Etage gab es nur acht Zimmertüren. Ich musste nicht mal auf die Nummern achten, um sofort Sophie-Annes Suite zu finden. Sigebert stand davor, ein Fels von einem Mann, der die Königin schon seit Hunderten von Jahren bewachte, genau wie Andre. Der uralte Vampir wirkte einsam ohne seinen Bruder Wybert. Allerdings war er immer noch haargenau derselbe angelsächsische Krieger wie bei unserer ersten Begegnung - mit struppigem Bart, einem Gebiss, dem an allen Ecken und Enden die Zähne fehlten, und von gedrungener Gestalt wie ein wilder Eber.

Sigebert lächelte mich an, ein gruseliger Anblick. »Miss Sookie«, sagte er zur Begrüßung.

»Sigebert«, erwiderte ich und sprach jede Silbe mit Bedacht aus. Eine amerikanische Version seines Namens hätte einiges erleichtert. »Geht es ihnen gut?« Ich wollte Mitgefühl vermitteln, aber nicht zu rührselig werden.

»Bruder tot, gestorben als Held«, sagte Sigebert stolz. »Im Kampf.«

Ich wollte schon sagen: »Nach eintausend Jahren vermissen Sie ihn sicher sehr.« Aber das wäre genauso dämlich gewesen wie die typische Reporterfrage an die Eltern eines vermissten Kindes: »Und wie fühlen Sie sich?«

»Er war ein großer Krieger«, sagte ich stattdessen, und genau das hatte Sigebert hören wollen. Er klopfte mir auf die Schulter, mit einem Schlag, unter dem ich beinahe zu Boden ging. Dann wurde sein Blick plötzlich ein wenig abwesend, als würde er einer Durchsage lauschen.

Ich hatte schon immer vermutet, dass die Königin mit ihren Geschöpfen telepathisch sprechen konnte, und als Sigebert ohne ein weiteres Wort die Tür für mich öffnete, wusste ich, dass ich recht hatte. Ich war nur froh, dass sie mit mir keinen Kontakt aufnehmen konnte. Mit Barry machte das Gedankengespräch ja Spaß, aber wenn wir uns öfter sehen würden, hätte ich's ziemlich bald über. Und außerdem war Sophie-Anne sehr viel furchterregender.

Die Suite der Königin war feudal. So was hatte ich noch nie gesehen. Die Teppiche waren cremefarben und dick wie Schaffelle, die Sitzmöbel mit goldenen und blauen Polstern bezogen und die Glasverkleidungen der abgeschrägten Wand blickdicht. Eins muss ich zugeben: Diese riesige dunkle Fläche machte mich entschieden nervös.

Und inmitten all dieser Pracht saß auf einem Sofa Sophie-Anne: klein und extrem bleich, die glänzenden braunen Haare locker hochgesteckt, in einem himbeerroten Seidenanzug mit schwarzen Paspeln und schwarzen Pumps aus Krokodilleder. Ihr Schmuck war aus schwerem Gold, aber recht schlicht.

Sophie-Anne hätte besser in ein Outfit aus Gwen Stefanis Modelabel L.A.M.B, gepasst. Auf jeden Fall wäre es ihrem Alter angemessener gewesen, denn sie war mit etwa fünfzehn oder sechzehn gestorben. Zu ihren Lebzeiten galt sie in diesem Alter bereits als erwachsene Frau und hätte Mutter sein können. In unserer Zeit hätte sie in dem Alter bestenfalls als kaufsüchtiges Fashion Victim gegolten. In den Augen von uns Modernen war sie entschieden zu jung für die Kleider, die sie trug. Aber man hätte schon geisteskrank sein müssen, um ihr das zu sagen. Sophie-Anne war der gefährlichste Teenager der Welt, und der zweitgefährlichste stand wie immer genau hinter ihr. Nachdem Andre mir einen durchdringenden Blick zugeworfen und die Tür sich hinter mir geschlossen hatte, setzte er sich neben Sophie-Anne. Was wohl ein Zeichen dafür sein sollte, dass ich zum Club gehörte.

Andre und seine Königin tranken beide TrueBlood, und das synthetische Blut hatte ihnen eine rosige - fast menschliche - Farbe verliehen.

»Sind Sie auch gut untergebracht?«, fragte Sophie-Anne höflich.

»Ja, danke. Ich teile mir ein Zimmer mit einer... Freundin von Gervaise«, erwiderte ich.

»Mit Carla? Warum?« Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe wie dunkle Vögel an einem klaren Himmel.

»Das Hotel ist ausgebucht. Es macht mir nichts aus. Sie wird ohnehin die meiste Zeit mit Gervaise verbringen.«

»Was halten Sie von Johan?«, fragte Sophie-Anne.

Ich spürte, wie mein Gesichtsausdruck sich verhärtete. »Ich finde, er gehört ins Gefängnis.«

»Er soll dafür sorgen, dass ich nicht hineinkomme.«

Flüchtig versuchte ich, mir ein Vampirgefängnis vorzustellen, gab es aber schnell auf. Weil ich ihr über Johan nichts Positives sagen konnte, nickte ich bloß.

»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was Sie von ihm aufgefangen haben.«

»Er ist sehr angespannt und widersprüchlich.«

»Erklären Sie das.«

»Er macht sich Sorgen - hat Angst - weiß nicht, wem er die Treue halten soll - will nur lebend davonkommen - interessiert sich nur für sich selbst.«

»Dann unterscheidet er sich doch in nichts von anderen Menschen«, warf Andre ein.

Sophie-Anne reagierte mit einem winzigen Zucken ihrer Mundwinkel. Dieser Andre, was war er doch für ein Witzbold.

»Die wenigsten Menschen stechen eine Frau nieder«, sagte ich so gelassen wie möglich. »Den wenigsten Menschen macht so etwas Spaß.«

Der brutale Mord, den Johan Glassport begangen hatte, ließ Sophie-Anne nicht vollkommen kalt, doch sie war natürlich ein wenig mehr um ihre eigene juristische Verteidigung besorgt. Jedenfalls las ich das aus ihr heraus. Bei Vampiren musste ich mich allerdings ganz auf die Körpersprache verlassen, da ich aus ihren Gedanken keine Erkenntnisse gewinnen konnte.

»Er wird mich verteidigen, ich bezahle ihn, und dann kann er gehen, wohin er will«, sagte Sophie-Anne. »Und dort kann ihm dann natürlich alles Mögliche zustoßen.« Sie warf mir einen eindeutigen Blick zu.

Okay, Sophie-Anne, schon begriffen.

»Hat er Sie gründlich befragt? Hatten Sie den Eindruck, er versteht etwas von seinem Metier?«, fragte sie, um sich wieder den wirklich wichtigen Dingen zuzuwenden.

»Ja, Ma'am«, erwiderte ich rasch. »Er scheint wirklich kompetent zu sein.«

»Dann ist er all den Ärger wert.«

Ich zuckte nicht mal mit den Augenlidern.

»Hat Cataliades Ihnen erzählt, was Sie erwartet?«

»Ja, Ma'am.«

»Gut. Ich brauche Ihre Zeugenaussage vor Gericht, und Sie müssen mich zu jeder Besprechung begleiten, an der auch Menschen teilnehmen.«

Dafür bezahlte sie mich ja schließlich auch fürstlich.

»Ach, hätten Sie vielleicht einen Konferenzplan mit allen Terminen für mich?«, fragte ich. »Dann könnte ich parat stehen, sobald Sie mich brauchen.«

Noch ehe sie antworten konnte, klopfte es. Andre stand auf und ging mit so geschmeidigen, fließenden Bewegungen an die Tür, dass ich hätte schwören können, er wäre eine Katze. Er hielt sein Schwert in der Hand, obwohl ich es vorher überhaupt nicht gesehen hatte. Die Tür öffnete sich einen Spalt, gerade als Andre dort ankam, und ich hörte Sigeberts dröhnenden Bass.

Sie wechselten ein paar Worte, und dann ging die Tür weiter auf. »Der König von Texas, Mylady«, verkündete Andre mit kaum mehr als einem Anflug freudiger Überraschung in der Stimme. Doch genauso gut hätte er quer über den Teppich ein Rad schlagen können. Dieser Besuch war eine Geste der Unterstützung für Sophie-Anne, und alle anderen Vampire würden es registrieren.

Stan Davis trat ein, mit einem Gefolge von Vampiren und Menschen.

Stan war der Typ strebsamer Streber. Der Typ, dem jeder seine Tasche mit allen Ausweisen anvertraut, damit er mal kurz drauf aufpasst. Man sah die Spuren der Kammzinken in seinem sandfarbenen Haar, und er trug eine schwere Brille mit dicken Gläsern - die völlig überflüssig war. Ich hatte noch nie einen Vampir getroffen, der nicht sehr gut sehen und exzellent hören konnte. Stan Davis trug ein bügelfreies weißes Hemd mit Wal-Mart-Logo zu dunkelblauen Jeans. Und braune Ledermokassins - au weia, was fanden Vampire bloß an den Dingern? Als ich ihn kennenlernte, war er Sheriff gewesen, und jetzt als König pflegte er noch immer denselben unaufdringlichen Stil.

Hinter Stan kam sein Stellvertreter Joseph Velasquez herein, ein kleiner stämmiger Lateinamerikaner mit Igelfrisur, der nie zu lächeln schien. Neben ihm ging eine rothaarige Vampirin namens Rachel, an die ich mich von meinem Ausflug nach Dallas auch noch erinnerte. Rachel war eine ganz Wilde, der die Zusammenarbeit mit Menschen nicht im Geringsten gefiel. Und den beiden folgte Barry Bellboy, der gut aussah in seinen Designerjeans und dem seidenen, graubraunen Hemd; da störte nicht mal die dünne Goldkette um den Hals. Barry war fast erschreckend schnell erwachsen geworden, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte. Er war ein hübscher, linkischer Teenager von etwa neunzehn Jahren gewesen, der als Gepäckträger im Hotel Silent Shore in Dallas arbeitete, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Jetzt waren Barrys Hände manikürt, seine Haare erstklassig geschnitten, und er hatte den wachsamen Blick desjenigen, der schon mal im Haifischbecken geschwommen war.

Wir lächelten uns an, und Barry sagte: Schön, dich zu sehen. Gut siehst du aus, Sookie.

Danke, du aber auch, Barry.

Andre begrüßte die Besucher auf vornehme Vampirart, zu der kein Händeschütteln gehörte. »Stan, wir freuen uns, Sie zu sehen. Wen haben Sie da mitgebracht?«

Stan verbeugte sich galant und küsste Sophie-Anne die Hand. »Schönste aller Königinnen«, sagte er. »Dieser Vampir ist mein Stellvertreter Joseph Velasquez, diese Vampirin ist mein Geschöpf Rachel und dieser Mensch ist der Telepath Barry Bellboy. Indirekt muss ich mich bei Ihnen für ihn bedanken.«

Sophie-Anne lächelte. »Oh, ich tue Ihnen gern jederzeit einen Gefallen, wenn es in meiner Macht steht, Stan.« Sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich ihr gegenüber zu setzen. Joseph und Rachel stellten sich zu beiden Seiten des Königs auf. »Ich freue mich, Sie hier in meiner Suite begrüßen zu können. Ich hatte schon befürchtet, ich bekäme gar keinen Besuch.«

(»Weil ich wegen Mordes an meinem Ehemann unter Anklage stehe und außerdem einen enormen wirtschaftlichen Schaden erlitten habe«, bliebe hier anzufügen.)

»Ich fühle mit Ihnen«, sagte Stan völlig ausdruckslos. »Die Verluste in Ihrem Land waren extrem hoch. Wenn wir helfen können... Ich weiß, dass die Menschen meines Bundesstaates dem Ihren schon geholfen haben, und es ist nur angemessen, dass die Vampire ein Gleiches tun.«

»Zu gütig«, erwiderte sie. Sophie-Annes Stolz war wirklich verletzend. Es fiel ihr sogar schwer, wieder ein Lächeln aufzusetzen. »Ich glaube, Andre kennen Sie«, fuhr sie fort. »Andre, jetzt hast du auch Joseph mal kennengelernt. Und wer Sookie ist, wissen wohl alle.«

Das Telefon klingelte, und weil ich am nächsten dran war, nahm ich ab.

»Spreche ich mit einem Mitglied aus dem Gefolge der Königin von Louisiana?«, fragte jemand schroff.

»Ja, das tun Sie.«

»Einer von Ihnen muss zur Gepäckstation herunterkommen. Wir haben hier einen Koffer, der zur Gruppe aus Louisiana gehört. Aber das Namensschild kann keiner entziffern.«

»Oh... okay.«

»Je früher, desto besser.«

»In Ordnung.«

Er legte auf. Na, das war ja etwas sehr abrupt.

Da die Königin auf eine Erklärung wartete, berichtete ich ihr von dem Anliegen. Den Bruchteil einer Sekunde wirkte sie genauso verblüfft wie ich. »Später«, sagte sie dann abweisend.

Unterdessen hatte der König von Texas seine hellen Augen wie zwei Laserstrahler auf mich gerichtet. Ich wandte ihm den Blick zu und hoffte, damit nichts falsch zu machen. Es schien die angemessene Reaktion zu sein. Ich hätte gern noch Zeit gehabt, um mit Andre das Protokoll durchzugehen, ehe die Königin Besucher empfing. Aber ehrlich gesagt, hatte ich überhaupt keine Besucher erwartet, und schon gar nicht einen so mächtigen wie Stan Davis. Das musste Gutes für die Königin bedeuten. Oder war das etwa eine besonders perfide Vampirbeleidigung? Na, das würde ich schon herausfinden.

Ich spürte ein Kribbeln, Barry näherte sich meinen Gedanken. Arbeitest du gern für sie?, fragte er.

Ich helfe ihr nur von Zeit zu Zeit mal, sagte ich. Ich habe immer noch einen normalen Tagesjob.

Überrascht sah Barry mich an. Soll das ein Witz sein? Du könntest Geld scheffeln, wenn du in einen reichen Staat wie Ohio oder Illinois gehst. Dort gibt's richtige Vermögen.

Ich zuckte die Achseln. Mir gefällt's da, wo ich wohne.

Dann bemerkten wir beide, dass unsere Vampirarbeitgeber unseren stummen Austausch beobachteten. Vermutlich zeigten unsere Gesichter ein Mienenspiel wie bei einem normalen Gespräch, nur dass wir uns eben stumm unterhielten.

»Entschuldigung«, sagte ich. »Ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich treffe nicht allzu häufig auf Leute, die wie ich selbst sind. Es ist wirklich ein besonderes Vergnügen, mal mit einem anderen Telepathen sprechen zu können. Tut mir leid. Ma'am. Sir.«

»Ich konnte es fast hören«, sagte Sophie-Anne staunend. »Stan, war er Ihnen nützlich?« Sophie-Anne konnte mit ihren eigenen Geschöpfen auf telepathischem Weg sprechen, doch es musste unter Vampiren eine ebenso seltene Fähigkeit sein wie unter Menschen.

»Sehr nützlich«, erwiderte Stan. »Der Tag, an dem Ihre Sookie mich auf ihn aufmerksam gemacht hat, war ein sehr guter Tag für mich. Er weiß, wann die Menschen lügen, kennt ihre Hintergedanken. Ein wunderbarer Einblick.«

Ich sah Barry an. Ob er sich wohl je als Verräter an der Menschheit betrachtete oder immer nur als Anbieter einer nachgefragten Dienstleistung? Er erwiderte meinen Blick, mit harter Miene. Doch, er haderte damit, einem Vampir zu dienen und ihm die Geheimnisse der Menschen anzuvertrauen. Manchmal empfand ich diese Skrupel auch.

»Hmmm. Sookie arbeitet nur gelegentlich für mich.« Sophie-Anne fixierte mich, und sollte ich den Ausdruck ihres glatten Gesichts charakterisieren, würde ich ihn nachdenklich nennen. Hinter Andres rosiger Teenagermiene spielte sich etwas ab, vor dem ich mich besser in Acht nahm. Denn er wirkte nicht nur nachdenklich, sondern interessiert, ja, geradezu fasziniert.

»Bill hat Miss Sookie nach Dallas mitgebracht«, bemerkte Stan. Er hatte es nicht als Frage formuliert.

»Zu der Zeit war er ihr Beschützer«, sagte Sophie-Anne.

Kurzes Schweigen. Barry grinste mich anzüglich an, und ich warf ihm einen Blick à la »Träum weiter« zu. Eigentlich hätte ich ihn am liebsten in den Arm genommen. Denn dieser kleine Austausch brachte mich auf eine Idee, wie ich diese Situation meistern konnte.

»Brauchen Sie Barry und mich hier wirklich?«, brach ich das Schweigen. »Wir sind die einzigen Menschen, und es ist doch ziemlich unproduktiv, uns einfach nur herumsitzen und gegenseitig unsere Gedanken lesen zu lassen.«

Joseph Velasquez trat unwillkürlich ein Lächeln auf die Lippen.

Sophie-Anne nickte einen kurzen Augenblick später, dann auch Stan. Königin Sophie-Anne und König Stan, ermahnte ich mich. Barry verbeugte sich auf routinierte Weise, wofür ich ihm beinahe die Zunge herausgestreckt hätte. Ich deutete einen Knicks an, und dann verließen wir beide die Suite.

Sigebert sah uns fragend an. »Die Königin, sie braucht Sie nicht?«

»Im Moment nicht«, erwiderte ich und zeigte ihm den Pager, den Andre mir noch in die Hand gedrückt hatte. »Der Pager vibriert, wenn sie mich braucht.«

Sigebert betrachtete das Gerät misstrauisch. »Wär aber besser, Sie bleiben.«

»Die Königin hat erlaubt, dass ich gehe«, sagte ich.

Und weg war ich, mit Barry im Schlepptau. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl in die Lobby hinunter und suchten uns eine abgelegene Ecke, wo sich niemand unbemerkt an uns heranschleichen oder uns belauschen konnte.

Ich hatte noch nie mit jemandem komplett über Gedanken kommuniziert, und Barry auch nicht, also spielten wir damit eine Weile herum. Barry erzählte mir seine Lebensgeschichte, während ich zuerst versuchte, all die Gedanken der anderen Leute abzublocken, und dann, Barry und all den Gedanken der anderen Leute gleichzeitig zuzuhören.

Das machte richtig Spaß.

Barry war besser als ich bei der Beurteilung, wer in einer Menge was dachte, stellte sich heraus. Ich dagegen konnte besser Nuancen und Einzelheiten erkennen, nicht immer ganz einfach beim Gedankenlesen. Aber wir hatten eine Menge Gemeinsamkeiten.

Wir waren uns beispielsweise einig, wer die besten Sender in der Lobby waren. Das hieß, unsere »Lesefähigkeit« war gleich stark ausgeprägt. Einmal zeigte Barry auf eine Frau (zufällig meine Zimmergenossin Carla), deren Gedanken wir beide gleichzeitig lasen und dann auf einer Skala von eins bis fünf (fünf war die lauteste, deutlichste Sendefrequenz) bewerteten. Carla bekam eine Drei, da waren wir uns einig. Danach machten wir mit ein paar anderen Leuten noch die Probe aufs Exempel, und es stellte sich heraus, dass wir uns in dieser Hinsicht fast immer einig waren.

Hey, das war ja interessant.

Versuchen wir's mal mit Berührung, schlug ich vor.

Barry grinste nicht mal anzüglich, er war genauso gebannt wie ich. Ohne großes Getue nahm er meine Hand, und wir sahen in unterschiedliche Richtungen.

Die Gedanken erreichten mich so klar und deutlich, als würde ich ein Gespräch mit allen Leuten in der Lobby gleichzeitig führen. Es war, als wäre eine CD auf volle Lautstärke gedreht worden, bei vollkommen ausgepegelten Höhen und Bässen. Faszinierend und erschreckend zugleich. Obwohl ich nicht zur Rezeption sah, hörte ich ganz deutlich eine Frau dort fragen, ob die Vampire aus Louisiana schon angekommen seien. Ich entdeckte mein eigenes Bild in den Gedanken des Portiers, der sich freute, mir eins auswischen zu können.

Es gibt Ärger, warnte Barry mich.

Ich fuhr herum und sah eine unfreundlich dreinblickende Vampirin auf mich zukommen, mit glühenden haselnussbraunen Augen und wehendem, glattem hellbraunem Haar. Sie war sehr schlank und sehr gehässig.

»Endlich, da haben wir ja jemanden aus der Louisiana-Gruppe. Verstecken sich die anderen alle? Sagen Sie Ihrer verdammten Scheiß-Königin, dass ich mir ihren Sarg an die Wand nagle! Mit dem Mord an meinem König kommt sie nicht durch! Ich will sie gepfählt sehen und der Sonne ausgesetzt auf dem Dach dieses Hotels!«

Tja, leider erwiderte ich, was mir als Erstes durch den Kopf schoss. »Was soll das Drama, bin ich Ihre Mama?«, schimpfte ich wie mit einer Elfjährigen. »Wer zum Teufel sind Sie überhaupt?«

Klar, das war sicher Jennifer Cater. Ich wollte schon hinzufügen, was für ein Charakterschwein ihr König gewesen war. Doch meinen Kopf wollte ich noch etwas länger dort lassen, wo er hingehörte, und diese Frau wäre schon bei einer geringeren Beleidigung ausgetickt.

Eins musste man ihr lassen: Ihr finsterer Blick war wirklich beeindruckend.

»Ich sauge Sie aus, bis auf den letzten Blutstropfen!«, rief sie. Wir hatten bereits eine gewisse Aufmerksamkeit auf uns gezogen.

»Ooooo«, sagte ich entnervter, als klug gewesen wäre. »Wie gruselig. Das würden die bei Hof sicher gern hören, was? Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre. Aber ist es nicht verboten - oh, ja - sogar gesetzlich verboten, dass Vampire Menschen mit dem Tod bedrohen? Oder habe ich da einfach nur was falsch verstanden?«

»Als ob mich die Gesetze der Menschen auch nur so viel interessieren würden«, erwiderte Jennifer Cater mit einem Fingerschnippen. Doch die wütende Glut in ihren Augen erstarb, als sie bemerkte, dass die ganze Lobby unserem Gespräch zuhörte, darunter nicht nur Menschen, sondern vermutlich auch einige Vampire, die sie zu gern aus dem Weg geräumt sähen.

»Sophie-Anne Leclerq wird nach den Gesetzen der Vampire angeklagt«, fügte Jennifer noch hinzu. »Und sie wird schuldig gesprochen. Ich werde Arkansas regieren und dem Land zu Macht und Wohlstand verhelfen.«

»Wär wenigstens mal was Neues«, erwiderte ich mit einigem Recht. Arkansas, Louisiana und Mississippi waren drei arme Bundesstaaten, die zu unserer gegenseitigen Beschämung nicht nur aneinandergrenzten. Wir alle waren dankbar für die Existenz der jeweils anderen, weil wir so wenigstens abwechselnd den letzten Platz in beinahe jeder Statistik der Vereinigten Staaten belegen konnten: Ausbreitung der Armut, Schwangerschaften unter Teenagern, Sterberate durch Krebs, Analphabetismus ... Wir schoben uns ziemlich regelmäßig den Schwarzen Peter zu.

Jennifer marschierte davon, auf ein Comeback legte sie wohl keinen Wert. Sie war fest entschlossen und bösartig, aber Sophie-Anne konnte Jennifer sicher jederzeit geschickt ausmanövrieren. Hätte ich etwas für Pferdewetten übrig gehabt, ich hätte all mein Geld auf die französische Stute gesetzt.

Barry und ich sahen einander an und zuckten die Achseln. Vorstellung beendet. Wir fassten uns wieder an der Hand.

Noch mehr Ärger, sagte Barry, schon etwas resigniert.

Ich konzentrierte meine Gedanken auf den Punkt, den er ins Visier genommen hatte, und erkannte einen Wertiger, der mit großer Hast in unsere Richtung eilte.

Ich ließ Barrys Hand los, drehte mich um und streckte mit einem strahlenden Lächeln die Arme aus. »Quinn!«, rief ich, und nach einem Moment, in dem er sehr irritiert wirkte, schloss Quinn mich in die Arme.

Ich drückte ihn, so fest ich nur konnte, und er erwiderte diese liebevolle Geste so begeistert, dass mir fast die Rippen brachen. Und dann küsste er mich, und ich musste all meine Charakterstärke zusammenkratzen, um diesen Kuss in den öffentlich vertretbaren Grenzen zu halten.

Als wir wieder Luft holen mussten, sah ich Barry betreten etwas abseits stehen. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.

»Quinn, das ist Barry Bellboy«, stellte ich vor und versuchte, meine eigene Verlegenheit zu überspielen. »Der einzige andere Telepath, den ich kenne. Er arbeitet für Stan Davis, den König von Texas.«

Quinn streckte eine Hand aus, und jetzt erst wurde mir klar, warum Barry so betreten dastand. Er hatte wohl recht eindeutige Gedanken von uns aufgefangen. Ich spürte, wie meine Wangen zu glühen begannen. Ach, am besten tat man in solchen Situationen, als wäre man völlig ahnungslos, und genau das versuchte ich. Doch ein kleines Lächeln zuckte um meine Mundwinkel, und Barry sah auch eher amüsiert als verärgert drein.

»Schön, Sie kennenzulernen, Barry«, sagte Quinn jovial.

»Sind Sie nicht der Manager von Special Events, der sich um die Zeremonien kümmert?«, fragte Barry.

»Genau, der bin ich.«

»Hab schon von Ihnen gehört«, sagte Barry. »Der große Kämpfer. Ihnen eilt ein Ruf voraus unter den Vampiren.«

Ich neigte den Kopf. Irgendwas entging mir hier. »Der große Kämpfer?«, fragte ich nach.

»Davon erzähle ich dir ein andermal«, erwiderte Quinn. Sein Mund war ganz schmal geworden.

Barry sah von mir zu Quinn. Seine Miene wurde ebenfalls härter, was mich bei Barry ziemlich überraschte. Das hätte ich ihm nie zugetraut. »Er hat's dir nicht erzählt?«, fragte er und las die Antwort direkt in meinen Gedanken. »Hey, das geht aber nicht«, sagte er zu Quinn. »Das sollte sie wissen.«

Quinn hätte beinahe zu knurren begonnen. »Ich erzähl's ihr bald.«

»Bald?« Barrys Gedanken waren voll Aufruhr und Gewalt. »Wie wär's mit jetzt?«

Doch in diesem Augenblick kam eine Frau quer durch die Lobby auf uns zu. Eine der furchterregendsten Frauen, die ich je gesehen hatte, und ich war wirklich schon einigen von dieser Sorte begegnet. Sie war 1,75 Meter groß, kurze pechschwarze Locken umrahmten ihr Gesicht, und unter dem Arm hielt sie einen Helm, der zu ihrer Rüstung passte. Okay, die mattschwarze Rüstung glich eher einer auf Taille geschnittenen Version der Ausrüstung eines Baseballfängers: Brustschutz, Oberschenkel- und Schienbeinschützer, ergänzt durch um die Unterarme gebundene Lederriemen. Außerdem trug sie schwere Stiefel und hatte ein Schwert, eine Pistole und eine kleine Armbrust dabei, jede Waffe verstaut in dem entsprechenden Halfter.

Ich konnte sie nur anstarren.

»Sind Sie der, den alle Quinn nennen?«, fragte sie und blieb etwa einen Meter vor uns stehen. Sie sprach mit einem schweren Akzent, den ich aber nicht recht einordnen konnte.

»Ja, der bin ich«, sagte Quinn, der über das Erscheinen dieses Todesengels nicht annähernd so erstaunt zu sein schien wie ich.

»Ich bin Batanya. Sie sind der Manager von Special Events. Kümmern Sie sich auch um die Sicherheit? Ich möchte mit Ihnen über die speziellen Anforderungen meines Kunden sprechen.«

»Ich dachte, die Sicherheit ist Ihr Job«, entgegnete Quinn.

Batanya lächelte - da konnte einem ja glatt das Blut in den Adern gefrieren. »Oh, ja, das ist mein Job. Aber meinen Kunden zu bewachen wäre einfacher, wenn -«

»Ich habe mit der Sicherheit nichts zu tun«, sagte Quinn. »Mein Arbeitsbereich sind die Organisation und Durchführung von Ritualen und Zeremonien.«

»In Ordnung.« Ihr Akzent verlieh dieser so gewöhnlichen Redewendung eine merkwürdige Ernsthaftigkeit. »Mit wem muss ich dann sprechen?«

»Mit einem gewissen Todd Donati. Sein Büro liegt im Angestelltenbereich hinter der Rezeption. Einer der Portiers kann sie hinführen.«

»Entschuldigen Sie bitte«, schaltete ich mich ein.

»Ja?« Ihre pfeilgerade Nase senkte sich ein wenig, als sie mich ansah. Aber sie wirkte weder feindselig noch arrogant, nur irritiert.

»Ich bin Sookie Stackhouse«, stellte ich mich vor. »Für wen arbeiten Sie, Miss Batanya?«

»Für den König von Kentucky«, sagte sie. »Er hat uns unter hohem Kostenaufwand hierhergebracht. Eine Schande, dass ich, so wie es jetzt aussieht, gar nichts tun kann, um einen Mord an ihm zu verhindern.«

»Wie meinen Sie das?« Das hatte mir einen ordentlichen Schreck versetzt.

Diese martialische Batanya schien mir schon antworten zu wollen, da wurden wir plötzlich unterbrochen.

»Batanya!« Ein junger Vampir rannte durch die Lobby, dessen stachelige Frisur und schwarze Gothic-Aufmachung noch alberner wirkten, als er neben dieser eindrucksvollen Frau stand. »Der Meister sagt, er braucht Sie an seiner Seite.«

»Ich komme«, sagte Batanya. »Ich kenne meinen Platz. Aber ich muss mich beschweren. Das Hotel macht meinen Job unnötig kompliziert.«

»Beschweren können Sie sich in Ihrer Freizeit«, erwiderte der junge Vampir schroff.

Batanya warf ihm einen Blick zu, den ich um nichts auf der Welt hätte auf mich ziehen mögen. Dann verbeugte sie sich vor jedem von uns. »Miss Stackhouse«, sagte sie und schüttelte mir die Hand. Dass sogar Hände als muskulös bezeichnet werden konnten, war mir bislang entgangen. »Mr Quinn.« Auch Quinn schüttelte sie die Hand, während Barry nur ein Kopfnicken erhielt, weil er sich ihr nicht vorgestellt hatte. »Ich werde diesen Todd Donati anrufen. Entschuldigung, dass ich Sie mit Dingen belästigt habe, die nicht in Ihren Verantwortungsbereich fallen.«

»Wow«, hauchte ich, als ich Batanya davongehen sah. Sie trug eine knallenge Lederhose, und man sah, wie sich bei jedem Schritt eine Pobacke hob und die andere senkte. Die reinste Anatomiestunde ... sie hatte richtig Muskeln im Hintern.

»Aus welcher Galaxie kommt die denn?«, fragte Barry ganz benommen.

»Nicht Galaxie. Dimension. Sie ist eine Britling.«

Wir warteten auf eine nähere Erläuterung.

»Sie ist ein Bodyguard, ein Super-Bodyguard«, erklärte Quinn. »Britlinge sind die besten. Man muss schon steinreich sein, um eine Hexe dafür bezahlen zu können, dass sie diese Bodyguards herüberholt. Denn die Hexe muss auch noch die Bedingungen mit der Zunft aushandeln. Und wenn der Job der Britlinge erledigt ist, muss die Hexe sie wieder zurückschicken. Sie können nicht hierbleiben. Sie leben nach anderen Gesetzen. Ganz anderen Gesetzen.«

»Soll das heißen, der König von Kentucky hat Unsummen hingeblättert, um diese Frau in unsere... unsere Dimension holen zu lassen?« Ich hatte in den vergangenen beiden Jahren eine Menge Unsinn gehört, aber das übertraf wirklich alles.

»Eine ziemlich extreme Aktion. Fragt sich, wovor er so viel Angst hat. Kentucky schwimmt nicht gerade im Geld.«

»Vielleicht hat er auf das richtige Pferd gesetzt«, sagte ich, denn ich hatte da ja selbst noch so eine Art Wette laufen. »Und ich muss dich mal sprechen.«

»Liebling, ich muss zurück an die Arbeit«, entschuldigte sich Quinn und warf Barry einen unfreundlichen Blick zu. »Ja, wir müssen reden. Aber ich muss die Geschworenen für den Prozess einbestellen und eine Hochzeitszeremonie vorbereiten. Der König von Indiana und der König von Mississippi haben ihre Verhandlungen abgeschlossen und wollen den Bund fürs Leben schließen, während alle hier sind.«

»Russell will heiraten?« Ich lächelte. Ob er wohl der Bräutigam oder die Braut war? Vielleicht ja ein bisschen von beidem.

»Ja, aber sag's noch niemandem. Es wird erst heute Abend bekannt gegeben.«

»Und wann können wir reden?«

»Ich komm zu dir aufs Zimmer, wenn die Vampire sich an ihre Tagesruheorte begeben. Was ist deine Zimmernummer?«

»Ich habe eine Zimmergenossin.« Aber die Nummer gab ich ihm trotzdem.

»Wenn sie da sein sollte, finden wir schon was anderes«, sagte er und sah auf seine Armbanduhr. »Mach dir keine Sorgen, alles okay so weit.«

Tja, worüber sollte ich mir schon Sorgen machen? War ja nicht so wichtig, wo genau sich so eine andere Dimension befand und wie schwer es sein mochte, von dort Bodyguards heranzuschaffen. Oder warum jemand solche Kosten auf sich nahm. Batanya hatte doch verdammt effektiv gewirkt, etwa nicht? Und Kentucky hatte da extreme Anstrengungen unternommen, die sicher auf extreme Angst schließen ließen, oder? Wer war hinter ihm her?

Mein Körper vibrierte... oh, ich wurde in die Suite der Königin gerufen. Barrys Pager legte ebenfalls los. Wir sahen einander an.

Zurück an die Arbeit, sagte er, als wir auf den Fahrstuhl zugingen. Tut mir leid, falls ich zwischen dir und Quinn so eine Art Streit ausgelöst hab.

Das meinst du doch nicht ernst.

Er blickte mich an. Immerhin besaß er Anstand genug, beschämt zu wirken. Vermutlich nicht. Ich hatte mir das alles so schön ausgemalt zwischen dir und mir, und dann platzt einfach Quinn in mein Fantasieleben hinein.

Ah... oh.

Lass nur - dazu musst du nichts sagen. Das war nur so eine dieser Fantasien. Jetzt, da ich mit dir zu tun habe, muss ich mich ja sowieso auf die Wirklichkeit einstellen.

Ah.

Aber ich hätte mich nicht aus lauter Enttäuschung so zum Idioten machen sollen.

Ah. Okay. Quinn und ich kriegen das sicher wieder hin.

Dann hab ich die Fantasien also vor dir verbergen können, hm?

Ich nickte energisch.

Na, wenigstens etwas.

Ich lächelte. Jeder sollte seine kleinen Geheimnisse haben, sagte ich zu ihm. Mich würde aber mal das Geheimnis interessieren, woher Kentucky so viel Geld hat, dass er eine Hexe anheuern und diese Frau hierher holen lassen kann. War das nicht das furchterregendste Geschöpf, das du je gesehen hast?

Nein, antwortete Barry zu meinem Erstaunen. Das furchterregendste Geschöpf, das ich je gesehen habe... na ja, jedenfalls war's nicht Batanya. Und damit schloss er den Kommunikationskanal zwischen uns. Sigebert ließ uns in die Suite der Königin ein, und wir waren wieder bei der Arbeit.

Als Barry und seine Leute gegangen waren, wedelte ich mit der Hand, denn ich wollte der Königin noch etwas sagen. Andre und sie hatten sich darüber unterhalten, aus welchen Gründen Stan diesen bedeutenden Besuch gemacht haben könnte, und jetzt saßen die beiden in haargenau derselben Haltung da. Einfach nur seltsam. Ihre Köpfe hatten die identische Neigung, und durch ihre extreme Blässe und die Stille, die plötzlich um sie war, wirkten sie wie ein in Marmor gehauenes Kunstwerk: Stillleben mit Nymphe und Satyr, oder so ähnlich.

»Wissen Sie, was Britlinge sind?«, fragte ich und stolperte über das ungewohnte Wort.

Die Königin nickte. Andre wartete ab.

»Ich bin einer von ihnen begegnet.«

Der Kopf der Königin fuhr herum.

»Wer hat sich in solche Unkosten gestürzt, eine Britling anzuheuern?«, fragte Andre.

Also erzählte ich ihnen die ganze Geschichte.

Die Königin wirkte - tja, schwer zu sagen, wie sie wirkte. Vielleicht ein bisschen besorgt, vielleicht fasziniert, weil ich in der Lobby so viele Neuigkeiten aufgeschnappt hatte.

»Ich habe gar nicht geahnt, wie nützlich ich so eine Menschenfrau als Angestellte finden würde«, sagte sie zu Andre. »Die anderen Menschen sprechen in ihrer Gegenwart alles Mögliche aus, und sogar diese Britling hat offen geredet.«

Andre schien ein bisschen eifersüchtig zu sein, falls seine Miene einen verlässlichen Anhaltspunkt bot.

»Allerdings kann ich gegen all das überhaupt nichts ausrichten«, entgegnete ich. »Ich kann Ihnen bloß erzählen, was ich gehört habe, und das sind kaum irgendwelche Geheimnisse.«

»Woher hat Kentucky das Geld?«, fragte Andre.

Die Königin schüttelte den Kopf, als hätte sie keine Ahnung und wäre an der Antwort auch nicht interessiert. »Haben Sie Jennifer Cater gesehen?«, fragte sie mich.

»Ja, Ma'am.«

»Was hat sie gesagt?«, fragte Andre.

»Sie sagte, sie würde mir mein Blut aussaugen und wolle die Königin gepfählt und auf dem Dach dieses Hotels der Sonne ausgesetzt sehen.«

Einen Augenblick lang herrschte Totenstille.

Dann sagte Sophie-Anne: »Die dumme Jennifer. Was hat Chester immer gesagt? Sie wächst sich selbst über den Kopf. Was tun ...? Ob sie wohl einen Boten von mir empfangen würde?«

Andre und sie starrten einander eine Zeit lang unverwandt an. Wahrscheinlich führten sie ihr eigenes kleines telepathisches Gespräch.

»Ich vermute, sie wohnt in der Suite, die Arkansas für sich reserviert hatte«, sagte die Königin zu Andre, der sofort zum Telefon griff und bei der Rezeption anrief. Ich hörte nicht zum ersten Mal, wie der König oder die Königin eines Bundesstaats nur mit dem Namen des Staats bezeichnet wurden. Aber so vom eigenen toten Ehemann zu sprechen, erschien mir doch ziemlich unpersönlich, egal wie kurz die Ehe gewesen war oder wie gewalttätig sie geendet hatte.

»Ja«, sagte Andre, nachdem er wieder aufgelegt hatte.

»Vielleicht sollten wir sie besuchen«, schlug die Königin vor. Andre und sie ergingen sich noch ein wenig in diesem stummen Hin und Her, in dem sie miteinander kommunizierten. Und das sich wahrscheinlich gar nicht so sehr von dem zwischen Barry und mir unterschied. »Sie wird uns sicher empfangen. Es gibt bestimmt etwas, das sie mir persönlich sagen möchte.« Die Königin griff nach dem Telefonhörer, nicht gerade so, als ob sie das jeden Tag täte, und wählte eigenhändig die Nummer der Arkansas-Suite.

»Jennifer«, flötete sie charmant und lauschte dann einem Wortschwall, den ich nur undeutlich hörte. Jennifer klang nicht sehr viel liebenswürdiger als kurz zuvor in der Lobby.

»Jennifer, wir müssen miteinander reden.« Die Königin klang zwar unglaublich charmant, aber sehr entschlossen. Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. »Es steht uns immer frei, zu diskutieren und zu verhandeln, Jennifer«, sagte Sophie-Anne. »Zumindest sehe ich das so. Du nicht?« Dann sprach wohl Jennifer wieder. »In Ordnung, wunderbar, Jennifer. Wir sind in ein, zwei Minuten unten.« Die Königin legte auf und stand einen Augenblick schweigend da.

Derjenigen einen Besuch abzustatten, die Sophie-Anne in einem Prozess gerade des Mordes an ihrem Ehemann Peter Threadgill bezichtigte, schien mir eine wirklich miserable Idee zu sein. Doch Andre nickte Sophie-Anne zustimmend zu.

Nach Sophie-Annes Telefonat mit ihrer Erzfeindin nahm ich an, wir würden jede Sekunde zu deren Suite aufbrechen. Doch vielleicht war die Königin nicht so zuversichtlich, wie sie geklungen hatte. Statt rasch zum Showdown mit Jennifer Cater zu eilen, trödelte Sophie-Anne, machte sich überflüssigerweise noch ein wenig zurecht, wechselte die Schuhe, suchte nach ihrem Zimmerschlüssel und lauter solche Sachen. Dann erhielt sie einen Anruf mit der Frage, bis zu welcher Höhe die Menschen ihrer Delegation die Ausgaben für den Zimmerservice auf die allgemeine Rechnung setzen lassen dürften. Und so dauerte es bestimmt eine Viertelstunde, bis wir endlich aufbrachen. Sigebert kam aus der Tür zum Treppenhaus und trat beim wartenden Fahrstuhl zu Andre.

Jennifer Cater und ihre Leute wohnten in der siebten Etage. Vor Jennifer Caters Tür stand niemand: Sie glaubte anscheinend, keinen eigenen Bodyguard zu benötigen. Andre übernahm das Anklopfen, und Sophie-Anne richtete sich erwartungsvoll auf. Sigebert hielt sich hinter ihnen und warf mir ganz unerwartet ein Lächeln zu. Ich versuchte, nicht vor Furcht zurückzuschrecken.

Die Tür schwang auf. In der Suite war es stockdunkel.

Der Geruch, der uns entgegen wehte, war unverkennbar.

»Nun«, sagte die Königin von Louisiana forsch. »Jennifer ist tot.«