16

Die Besichtigung wird damit fortgesetzt, daß das Trio auf dem Weg durch die offene Garage wieder im Haus verschwindet. Ich schleiche mich hinterher. Vorauf geht, mit dem Gehabe eines Museumsdirektors, der Kastenbart: >Wir betreten hier zunächst den Raum, in den unsere Götter ihre fahrbaren Höhlen hinstellen.< Der Dicke blickt einen Moment an meiner guten, alten Lokomotive hoch, als wollte er sagen: >Damit bin ich eben gekommen!< Dann inspiziert er Anettes kleinen Sportwagen. Seine mit braun-weißer Seide bezogene Pappnase arbeitet offenbar viel exakter als die Nasen der beiden anderen. An einem der Reifen findet er eine Stelle, die ihn zum festen Ausdrücken seines Schnorchels und Aufblasen der Flappe animiert. Die anderen beiden, aufmerksam geworden, wiederholen die Zeremonie, dann hebt der Dicke das Bein, quittiert, und die beiden tun es ihm nach. Das Peterle wie üblich völlig übertrieben, so daß er das rechte Hinterbein fast auf dem Rücken hat. Hinterher kratzt er auch noch höchst albern auf dem Beton. Offenbar alles, um seinem neuen Angebeteten zu beweisen, wie sehr er seine Anregungen zu schätzen weiß.

Der Kastenbart will weiter, doch Cocki ist noch nicht fertig. In der Ecke hat er die beiden Mülltonnen entdeckt und sortiert mit erhobenem Kopf die verschiedenen, ihnen entquellenden Gerüche. In der einen scheint etwas zu sein, was ihn reizt. Jedenfalls richtet er sich an der Tonne auf, hebt mit der Nase den Deckel auf, so daß er krachend auf den Betonboden donnert, und versucht dann den Kopf in die Tonnenöffnung zu zwängen. Aber dazu ist er doch zu klein, und so versucht er denn, den ganzen Kasten mit der Schulter umzuwerfen. Ich kann gerade noch zuspringen, ihm einen Klaps aufs Hinterteil geben und den Deckel wieder aufstülpen. Den Klaps quittiert er mit einem Grinsen und watschelt dann hinter dem Museumsdirektor her. Der führt ihn nun in die Waschküche, wo Cocki sich an dem nicht ganz zugedrehten Wasserhahn aufrichtet und ein paar Tropfen vom Hahn leckt. Dann interessiert ihn das Regal, auf dem die Konservendosen und Einmachgläser stehen. Nachdem er sich von der Hoffnungslosigkeit jedes Angriffs überzeugt hat, wandert er hinter den beiden anderen her in den Kohlenkeller. Weffi und Peter bleiben vor dem Berg mit Anthrazitnüssen stehen. Sie entsinnen sich noch zu genau an Frauchens Hand, die ihnen auf ihre kleinen Pos schrieb: Du sollst nicht erst im Kohlenstaub und dann auf Teppichen herumlaufen! Cocki aber, in Unkenntnis dieser Regel, kraxelt den Kohlenberg hinauf. Das ist gar nicht einfach, denn unter ihm rollen dauernd die glatten, schwarzen Eier weg. Aber mit seinen dicken Tatzen schafft er alles, genau wie der alte Cocki fast senkrechte Felswände damit hinauf kroch. Was aber will er bloß da oben? Hat vielleicht der Klempner, als er das letztemal die Wasserleitung reparierte und dazu den Kohlenberg ersteigen mußte, sein Frühstück dort vergessen? Nein, das ist es nicht. Cocki bleibt auf dreiviertel Höhe stehen, den Kopf schief geneigt, die Ohren unternehmungslustig hochgezogen. Ich habe das Licht angeknipst und sehe in seinen Augen nichts mehr von Sanftheit oder Schelmerei, sondern die scharfe Neugier des Raubtieres. Jetzt balanciert er ganz vorsichtig weiter, die massige Nase gerade vorgeschoben, so daß sie mit dem Nacken eine Linie bildet. Am liebsten würde er wahrscheinlich wie ein Pointer auch noch eine Pfote hochheben, aber das geht in diesem Fall nicht, denn dann würde er den Kohlenberg wieder hinunterrutschen. Weffi und Peter sitzen an dessen Fuß auf den Hinterteilen und verfolgen mit schiefen Köpfen diese Expedition. Der Weg um die Spitze des Berges führt Cocki an das Kellerfenster, dessen oberer Rand auf Gartenebene liegt. Draußen ist es durch ein Gitter abgedeckt, und darunter haben sich allmählich ein paar Unkrautpflanzen angesiedelt. Cocki besieht sich interessiert die Konstruktion des Riegels und versucht ihn hochzuschieben. Aber der Riegel ist eingerostet, denn das Fenster wird nie geöffnet. Der Dicke stößt ein zorniges >Wuff< aus und tatzt mit der Pfote gegen die Scheibe. Was hat er denn bloß? Ich sehe, daß auch die beiden anderen Genossen die Ohren hochgestellt haben, und den Raubtierglanz in ihren Augen. Und dann glaube ich, ein ganz feines Rascheln und Piepsen zu hören. Eine Maus? Ja, könnte sein, eine Maus, die durch die Gitterstäbe gerutscht und in dem Schacht gefangen ist. Ich mache kehrt und laufe durch die Garage wieder hinaus. Ehe die drei begreifen, habe ich ihnen schon die Garagentür vor den Nasen zugehauen. Cocki donnert von innen dagegen, und ich sehe, wie sich die Klinke bewegt. Dann fängt er regelrecht an zu pöbeln, und die beiden anderen nehmen das Thema mit voller Lungenkraft auf. Na, es wird hoffentlich einen Augenblick dauern, bis er die Klinke ‘runterkriegt.

Ich hebe das Gitter hoch, und da hockt doch tatsächlich zwischen ein paar kümmerlichen Pflänzchen, ganz in eine Ecke gedrückt, ein winziges Mäuschen und sieht mich aus seinen schwarzen Knopfaugen voll unendlicher Angst an. Wahrscheinlich ist es dieselbe Maus, die die Mama neulich durch die Küche huschen sah, worauf die Familie die Aufstellung einer Falle erörterte und wieder verwarf. Ich hole mein Taschentuch heraus und stülpe es mit einem schnellen Griff über das Mäuschen, wobei ich ihm erzähle, daß es sich bei mir um einen wohlmeinenden Wolkenkratzer mit durchaus tierfreundlichen Absichten handele. Jetzt fühle ich den kleinen Körper im Tuch zappeln, richte mich ächzend auf und lege dann das Tuch vorsichtig auf den Rasen. Dieser unser Rasen war noch nie besonders schön, weil die Erde darunter eine zähe und ziemlich unergiebige Angelegenheit ist. Außerdem hat es lange nicht mehr geregnet, und dadurch ist sie noch trockener geworden. Trotzdem: als ich mich ein paar Sekunden später zu wundem beginne, weil sich unter dem Tuch nichts mehr regt und es daraufhin wegziehe, sehe ich eben noch ein winziges Mäusehinterteil mit Kurs Australien, also senkrecht nach unten, in besagter Gartenerde verschwinden. Blitzschnell hat sie sich eingegraben und dies gerade zur rechten Zeit, denn eben, als ihre Schwanzspitze in der Erde verschwindet, höre ich unten ein Getöse, der Dicke hat die Garagentür aufbekommen und die Flügel so heftig nach außen geschmettert, daß sie gegen die Prellsteine schlugen. Zwei Sekunden später hat die Meute mich aufgestöbert. Den Dicken packe ich am Halsband und lenke ihn ab, indem ich in das Kellerloch zeige. Er wittert ausgiebig und läßt sich so weit hinunter, wie es sein Schwerpunkt erlaubt, dann holt er sich wieder zurück und sieht mich mit einem so wissenden Blick an, daß ich lachen muß. Es fehlt nur noch, daß er ein Auge zukneift und sagt: >Du hast mich beschummelt, du Hund!<

Inzwischen hat Peter, offenbar durch das Beispiel seines großen Bruders, sich auf seine eigenen Instinkte besonnen und die Stelle entdeckt, an der das Mäuschen in der Erde verschwunden ist. Er beginnt sofort blitzschnell zu graben und überläßt die Aufgabe dann dem Dicken, dessen breite Tatzen ganz anders flutschen. Weit kommt er aber nicht, dann hat er meine Hand im Genick. In Ermangelung einer Leine nehme ich ihn ächzend auf den Arm, während ich gleichzeitig mit dem Fuß Peterchen wegschiebe und ihm mit »Pfui, laß das Tierchen!« bedeute, daß das kleine Mäuschen für ihn tabu ist. Der Dicke liegt in meinem Arm, die umgeknickten Tatzen hochgereckt, den Kopf so fest heruntergedrückt, daß die dicke Flappe fast die ganze Brust bedeckt. Dazu sieht er mich aus blutunterlaufenen Augen vorwurfsvoll an: >Mensch, das kannst du doch nicht machen! Die hätte ich doch gekriegt!< Ich küsse ihn auf die Nase, was er mit einem tiefen Brummen quittiert.

Von drüben kommt Addis Stimme: »Was machst du da eigentlich? Hast du ‘n Säugling adoptiert?«

»Ja. Komm her und sieh ihn dir an!«

»Ist ja nicht möglich!« Sie saust im Galopp auf mich zu, bis zum Bersten gefüllt mit weiblicher Neugier. Kurz vor mir bleibt sie stehen und wird ganz blaß, als sie mich anschaut: »Aber das ist doch...«

»Nein, mein Kind, das ist nicht. Es ist ein neuer Cocki.« Damit setze ich das Ungeheuer, das sich in meinen erlahmenden Armen in Beton verwandelt zu haben scheint, auf die Erde: »Hier, Cockemännchen, sag Tante Addi guten Tag, und gib ihr schön Pfötchen.«

»Ach, ist der goldig«, sagt Addi und bückt sich zu ihm nieder. Er hebt ihr in seiner üblichen neckischen Art den Rock hoch, wofür ich mich bei ihr entschuldige. »Wieso?« fragt sie mit scheinheilig erstaunten Kulleraugen: »Das ist doch selbstverständlich: ganz der Papa!« Dann kniet sie sich vor ihm nieder und nimmt seinen Kopf in die Hände: »Ach, kleiner Löwe, du hast das Große Los gezogen, weißt du das?« Sie streichelt ihn über die stark nach außen gewölbten Flanken: »Aber hör mal, der Schmerbauch muß weg!«

»Er stellt nur ungünstig«, verteidige ich ihn, »wenn du schräg hinter ihm bist, sieht er ganz normal aus!«

»Quatsch. Mindestens zehn Pfund müssen da ‘runter. Nicht wahr, Dicker?« Sie haut ihm kräftig aufs Hinterteil: »Donnerwetter, das ist ja wie aus Eisen! Hat der Kerl Muskeln!«

»Ja, eben! Was du für dick hältst, sind alles Muskeln, er ist ein Springercocker, die sind ja wie Bulldoggen gebaut.«

»Trotzdem zehn Pfund ‘runter. Ich würde ihn jede Woche einen Tag hungern lassen.« Der Dicke hat sich vor ihr auf den Rücken geworfen, tatzt nach ihrem Gesicht und läßt albern eine ungeheuer dicke und lange Zunge seitwärts aus dem Maul hängen. Sie krault ihn auf der Brust, worauf er sie mit einem gewaltigen Nieser unter Wasser setzt. Lachend wischt sie sich das Gesicht ab, und ihre Finger wandern vom Brustkorb weiter abwärts: »Sieh dir das an, was der Bursche für einen Mollenfriedhof hat! Alles ganz wabbelig!«

»Na, ja. Er hat ja auch meist Teigwaren und Milch auf seinem Bauernhof bekommen und außerdem nur rund ums Haus ‘rumgesessen. Wenn ich ihn täglich zwei Stunden toben lasse und auf Fleischkost setze...«

Ein Doppelschatten fällt über uns, Frauchen und die Mama. »Ja«, sagt Frauchen, »du hast ganz recht, Addi, der Wabbelspeck muß natürlich ‘runter. Wie findest du ihn denn sonst?«

»Bildschön! Darum ist es ja gerade so schade, daß er so dick ist. Das Gesicht ist schmaler und länger als beim alten Cocki und dunkler in der Farbe. Und dann hat er diese ulkige weiße Behaarung drüber — ist er schon ein alter Herr? Dem Wesen nach nicht!«

»Unsinn«, sage ich empört, »er ist genau anderthalb Jahre! Sieh dir doch sein Gebiß an!« Ich ziehe die Flappe hoch: »Das putzen wir morgen«, sagt Frauchen. »Und außerdem«, erkläre ich, »ist das Haar im Gesicht nicht weiß, sondern silbern.«

Addi steht auf: »Bitte schön, silbern.« Und zu Frauchen: »Er ist schon vollkommen verknallt in dieses Monstrum! Ob der mir auch wie der alte Cocki alle Blumenzwiebeln wieder ausgräbt und aus euren sämtlichen Fenstern springt und ihr dann die halbe Nacht auf sitzt, bis er vom Fräulein Braut zurückkommt?«

»Also, daß er nicht aus den Fenstern springt, kann ich garantieren«, sage ich. »Er ist viel sanfteren Gemüts und interessiert sich erfreulich wenig für Weiber.«

»Na ja«, meint Addi, »du bist schließlich nur sein Vizevater.« Sie nimmt das Frauchen unter den Arm, und die beiden verschwinden. Die Mama bleibt gramgebeugt neben mir stehen: »Du wirst ihn doch nicht etwa hungern lassen, oder?«

»Nur, wenn du mir versprichst, nicht dauernd heimlich was in ihn ‘reinzustopfen.«

»Natürlich nicht!« Und dabei nestelt sie in ihrer Schürzentasche und bringt daraus den Kopf eines Schokoladenhasen zum Vorschein. Es ist der, den ich ihr zu Ostern geschenkt habe, und sie hat die Gewohnheit, sich diese von mir erhaltenen Hasen mindestens ein Jahr lang aufzuheben.

»Aber Mulleken«, sage ich.

»Nur zur Begrüßung«, meint sie und bricht ein Ohr ab, das der Dicke wie eine Pille hinunterschluckt.

»Nun kau das doch wenigstens«, sage ich.

Weffi bekommt das andere Ohr, nimmt es mit einem genießerischen Aaaahhh! entgegen und beginnt, es umständlich in seinem Haifischgebiß zu zermümmeln. Peterle erhält die eine Backe. Er beriecht sie, wie alles, was er zu fressen bekommt, zuerst mißtrauisch und ringt einen Augenblick mit sich selbst. Soll er es dem neuerwählten Meister spenden? Der Meister scheint das mit hochgehobenen Ohren und aufmunternden Augen zu erwarten. Aber die Schokolade siegt, und Peterchen frißt die Hasenbacke auf. Die Hand der Mama mit dem letzten Stückchen (linke Backe) bewegt sich höchst verdächtig in Richtung Cocki, aber ich halte sie fest: »Nix da, jetzt ist Schluß!« Worauf sie seufzend das Stück in den eigenen Mund steckt: »Cocki, dein Herrchen ist ein Tyrann!«

Abends nehme ich Cocki mit in den Dorfkrug. Dort habe ich mir im Laufe von fast zehn Jahren das Recht erobert, mit am Stammtisch zu sitzen, gleich neben dem gemütlichen Kachelofen mit den vielen Kuhlen, der im Winter so eine wohlige Wärme ausstrahlt, daß man am liebsten einnicken möchte, kaum daß man sich gesetzt hat. Jetzt ist davon natürlich noch keine Rede, und der holzgetäfelte Raum ist von den letzten Sommergästen ziemlich gut gefüllt. Ich werfe einen schnellen Blick rundum, ob die Sommergäste auch sehen, daß ich mich am Stammtisch niederlasse. Es ist der einzige Tisch, der keine Decke zeigt, sondern nur das blanke Holz, und daran sitzen die Einheimischen in den kniefreien krachledernen Hosen und haben auch hier im Lokal die alten, verwitterten Hüte mit den Gamsbärten auf. Jeder von ihnen hat seinen eigenen Maßkrug mit Deckel vor sich. Im Laute der Zeit haben sich aber auch noch andere Elemente dazwischengeschoben. Da ist zum Beispiel der berühmte Porträtmaler aus Wien, ein gottbegnadeter Künstler, noch von der alten Schule, der hier in unserem Winkel hängengeblieben ist und fröhlich versauert. Und da ist der weißhaarige Gutsbesitzer aus dem Sudetenland, der von seiner Entschädigung eine Handweberei aufgemacht bat. Gleich neben ihm sitzt mein Freund Alois, dem’s den Lebensnerv abgeschnitten hat, weil er — aus dem Krieg heimkommend — seine Frau mit einem anderen durchgebrannt fand, die den Hof verschleudert und die Buben mitgenommen hatte. Seitdem säuft sich der Alois so durchs Leben, wohnt in einem winzigen Häusl im Hinterhof des Sägewerkes, wo man auf einer Art Hühnerleiter zu ihm hinaufkraxln muß, ist im Sommer Hoteldiener im Seehof, im Winter Hilfsarbeiter im Sägewerk, zwischendurch macht er auch ein bißchen Autoschlosser und repariert die Traktoren. Neben ihm wiederum hockt mein anderer Freund, der Wurzel-Sepp, der gerade den Schaum vom Bier bläst. Und dann gibt’s da das Wetter-Manderl, den alten Förster, zu seiner Rechten den neuen Förster, den ich nicht leiden kann. Er ist so ein falkennasiger, hagerer Typ, der seine Hunde nie mit ins Haus nimmt und dem sie nur mit eingezogenem Schwanz folgen.

Mein Erscheinen mit Cocki erregt die erwünschte Sensation. Alois (genannt Lois) bemerkt ihn als erster: »Ja mei, hast deinen toten Cocki ausgegraben, alter Zauberer?« Und zum Wurzel-Sepp: »Zwick mich mal, damit ich’s glaub’, ich habe erst meine dritte Maß!«

Der Wurzel-Sepp zwickt ihn, daß er »au!« schreit, und sagt dann verwundert: »Ja, so was! Ich fresse einen Besen, wenn das nicht der Wastl vom Reschke ist!«

»Er ist es«, sage ich würdevoll, »aber zur Erinnerung habe ich ihn Cocki getauft.«

Der alte Gutsbesitzer, der Jaromir, schneidet die Hälfte von seinem Leberkäs ab: »Na, so ein scheenes Hunderl!« Und ehe ich es verhindern kann, hat der Dicke den Leberkäs eingeatmet und legt ihm (dem Gutsbesitzer) in Erwartung weiterer Genüsse den Kopf aufs Knie. Ich beschwöre die gesamte Tafelrunde, weitere Gaben zu unterlassen, und die Zenzi stellt mir einen Maßkrug hin. Der Stammtisch ist die einzige Gelegenheit, bei der ich einen vollen Liter trinke, sonst ist es höchstens ein halber. Wie die anderen fahre ich mit der Hand über den Rand des Kruges und nehme dann einen kräftigen Schluck. Die Zenzi setzt sich neben mich und fängt an zu stricken, während die Mannsbilder eine Weile nachdenklich ihren tiefen Ausschnitt bewundern, der Einblick in rundliche Fülle gestattet. Das Wetter-Manderl stochert in seiner halblangen Pfeife und sagt dann mit einem Blick auf Zenzis Ausschnitt: »Hast aber ordentlich Holz vor der Hütten, Madel!« Worauf ihn alle erstaunt ob dieser späten männlichen Regung betrachten. Der junge Jäger sagt: »Der war doch mit dem Seehuber-Schorsch auf Wasserjagd, gelt? Den kenn’ ich doch!« Er schnalzt mit den Fingern: »Da geh her, Fuß!« Cocki nimmt den Kopf von Jaromirs Knie und sieht mich forschend an.

»Appell hat er nicht!« sagt der Jäger. »Ich geb’ Ihnen einen guten Rat. Wenn ich einen Hund bekomme und er nicht gleich gehorcht, kriegt er erst mal eine Tracht, eine ordentliche. Nachher geht’s dann schon.« Er streckt wieder die Hand nach Cocki aus, der sich an mich drängt und ihm stumm die Zähne zeigt.

»Meine Hunde«, sage ich, »brauchen keinen Appell. Und auf die Jagd geht er auch nicht mehr. Ich mag keine dressierten Tiere.«

Es entsteht ein Augenblick unbehaglichen Schweigens, das Jaromir unterbricht, indem er schnell eine Geschichte erzählt: »Damals«, sagt er, »als ich daheim noch mein Gut hatte, hatten sie mir im Krieg alle Pferde weggeholt bis auf den alten Nestor, den Wallach. Achtzehn Jahre war er und auf einem Auge blind und hatte bei mir das Gnadenbrot. Aber dann haben sie mir auch noch den Hafer für ihn gesperrt. Selbst mein Nachbar, der Jakobowski, durfte mir keinen mehr verkaufen. Da haben wir’s dann andersrum gemacht. Ich hatte einen Hund, Schnaps hieß er, so einen Dachspinschermopspudel mit Ringelschwanz und Schäferhundnase. Jede Woche habe ich meinen Nestor vor den Dogcart gespannt und bin zum Jakobowski hinübergezuckelt und hab’ i hm den Schnaps verkauft. Für den Preis von einem Sack Hafer. Das könnt’ uns ja keiner verbieten! Dann bin ich wieder auf den Dogcart gestiegen, und so sind wir heimgezuckelt. So nach zwei Kilometern tauchte Schnaps wieder bei uns auf, und in der nächsten Woche hab’ ich ihn halt wieder >verkauft<. So habe ich den Nestor durch den Krieg bekommen. Eines Morgens lag er tot im Stall, kurz ehe die Russen kamen.«

»Wo laßt ihr ihn denn schlafen?« fragt mich der Maler.

»Bei mir im Bett natürlich«, sage ich und fasse den jungen Jäger scharf ins Auge. Der zieht die Mundwinkel ‘runter, der Adamsapfel in seinem dürren Hals geht einmal auf und ab, aber er wagt nichts zu sagen.

Alles wiehert so, daß die Sommergäste erschrocken auf diesen bajuwarischen Heiterkeitsausbruch schauen. Der Maler haut mit der Faust auf den Tisch: »Na, was ist, Zenzi, was hast beschlossen? Kriegst erst das Kind und heiratest dann, oder umgekehrt?«

»Erst wird geheiratet«, erklärt sie entschlossen, »mich braucht keiner erst auszuprobieren.« Die Tafelrunde nickt feierlich Zustimmung, und dann wird eine Stunde lang der Mähdrescher durchgenommen, den sich der Huber-Franz gekauft hat. Da das Interesse an Cocki auf diese Weise endgültig erloschen scheint, trinke ich meine Maß aus und gehe heim.

Es ist Vollmond, die Höfe hocken — die Dächer tief ins Gesicht gezogen — rechts und links hinter ihren Vorgärten. Cocki trabt als ein ungewisser Schatten vor mir her und raschelt in den ersten Herbstblättern. Ich behalte ihn im Strahl meiner Taschenlampe und folge ihm. Ab und zu wendet er sich nach mir um, und dann leuchten seine Augen rot im Lampenreflex, genau wie die des alten Cocki, so daß es mir kalt über den Rücken läuft. Plötzlich sehe ich, wie er stehenbleibt, die Nase hebt und sich dann in immer schneller werdenden Trab setzt, der schließlich in rasenden Galopp übergeht. Dann ist er verschwunden, einfach plötzlich weg in der Häuserzeile, und unmittelbar darauf ertönt ein doppelter Schrei.

Ich setze mich in Laufschritt und komme keuchend an die Stelle, an der er verschwunden ist. Dort, in einem der Häuser, liegt zu ebener Erde ein kleiner Laden, oder genauer gesagt, ein Raum, der früher mal als Laden gedient hat. Das Geschäft ist längst pleite, und die Hausbesitzerin pflegt diesen Laden im Gäste, die besonders knapp bei Kasse sind, als Unterkunft zu vermieten. Zufällig weiß ich durch den Dorfklatsch, daß augenblicklich ein ebenso illegales wie glückliches Mopedpärchen aus dem Schwarzwald dort haust. Ich habe sie sogar einmal kennengelernt, ganz besonders nette und liebe junge Leute. Da nun dieser, zum Doppelzimmer ernannte Laden keine andere Lüftungsmöglichkeit als die Ladentür besitzt, haben sie selbige in der warmen Spätsommernacht aufgelassen und waren, wie sie mir anschließend erzählten, gerade im Begriff, ein spätes Nach-Abendbrot einzunehmen. Jedenfalls sehe ich, dank dem Scheinwerfer, folgendes Bild: im Bett liegend das Pärchen. Er hält in der einen Hand völlig erstarrt eine Salami und in der anderen ein großes Messer. Sie, an die Hemdbrust gedrückt, das dazugehörige Brot, auf dem Nachttisch ein Paket Butter und mitten zwischen beiden, selig hechelnd und wedelnd, der Dicke! Die Bettdecken weisen ein interessantes Batikmuster von seinen Pfoten auf, und eben kratzt er der jungen Frau aufmunternd über den nackten Oberarm, daß sie »Au!« sagt. Ich stelle die Lampe auf den Boden, springe auch noch auf das Bett, das daraufhin in allen Fugen kracht, reiße den Dicken herunter und breche in eine Flut von Entschuldigungen aus.

»Ach, das macht nichts«, sagt der junge Mann, »wir kennen Sie ja!«

»Und wir hatten plötzlich solchen Hunger!« fügt die junge Frau errötend hinzu. »Das Essen halten wir uns ja selber, weil’s billiger so ist, und gerade, als Edwin die Wurst anschneiden will, stürzt plötzlich was durch die Tür und kracht mitten zwischen uns! Wieviel wiegt er eigentlich?«

»Na, so zwischen vierzig und fünfzig«, sage ich, »es muß ja entsetzlich gewesen sein!«

»Jedenfalls war es...«, sagt der junge Mann, »ich möchte sagen, etwas ungewöhnlich! Wollen Sie sich nicht setzen? Wir haben allerdings nur den einen Stuhl, auf dem unsere Sachen liegen. Schrank ist nicht.«

»Er hat natürlich die Wurst gerochen«, stottere ich, »auf keinen Fall möchte ich Sie länger stören...«

»Etwas Kirschwasser haben wir auch noch von daheim«, bietet die junge Frau an.

»Nein, danke, vielen Dank!«

»Na, eine Scheibe Wurst soll er wenigstens haben, damit er nicht so enttäuscht ist«, erklärt der junge Mann.

»Aber ich bitte Sie, er ist sowieso schon viel zu dick!«

»Dann kommt’s auf eine Scheibe mehr oder weniger auch nicht an. Sie haben doch schon zwei — so ein Pudelchen und einen Fox? Ist der hier neu?«

»Ja, ganz neu, seit heute.«

»Aha«, meint der junge Mann, und da uns damit der Gesprächsstoff endgültig ausgegangen ist, wende ich mich zum Gehen.

»Lassen Sie die Tür ruhig auf«, bittet mich die junge Frau, »es wird ja nicht gleich wieder so was Dickes ‘reinkommen, bisher waren’s nur Nachtfalter und einmal eine Maus.«

Den Dicken muß ich eine Strecke hinter mir herzerren. Die Vorwürfe, die ich ihm ob seines Benehmens mache, nimmt er überhaupt nicht zur Kenntnis. Er sieht mich nur ratlos hechelnd an: >Wie kann man bloß weglaufen, wenn noch eine ganze Salami da ist?< Schließlich fügt er sich aber und trabt wieder vor mir her, biegt dann seitwärts in eine Wiese aus. Und dort inszeniert er ein gewaltiges Gebrüll. Es hört überhaupt nicht auf. Also muß ich wieder von der Straße hinunter und in das taufeuchte Gras, bis Schuhe und Strümpfe klatschnaß sind.

Cocki sitzt vor einem stehengelassenen Heuwender und brüllt ihn aus voller Lunge an. Als wir ins Wirtshaus gegangen sind, stand das Gerät noch nicht da, und das hat er sich genau gemerkt. Aber was ist das, dieses Ungeheuer? Vielleicht kann man es durch Gebrüll wegscheuchen. Aber es läßt sich nicht scheuchen. Immer wieder hebt er die Nase und saugt den Duft ein — nach Tier riecht es nicht, aber vielleicht ist es doch etwas Böses. Ich bin von dieser klugen Feigheit — oder feigen Klugheit, wie man es nennen will — so fasziniert, daß ich sogar vergesse, ihn wegen seiner nächtlichen Ruhestörung zu beschimpfen. Als er merkt, daß ich hinter ihm stehe, wird er mutiger, wenn auch nur etwas. Das heißt, er kriecht, unentwegt weiterblökend, auf dem Bauch an das Gerät heran, bis er mit der Nase draufstößt und sich endlich überzeugt, daß es ein totes Ding ist. Dann richtet er sich auf, hebt verächtlich das Bein daran und trabt weiter. Die Grillen ringsum, die unter Cockis Gebrüll verstummt waren, setzen ihr Konzert fort. Ober mir der weiße Staub der Milchstraße, der Wagen, der helle Schein der Venus.

Interessant, diese Charakterstudien, die man an Cocki machen kann, sage ich mir. Ausgeprägtes Ehrgefühl, gutes Erinnerungsvermögen, hohe Intelligenz, an Feigheit grenzende Vorsicht. Dazu gutmütige Verspieltheit und feines Taktgefühl, wie sein Benehmen gegenüber Weffchen und Peter zeigt. Er hat sofort herausgefunden, wo seine Stellung zwischen den beiden ist.

In diesem Augenblick bricht irgendwo vor mir an der Hecke der Mooshuberin das ungewöhnliche und entzückende Tier in neues Gebrüll aus. Es hat die Igelfamilie aufgestöbert, die dort haust und ihren Abendspaziergang macht. Ich leuchte mit der Taschenlampe, und da ist sie, die ganze Kolonne. Vater vorneweg, dann die vier Jungen und Mutter als Nachhut. Alle sechs sind zu Stachelkugeln erstarrt, die beiden Alten fauchen und tuckern wütend. Ich nehme den Dicken rasch an die Leine, denn Igel — so lieb sie sind und so nützlich — haben, wie ich weiß, einen Nachteil: sie wimmeln von großen braunen Flöhen, die um die Stacheln herum Fangen spielen.

Daheim ist schon alles beim Zubettgehen. Weffi und Peterle sind in Frauchens Zimmer verstaut, Weffi in seinem Sessel vor dem Frisiertisch, Peter am Fußende vom Bett. Der Dicke bleibt unschlüssig in der Diele stehen. An sich möchte er die Treppe hinauf zum ersten Stock, wo die Mama schläft. Das ist er so gewohnt, weil er bei den Reschkes zuletzt immer bei den Großeltern geschlafen hat, die oben wohnen. Andererseits möchte er bei mir bleiben, und er entscheidet sich für das letztere. Als ich aus dem Bad komme, hat er es sich auf meinem Kopfkissen bequem gemacht. Wie er mich sieht, setzt er sich auf, grinst mich an und beginnt sich dann wie wild am Bauch zu kratzen. Offenbar haben ein paar Weitsprungmeister der Igelbesatzung ihn doch geentert. Ich feuere ihn aus dem Bett: »Nein, mein Guter, das geht nicht.«

Plötzlich ist die Mama im Schlafrock und mit eingerollten Löckchen da: »Wo soll er denn schlafen?«

»Jedenfalls nicht bei mir im Bett. Vielleicht hier nebenan, in der Bibliothek. Aber wahrscheinlich schnarcht er.«

»Dann könnte er ja bei mir schlafen.«

»Kommt nicht in Frage, Schloßgeist. Mit dem wirst du nicht fertig.«

Jetzt erscheint auch Frauchen: »Wir legen ihn am besten in die Diele, unter deinen Mantel. Wir haben doch noch dieses alte Polster, das legen wir ihm hin, als sein Körbchen.«

Das Polster findet sich und wird von dem sehr unwilligen Cocki ausgiebig berochen, während die gesamte Familie sich mit >ei, wie fein!< und >braves Hündchen!< bemüht, es ihm schmackhaft zu machen. Schließlich geruht er, sich brummend darauf niederzulassen. Mir wirft er noch einen verächtlichen Blick zu, legt dann den Kopf zwischen die Pfoten und stößt den ersten Schnarcher aus. Die Familie verzieht sich erleichtert in ihre Betten.