11

Draußen ertönt eine helle Fanfare. Etwas Rotes, Niedriges schießt mit atemberaubender Fahrt in die Einfahrt, auf die Garage zu und bremst dort, daß die Kiesel ringsum fliegen. Dann klettert eine lange Gestalt mit spärlichem und leicht rötlichem Haar hinter dem Steuer vor.

Gott sei Dank, sagt es in meinem Innern. Ich sehe auf die Uhr: es ist eins. Bis halb zwölf hatte er noch Vorlesung. Gute Zeit. Dann ärgere ich mich über mein ewiges Warten, aber ich komme nun mal aus einer Familie, die immer und überall bei weitem zu früh Bahnsteige, Theatersitze und Gesellschaften bevölkerte.

Die Tür zur Bibliothek geht auf: »Er ist da!« sagt das Frauchen.

»So?« schauspielere ich, weil ich mich schäme.

»Ja, hast du’s denn nicht gehört? Ich scheine in einer Familie von Schwerhörigen zu leben. Die Mama hat auch nichts gehört, obwohl sie seit zehn Uhr in ihrem besten schwarzen Kleid mit der goldenen Medaille herumrennt! Nimm du ihn im Empfang und gib ihm einen Schnaps, und ich komme etwas später. Die Mama wird dann beim Essen vorgestellt.«

»Zu Befehl! Ich möchte nur bemerken, daß du noch deine Kittelschürze anhast und darunter offenbar so ziemlich gar nichts.«

»Ich bin sofort fertig, kümmere dich nicht darum.«

»Ich kümmere mich nicht darum.« Mit diesen Worten öffne ich die Terrassentür und gehe die Stufen des Felsengartens auf ihn zu. Drüben bei Bentlers verschwinden verschiedene Köpfe hinter Gardinen.

»Na, das lasse ich mir gefallen«, sagt Enrico, meine Hand schüttelnd, und blickt sich um. »Kinder, ihr lebt ja wie im Paradies hier. Und ein Wetter, ein Wetterchen!«

»Ja, zum Eierlegen.«

Er holt einen Blumenstrauß und eine Konfektschachtel aus dem Wagen und grinst mich an: »Das da drüben — das Bentler-Haus?«

»Ja. Dreimäderlhaus sozusagen.«

»Ach«, seufzt er, »wenn du wüßtest, wie schubertisch mir zumute ist!«

»Na, dann komm mal ‘rein, wir wollen erst mal einen vor die Brust nehmen.«

In diesem Augenblick kommen die Hunde angesaust, die sich bis dahin in dem kleinen Wäldchen am Berghang mit Grabungsarbeiten beschäftigt hatten. Weit voran Peter, er fliegt nur so über die Wiese, dann über den Weg und dann zwanzigmal um Enrico herum.

»Mein Gott«, sagt der, »was ist denn das? Es bewegt sich so schnell, daß man’s gar nicht erkennen kann. Eine Art Pudel, was?«

»Es ist Peter«, sage ich. »Kleinpudel, auch Fliege genannt oder der rasende Schnürsenkel oder Ritzewitz.«

»Ritzewitz finde ich am passendsten! Ritzewitz — haha, großartig! Laß dich mal anfassen, Ritzewitz.«

Aber Peterchen weicht nach echter Pudelmanier aus. Dafür kommt jetzt Weffchen und bohrt Enrico stillschweigend den Kopf zwischen die Beine.

»Wer ist denn nun wieder das?« fragt Enrico und krault Weffi hinter den Ohren. Der setzt sich daraufhin auf seinen weißen Fellpo und reicht ihm geziert die Pfote hin.

Enrico grinst mich an: »Scheint einen Handkuß zu erwarten! Überhaupt — wenn ich die Augen sehe — Ähnlichkeit mit Greta Garbo.«

»Haben wir auch schon bemerkt. So, mehr Hunde gibt’s nicht, jetzt gehen wir ‘rein. Und ihr bleibt draußen, alle beide.«

Ganz programmgemäß ist das Frauchen schon in der Bibliothek, als wir eintreten. Sie dankt für Blumen und Konfekt, und wir trinken einen Begrüßungscognac. Enrico bewundert die Möbel und zeigt sich als sehr sachverständig. Dann wird er nach oben geschleppt, wo schon der Tisch gedeckt ist und ihm die Mama präsentiert wird. Sie macht ihm eine kleine Verbeugung und hätte am liebsten einen Knicks gemacht, wenn nicht Frauchens drohende Blicke sie daran gehindert hätten. Professoren sind für sie höhere Wesen, die einem entweder den Bauch aufschneiden oder von denen die Schulzensur des Sohnes abhängt. Frauchen nimmt sie schnell am Flügel, und beide verschwinden in der Küche. Während Enrico und ich uns an den Rauchtisch vor das Radio setzen, hören wir, wie sie — die Mama — mit dröhnender Stimme erklärt: »Schöner Mann!«

Und darauf Frauchen: »Übermorgen werden dir unwiderruflich die Ohren ausgepustet! Merkst du denn nicht, daß du schreist wie ein Lautsprecher!« Wir grinsen uns an. Gleich darauf öffnet sich die Küchentür, und die Suppe wird aufgetragen: »Zu Tisch, bitte!« sagt das Frauchen.

Es wird ein fröhliches Mahl. Zimmermann entpuppt sich als charmanter Unterhalter, während die Hunde, jeder in seiner Ecke, ihr Mittagessen verschlingen, um möglichst bald am Tisch betteln zu können. Sogar Peterchen hat sich beeilt und irgendwas in die falsche Kehle bekommen, denn er krächzt entsetzlich. Frauchen muß aufstehen, ihn auf den Rücken klopfen und ihm das Mäulchen aufreißen, ob man was sieht. Das Ganze endet mit einem furchtbaren Nieser, und Frauchen muß sich das Gesicht abwischen. Nun springt auch Zimmermann mit der Serviette auf, die Mama ist ganz blaß, und niemand bemerkt auf diese Weise — außer mir —, daß Weffi sein hastig verschlungenes Mittagfressen wieder hochgebracht und vor sich hingelegt hat. Alles dies unter dem Rauchtisch. Er sitzt mit schlotternden Fellhosen davor und bewacht es. Meine ganze Hoffnung besteht darin, daß er es wieder auffrißt. Als ich nach einer Weile schüchtern in seine Gegend gucke, hat er’s tatsächlich getan.

Nach dem Mokka wird uns von den Damen ein Verdauungsstündchen im Garten vorgeschlagen. Wir gehen nach unten, holen uns aus der Garage zwei Liegestühle und legen uns unter den großen Jasminstrauch. Enrico weiß es so einzurichten, daß er dabei das Bentler-Haus im Auge hat. Dort erscheint jetzt Addi in der Tür. Sie hat eine winzige Schürze um und schüttelt das Tischtuch aus.

»Hallo — Hannes!« ruft sie herüber.

»Hallo, Addi!«

Sie wendet sich um und verschwindet.

»Wer war denn das?« fragt Enrico.

»Die Mutter.«

»Phantastische Beine!«

In diesem Augenblick kommt jemand den Weg ‘raufgeradelt. Es ist der Reiserer-Franz. Er hat nur eine Badehose an, und zwei durch eine Schnur verbundene Boxhandschuhe hängen über seiner Schulter. Er schwingt sich vom Rad, stellt es an den Zaun, wobei er seine Muskeln spielen läßt, und geht dann auf das Bentler-Haus zu. Buddys Regie hat großartig geklappt.

»Hallo, Colonel!«

»Grüß dich, Franzi!«

»Wer ist denn der Gorilla?« fragt Enrico.

»Das ist der Reiserer Franzi«, flüstere ich. »Margots Verlobter. Ich hab’s dir doch erzählt.«

Enrico starrt ihm nach und knabbert an seiner Unterlippe: »Mensch, ich muß dir verschiedenes abbitten! Ich war mir gar nicht sicher, ob du Gauner dieses Monstrum nicht einfach erfunden hättest. Wenn ich mir vorstelle, daß der mir...«

Ich knuffe ihn in die Seite: »Du! Du brauchst dir nichts vorzustellen! Guck mal, da rechts!«

Hinter dem Bentler-Haus hervor kommt Susanne. Im Bikini. Mit einem Buch unter dem Arm. Sie steuert genau auf uns zu.

»Das ist Susannchen«, flüstere ich noch schnell, »die mit der unglücklichen Ehe!«

Zimmermann sagt gar nichts, er sperrt nur den Mund auf und ist sofort aus dem Stuhl hoch.

Susanne legt mir den Arm um den Hals und gibt mir einen zärtlichen Kuß. Ich stelle vor: »Mein Freund, Professor Zimmermann — Frau Dillenburg. Bleib doch ‘n bißchen bei uns, Susanne.«

»Ach, ich störe euch doch bloß, Colonel!«

»Keineswegs«, schreit Enrico und blickt wild um sich, »wo habe ich denn vorhin noch einen Liegestuhl gesehen...«

»In der Garage.«

Zimmermann stürzt sogleich in Richtung Garage. Ich zwinkere Susanne zu: »Na?«

»Du, der ist nett!«

Da ist Enrico schon wieder mit Liegestuhl. Susanne läßt sich mit der Lässigkeit einer jungen Tigerin hineingleiten, und er arbeitet an der Einstellung der Rückenlehne, mal tief, mal hoch, schließlich einigen sie sich auf der Mitte. Susanne bekommt von Enrico eine Zigarette angeboten — wie ich sehe, aus einem goldenen Etui, und sie bemerkt es auch gleich.

»Haben Sie nicht einen Badeanzug mitgebracht?« fragt Susanne, worüber Zimmermann zu meinem Erstaunen tief errötet. »Nein, das habe ich nicht. Übrigens«, biegt er ab, »Dillenburg — Dillenburg — da kenne ich doch auch jemanden — warten Sie —, Dillenburg-Fahrstühle, enorm reich, irgendwo im Rheinland — er ist tot, aber seine Witwe lebt, glaube ich, noch, eine furchtbare alte Fregatte.«

»Das ist meine Schwiegermutter«, erklärt Susanne.

Worauf Zimmermann noch tiefer errötet und Susanne in schallendes Gelächter ausbricht. Sie lacht silbern und ganz auf Zweck, und sie beugt sich vor und klopft Zimmermann beruhigend auf den Schenkel. Er riskiert einen schnellen Blick hinter die Bikini-Brustschälchen, nimmt ihre Hand und küßt sie: »Gnädigste nehmen mir das doch hoffentlich nicht übel?«

»Keine Spur. Ich hatte auch erst Angst. Aber im Grunde ist sie eine ganz prachtvolle Frau.«

»Ja«, sage ich, »wenn man ihr prophylaktisch mit einer Keule eins über den Kopf gibt, ist sie ganz gemütlich.«

Zimmermann bohrt vorsichtig weiter: »Und — hm — Ihr Herr Gemahl, einziger Sohn?«

Susanne wird melancholisch und madonnenhaft: »Ja, leider.«

Zimmermann zeigt sich erstaunt: »Leider? Wieso? Man sollte sagen, im Gegenteil, im Hinblick auf künftige Erbschaften — ohne Ihnen zu nahe zu treten! Dürfen wir Ihren Gemahl — später auch erwarten?«

Susanne drückt die halbgerauchte Zigarette im Grase aus: »Nein — das heißt, ich weiß es nicht. Ich glaube kaum.«

»Oh!« sagt Zimmermann mit einem so falschen Bedauern, daß es mir in den Zähnen weh tut. »Wohl viel zu tun in der Fabrik! Harte Konkurrenz, Abflachung der Wirtschaftskurve — kann ich völlig verstehen.«

»Er ist gar nicht in der Fabrik«, erklärt Susanne, »er ist Architekt.«

Und das klingt so gelangweilt, daß Enrico nur mühsam seine Befriedigung verbergen kann und Susanne auffordert, ihm die Namen der Berge am Horizont zu nennen, während ich vor mich hin grübele.

»Paßt mal auf, Herrschaften«, sage ich, nachdem die Bergkette benannt ist. »Wollen wir nicht wirklich schwimmen gehen? Susanne hat recht, finde ich. Enrico, für dich hab’ ich noch eine Badehose.«

Enrico schwankt und sieht mich flehend an. Offenbar ist er besorgt, daß er Susanne durch seine Nacktheit abschrecken könnte. »Kannst du schwimmen?« frage ich.

»Ja, natürlich!«

»Na also. Los, Susanne, zieh dich zum Baden um.«

»Das mit dem Schwimmen war eine Kateridee von dir«, sagt er, während wir uns umziehen. »Ihr seid alle so schön braun und ich dazwischen als weiße Made im Speck.«

»Du hast erstens keinen Speckbauch, zweitens eine ganz normale Figur, und drittens ahnst du gar nicht, wie wenig die Frauen darauf achten.«

Er zeigt sich einigermaßen beruhigt und mustert sich im Spiegel: »Worauf achten sie denn, meinst du?«

»Na, so aufs Ganze. Das ist ja eben der Unterschied zwischen ihnen und uns. Wir heiraten, weil wir uns in eine nette Figur oder in sonst irgendwelche Einzelheiten verlieben. Die Frauen betrachten uns von allen Gesichtspunkten gleichzeitig: Alter, Beruf, Geld, Manieren, auch Figur, das aber zuletzt. Und aus alldem ziehen sie die Quadratwurzel, und danach verhalten sie sich.«

»Seid ihr bald fertig?« kommt Susannes Stimme von draußen.

»Fertig!« antworten wir im Chor. Sie geht vor uns zum Badesteg. Zimmermann hinter ihr her wie ein Traumwandler. Durch seine verzückten Augen sehe ich Susannchen plötzlich so, wie sie wirklich ist: ein ganz bezaubernder kleiner Käfer. Diese blonden Härchen da im Nacken über dem schlanken braunen Hals, die zarten Schultern und die schönen schlanken Beine. Sie ist einer jener seltenen Fälle, in denen sich die Niedlichkeit des Babys erhalten hat, jenes Babys, das ich mir vor zwanzig Jahren von den Eltern auslieh, um damit im offenen Wagen als meiner Tochter anzugeben.

Einmal bleibt Zimmermann stehen und flüstert mir ins Ohr: »Tolle Krabbe!« Dabei atmet er heftig durch die Nase. Dann aber wird er auffallend ruhig, denn am Ende des Stegs lehnt wie eine griechische Statue der Reiserer-Franz, in einer ganz kleinen Badehose, so einer, wie sie Mitglieder von Schwimmvereinen tragen. Das Licht schimmert auf seinen tiefbraunen Muskeln. Ich bemerke, wie Zimmermann einen melancholischen Blick auf seinen kleinen weißen Bauch und die Beine wirft, besonders auf das rechte, an dem unter ganz leicht rötlicher Behaarung eine Krampfader sichtbar ist.

Vorstellung mit Reiserer-Franz. Als der dem Professor die Hand schüttelt, wird Enrico ganz blaß und beißt die Zähne in die Unterlippe, aber er gibt keinen Mucks von sich. Ich rechne ihm das hoch an, denn Franz’ Händedrücke kenne ich.

Franz zieht Susanne an sich und gibt der völlig Verblüfften einen Kuß. Dann klopft er sie kräftig auf den Po und grinst Enrico an: »Bleibt ja in der Familie!« Er läßt wirklich keine Pointe aus, der Hallodri! Heute ist sein großer Tag, denn viele Jahre seines Lebens hat er um Susanne gerungen, die ihn aber unverschämterweise nur für Hausarbeiten ausnutzte, die eigentlich sie hätte erledigen müssen. Eines Nachts versuchte Franzi zu kassieren, indem er in das Fenster stieg, hinter dem die Backfische Susanne und Margot schliefen. Wie er sich Margots Rolle bei diesem Schäferstündchen vorstellte, ist nie recht klargeworden. Vielleicht vertraute er übermäßig auf ihren festen Schlaf oder glaubte, es würde sie interessieren. Jedenfalls sagten ihm die jungen Damen mit Kleiderbügeln und Schuhabsätzen ihre Meinung, und er war schneller wieder draußen, als er hineingekrochen war. Seitdem war er wieder Susannes demütiger Sklave. Sie verzieh ihm, das kleine Biest, und ließ es sich gefallen. Erst als sie Marc heiratete, zog er sich zurück und baute aus Verzweiflung — er ist Maurer — ganz allein ein neues Stockwerk auf das Haus seiner Mutter. Heute nun hat man ihn aus der Mottenkiste geholt, und er kassiert mit männlichem Zynismus.

»Also, dann wollen wir mal!« sagt er, schwingt sich auf das Geländer der Brücke und ist mit einem prachtvollen Hechtsprung im Wasser. Man sieht seinen Körper wie einen Delphin durch die dunkelgrüne Tiefe gleiten.

»Ich spring’ auch vom Geländer«, sagt Susanne. »Professor, helfen Sie mir mal?«

Enrico taucht aus seiner durch Muskelprotzerei erzeugten Depression wieder auf und hilft. Erst faßt er Susanne um die Taille, aber sie erklärt ihm, das reiche nicht, er müsse tiefer anfassen, sonst käme sie ja nicht auf das Geländer. Enrico guckt einen Moment zweifelnd auf das kleine Popochen, und dann packt er sie an den Kniekehlen. »Nein, nicht doch!« kichert Susannchen. »Da falle ich ja vornüber! Direkt um die Hüfte.«

Enrico, der vom Anheben erheblich schwitzt, kneift ein Auge gegen mich zusammen, packt sie dann da, wo er sie eigentlich packen wollte — und sollte —, und stellt sie schließlich auf das Geländer. Eine Sekunde später ist sie mit einem Hechtsprung weg, der dem des Franz alle Ehre macht. Wir beide sehen uns an, Enrico zeigt auf das Geländer: »Bitte sehr, dem Alter der Vortritt! Aber wenn du glaubst, daß ich dich ‘raufhebe — ich bin nämlich beiderseits am Bruch operiert.«

»Ich spring’ überhaupt nicht«, sage ich. »Aber tauchen tue ich gern. Du auch?«

»Nein, nicht besonders«, meint Enrico. Dann kriecht er unter dem Geländer weg und springt direkt vom Steg senkrecht ab, indem er sich die Nase zuhält. Diese kindliche Veranstaltung macht er aber dadurch wett, daß er in einem sehr anständigen Kraulstil den beiden anderen nachschwimmt. Die haben inzwischen kehrtgemacht und legen sich in einigem Abstand vor die Treppe, die vom Steg ins Wasser führt.

»Jetzt kommt das Beste«, schreit Susanne, »der Colonel geht ins Wasser!«

»Er ist ein großer Taucher, hat er mir gesagt«, erklärt Enrico. Er hat sich etwas hinter Susanne gelegt und ist fieberhaft damit beschäftigt, mit den Fingern seine Haare so zu kämmen, daß man die Glatze nicht allzusehr sieht.

»Ja, tauchen kann er«, sagt Susanne, »aber erst muß er ja mal drin sein!«

»Pah!« mache ich und steige die beiden ersten Stufen hinunter, bleibe aber erstarrt dort stehen: »Das hält ja kein Mensch aus!«

»Sie müssen sich die Arme naß machen, Colonel!« rät der Franzi.

»Wie stellst du dir das vor, du dummer Kerl, dabei falle ich doch vornüber!«

Ich klammere mich an das Geländer und steige noch eine Stufe tiefer: »Eijeijeijeijei — am Knie ist ‘ne ganz besonders unangenehme Zone!«

»Na, nun mal weiter«, sagt Susanne und schlägt, auf dem Rücken liegend, mit den Füßen Schaum.

Ich beiße die Zähne zusammen und schaffe es bis zum Nabel. Dann wasche ich mir das Herz, mache die Augen zu und schippe mir Wasser ins Genick. »Na, nu hopp«, sagt Zimmermann, »noch die kleinen Ärmchen, und dann haben wir’s ja!«

»Gerade die Arme sind’s doch!« erwidere ich. »Ist das bei euch auch so?«

Alle drei versichern im Chor, daß es bei ihnen keineswegs so sei. Ich hole tief Atem und tauche dann mit einem Ruck weg. Eine Minute genau kann ich unter Wasser bleiben und bringe es fertig, mitten zwischen den dreien wieder an die Oberfläche zu kommen. Direkt unter Susanne, die ich an den Fußsohlen kitzele. Sie kreischt wie am Spieß.

»Wir hatten direkt Angst um Sie, Colonel!« sagt Franz.

»Alle Achtung!« meint Zimmermann.

Und dann schwimmen wir zu viert hinaus. Susannchen sprüht. Sie droht Franz mit dem Finger: »Na, wenn Margot erfährt, daß du wieder bei mir genassauert hast!«

»Na, und was ist dann?« fragt er kampflüstern.

»Ach so!« macht Susanne. »Du darfst — aber die anderen nicht!«

In Franz’ Gesicht kommt ein unheildrohendes Licht: »Den möchte ich mal erleben, der auf Margot Kurs nimmt!«

»Du bist wohl mit deiner Abzahlung fertig?« fragt Susanne spitz.

Und zu Zimmermann: »Beim letzten Schützenball hat’s einer versucht! Der lag dann fünf Wochen im Krankenhaus, und Franz mußte es zahlen! Dabei konnte der arme Kerl gar nichts dafür, Margot hatte ihn herausgefordert, das kleine Luder! Um Franz eifersüchtig zu machen!«

Zimmermann hustet, er hat Wasser geschluckt: »Tja, also...«, meint er zu Franz, »ich muß Frau — ich meine, ich muß der jungen Dame hier recht geben. Wenigstens vom juristischen Standpunkt aus — es ist natürlich eine Affekthandlung, aber andererseits, zivilrechtlich gesehen...«

»Ich werde mich jedenfalls an Sie wenden, Herr Professor«, erklärt Franz feierlich, »wenn ich den Nächsten zusammenschlage!«

»Was für ein himmlischer Tag«, sagt Enrico und legt sich auf den Rücken. »Seht mal die Wolken!«

Als wir heimkommen, sagt das Frauchen zu Susanne: »Marc hat angerufen!«

Sie zuckt nur die Achseln. Zimmermann zieht die Augenbrauen hoch.

»Wir trinken alle bei Bentlers drüben Kaffee, wenn’s euch recht ist, sie haben uns eingeladen«, sagt das Frauchen.

»Nur mich müssen Sie bitte entschuldigen«, sagt Franz, »ich habe noch zu tun. Ich geh’ nur noch schnell mit, um Margot zu sehen.«

»Was ist er denn von Beruf?« flüstert Enrico, als wir alle hintereinander hinüber zu Bentlers marschieren.

»Bauunternehmer«, sage ich.

Drüben große Vorstellung. Teddy und Zimmermann wissen offensichtlich nichts miteinander anzufangen. Je charmanter Enrico wird, desto hilfloser ist Teddy. Schließlich entfache ich ein Autogespräch, und da finden sie sich dann einigermaßen miteinander zurecht. Teddy geht sogar mit Enrico hinüber und sieht sich dessen Sportwagen an. Als sie durch die Diele kommen, nimmt Franz gerade rührenden Abschied von Margot. Er läßt sich auch in diesem Fall nichts entgehen und ist bemüht, Jahre des hoffnungslosen Darbens in wenigen Minuten wieder einzubringen. In der Küchentür lehnt Buddy, er ist ganz blaß vor Wut und hat ein Stück Holz zwischen den Zähnen, an dem er kaut. Ich stelle ihn Zimmermann vor: »Herr Peter X., einer deiner Schüler. Na, du wirst ihn ja kennen.«

»Natürlich, natürlich«, sagt Zimmermann abwesend und starrt auf die Abschiedsgruppe. Ganz ist er anscheinend doch noch nicht drüber weg!

Franz ist nur mit Mühe loszuwerden. Margot schiebt ihn von sich und sagt: »Also, Schatzi, arbeite schön!« Und als er daraufhin >noch einen letzten< haben will, klopft ihm Teddy auf die Schulter: »Als Vorschuß war das ausreichend, mein Lieber! ‘raus mit dir.«

Nach dem Kaffee wird der Beschluß gefaßt, gemeinsam in die Kreisstadt ins Kino zu fahren. Enrico nimmt Susanne in seinen Wagen, ich nehme außer Frauchen auch Margot und Buddy mit, Teddy und Addi fahren mit ihrem Wagen. Bevor Enrico zu Susanne einsteigt, nimmt er mich einen Moment beiseite: »ich bin dir sehr dankbar, ein wirklich bezauberndes Wesen! Das ganze Gegenteil von Margot. Wer ist übrigens der Junge, den du da mitnimmst, kommt mir irgendwie bekannt vor...«

»Wenn du nicht wie ein toter Schellfisch dauernd das Susannchen angestarrt hättest, würdest du gehört haben, was ich bei der Vorstellung sagte: Ein Kommilitone von Margot, einer deiner Schüler, Peter X., hoch begabt!«

»Aha — und wieso nennt ihr ihn Buddy?«

»Das ist noch so ‘n Ulk aus Kindertagen. Margot und er sind Jugendfreunde, wie alle von hier, auch der Reiserer-Franz.«

Enrico mustert Buddy, jetzt mit ausgesprochenem Wohlwollen: »Jugendfreund — hm und studieren auch zusammen — nett, wirklich nett. Ordentlicher Bursche, offenbar sehr intelligent.«

»Hoch begabt.«

»Sagtest du schon. Hm. Werde auf ihn achten. Wirkliche Begabungen heutzutage selten. Also — dann! Wer fährt voraus?«

»Ich, um den Weg zu zeigen. Dann du mit Susanne und hinterher die Eltern.«

»Ich lasse sie gern Vorfahren!«

»Das glaube ich, du Halunke! Sie passen auf, ob du bei der Fahrt beide Hände am Steuer behältst.«

»Na, erlaube mal! Das hängt ja von der kleinen Frau ab! Sie ist doch schließlich verheiratet, und ich würde niemals...«

»So ganz sicher bin ich nicht. Besser, ihr werdet von uns eingeklemmt.«

Seine Augen glänzen: »Nicht ganz sicher? Na, dann mal los!«

Die Kolonne setzt sich in Bewegung. Wir müssen durch das ganze Dorf, und im Rückspiegel sehe ich, wie Susanne Enrico die Sehenswürdigkeiten erklärt und zwischendurch nach verschiedenen Seiten grüßt. Seit Monaten sieht sie mal wieder wie die alte Susanne aus, und Enrico hat den Hammelblick des Mannes in den Anfangsstadien der Verliebtheit.

»Ich würde ja mehr auf die Straße sehen«, sagt das Frauchen hinter mir. »Beinah hättest du der alten Griesbäuerin den Buckel abgefahren.«

»Dann beobachte du mal die beiden«, sage ich. Und über die Schulter: »Übrigens, Buddy, er hat sich nach dir erkundigt. Alter Jugendfreund von Margot und hoch begabt, habe ich gesagt. Er hat’s glatt gefressen. Obendrein hast du also noch einen Stein im Brett bei ihm!«

»Jugendfreund — pah!« macht er.

»Du bist ein Esel!« erklärt Margot. »Solltest dich lieber beim Colonel bedanken, der das alles so für uns zusammenstrickt.«

»Hoffentlich läßt er nicht mal ‘ne Masche fallen«, meint Frauchen düster. Sie klappt ihre Sonnenblende herunter und beobachtet den nachfolgenden Sportwagen im Make-up-Spiegel.

Als wir vor dem Kino halten, entsteht eine große Debatte darüber, ob wir die Hunde im Wagen lassen oder mitnehmen sollen. Bentlers und Enrico plädieren dafür, sie mit hineinzunehmen, aber ich habe, besonders bei Enrico, das Gefühl, daß es sich um eine Geste der Höflichkeit handelt. Schließlich entscheiden wir: Weffi bleibt im Wagen, und Peter kommt mit, auf Frauchens Arm. Angesichts des Umstandes, daß das Stück nur wenige Besucher hat und wir alte Stammgäste sind, wird Peter sowohl an der Kasse wie von der Platzanweiserin überschwenglich begrüßt: »Ja, freilich können Sie ihn mit ‘reinnehmen, gnä’ Frau. So ein lieber Kerl, so ein kleiner, der geniert ja keinen.«

Peter rollt die Augen, und ich habe das deutliche Gefühl, als habe er diese Bemerkung verstanden und als Beleidigung aufgefaßt. — Wir sind ungefähr fünfzig oder sechzig Leute im ganzen Theater, aber alle durch den unergründlichen Willen der Platzanweiserin auf drei Reihen dicht zusammengedrängt. Offenbar ein Atavismus aus goldenen Tagen ausverkaufter Häuser.

Als erstes läuft ein Kulturfilm vom Leben im Meer. Ein ganz besonders guter Film übrigens. Man sieht die Geburt eines Delphins und Seesterne, die Muscheln öffnen, und Tintenfische, die die Seesterne fressen, und Fische, die die Tintenfische fressen, und Langusten, die mit großen Krebsen kämpfen.

Rechts neben mir sitzt Enrico und neben ihm Susanne. Zu Beginn der Vorstellung war da im Dunkeln irgendwas los mit den Händen von Enrico und Susanne, so daß sich Addi, die zu meiner Linken sitzt, ostentativ vorbeugte. Dann aber fesselt uns alle mehr und mehr dieser Film, diese fast überirdische Schönheit der Farben und der nur allzu irdische Kampf aller gegen alle. Sogar Peter, der neben Addi auf Frauchens Schoß hockt, richtet sich einmal auf und sieht sich mit schiefem Köpfchen diese seltsamen Tiere an. Dann gähnt er aber und kringelt sich wieder auf Frauchens Schoß zusammen.

Danach kommt ein Western. Als der Sheriff durch die Schwenktür in die Kneipe tritt und prompt von dem einäugigen Gaucho erschossen wird, springt Peter so hoch, daß er Frauchen unters Kinn stößt und ihre Zähne knacken. »Das geht nicht, Peter«, flüstert sie, »los, geh hier ‘runter — hier ‘runter, habe ich gesagt! Und ganz still — ganz still, sagt dein Frauchen!« Peter windet sich irgendwo in der Finsternis zwischen Frauchens Füßen zusammen, scheint sich aber dort der Bemerkung der Platzanweiserin zu entsinnen, daß so ein kleines Hündchen doch niemanden genieren könne. Jedenfalls tut er etwas — er dreht sein Ventil auf, und während der einsame Rancher mit einem Reservepferd am Seil die Spur der Sheriffmörder verfolgt, die hinter den Felsen auf ihn lauem, werden die Leute rings um Frauchen unruhig. Dann kommt die Geruchswelle auch zu mir. »Sauerei!« sagt ein unglaublich Breitschultriger und dreht sich nach hinten um. Eine meckrige Männerstimme antwortet: »Das ist gut, selber einen fahrenlassen und nachher schreien!«

»Mein Mann kann nichts dafür«, sagt ein — wie alle übrigen — nur undeutlich erkennbares weibliches Wesen neben dem Breitschultrigen, »er leidet an der Galle!«

»Geh, sei doch ruhig, Frau«, schnaubt der Dicke, »ich war’s doch gar nicht!«

»Ruhe!« ruft es von hinten, denn gerade jetzt hat man dem Rancher das Pferd unter dem Leib erschossen, und er entkommt dem sicheren Tod dadurch, daß er sich seitwärts in eine Furche fallen läßt, während rechts und links von ihm die kleinen Erdfontänen der Kugeleinschläge aufstieben.

Ich habe plötzlich, auf dem Weg über Addi, Peter in der Hand. »Gib die Stinkbombe nach rechts weiter!« flüstert Addi. »Sonst merken sie, daß wir’s sind!« Ich setze Peter auf Enricos Schoß und halte ihm (Enrico) gleichzeitig den Mund zu: »Gib ihn Susanne«, zische ich, »er pupt wie ‘n Waldesel!« Dann lasse ich die Hand von Enricos Mund.

»Warum?« fragt er laut. Sofort halte ich ihm erneut den Mund zu: »Weil er Knochen gefressen hat oder Schafdung. Ich glaube, es ist Schafdung, aber halt vor allem die Klappe!« Dies tut er dann auch endlich und reicht Peter an Susanne weiter, und dann beginnt irgendein Getue mit »Peterchen« und »armes Kleines« und »Verzeihung, Frau Susanne, ich dachte, ich hätte Peterchen in der Hand«, bis sich auch hier die Leute umdrehen.

Endlich reitet der einsame Rancher siegreich wieder in die Stadt ein. Er hat den einen Arm in der Schlinge und um den anderen ein Seil, an dem die noch nicht erschossenen Unholde traben.

Es wird hell, und wir lassen erst die anderen hinaus, damit sie nicht unser Peterchen und damit die Wahrheit entdecken. Vor dem Kino geht Peter in die Knie und tut das, was er schon längst vorher hätte tun sollen, während der aus dem Wagen gelassene Weffi das Plakat für den nächsten Film begießt.

Bei der Heimfahrt werden auf Wunsch von Addi die Plätze gewechselt. Ich setze mich zu Enrico in den Sportwagen, das Frauchen fährt meinen Wagen und hat Susanne, Margot und einen etwas — wegen Franz — schmollenden Buddy an Bord, außerdem die Hunde. Als Schluß folgen Addi und Teddy.

Eine Weile sitzen Enrico und ich schweigend im Wagen. Nur ab und zu breche ich die Stille, um ihn zu ermahnen: »Paß auf, der Fußgänger da im dunklen Mantel! Woran denkst du eigentlich? Und fahr nicht so dicht auf meinen Wagen auf! Ich kann diese Drei-Meter-Abstand-Idioten nicht leiden. Ich glaube, du merkst gar nicht, daß du am Steuer sitzt! Soll ich nicht lieber fahren?«

Auf diese letzte Bemerkung hin seufzt er herzzerbrechend: »Wie — was? Was meinst du? Nein, nein, ich fahr’ schon selber.« Und nach einer Weile: »Weißt du — diese Susanne... also, ich bin dir wirklich dankbar, daß du mir die Bekanntschaft der Bentlers vermittelt hast! Alles so nett und harmonisch. Hätte nicht gedacht, daß die peinliche Situation sich noch so reizend entwickeln würde. Ja — und was nun diese Susanne betrifft, ich muß dir sagen, sie hat das Bild der Frau in mir, die — also, ich meine, der Frau, die mir bestimmt ist, entscheidend umgeworfen!«

»Na, Gott sei Dank!« entschlüpft es mir. Worauf er mir in gänzlichem Mißverstehen die Hand auf den Arm legt: »Du bist ein richtiger Freund! Außerdem bist du eben lebenserfahrener, und ich geniere mich nicht zu lernen, immer noch zu lernen. Das ist meine Natur.«

»Und das gereicht dir nur zur Ehre, Enrico.« Diesmal meine ich es ganz ehrlich.

»Ja, also — um auf Susanne zurückzukommen: Weißt du, was ich erkannt habe?«

»Nein.«

»Man muß seine Ergänzung heiraten! Ich meine — Margot in allen Ehren, prachtvolles Mädchen, entzückend, alles, was du willst. Aber eben auch sehr intellektuell. Das bin ich selbst. Was ich brauche, ist Wärme, Hingabe, jemanden, der mich um meiner selbst willen liebt! Für den ich etwas bin, alles bin! Der Mann als Schicksal und so weiter. Und deshalb habe ich mich für Susanne entschieden!«

Ich hole tief Atem: »Ja — Augenblick mal! Schließlich ist sie ja verheiratet!«

»Noch, mein Lieber, noch! Aber innerlich ist sie fertig mit ihm. Da ist nichts mehr zwischen den beiden!«

»Du bist schon wieder auf drei Meter an meinen Wagen ‘ran! Außerdem wird er gleich bremsen, weil wir links abbiegen. Und drittens gibt’s ja zwischen Ehepaaren auch noch Versöhnungen und reumütige Rückkehr und all so was. Unterschätz die Bindungen nicht, vor allem bei Susanne. Schließlich war Marc ihr erster Mann überhaupt.«

»Dafür könnte ich ihm jetzt noch den Kragen umdrehen, diesem Lumpen!«

»Wink ab, es geht nach links! Außerdem ist da noch was.«

Er biegt links um und nimmt um zwei Zentimeter Abstand das Vorfahrtsschild mit. »Immer noch was?«

»Du solltest dich zusammennehmen. Schließlich kann ich nicht mehr, als mir Mühe um dich geben.«

Wieder habe ich seine Hand auf dem Arm: »Entschuldige!«

»Tu die Pfote ans Steuer.«

»Also, was ist da noch?«

»Da ist noch, daß du dir Addi noch nicht angesehen hast. Du weißt, daß ich dir die drei Haupttypen der Frau zeigen wollte, die für dich in Betracht kommen. Den intellektuellen Kameraden, das hundertprozentige Weib und die reife Frau. Das ist Addi. Da liegen auch noch große Möglichkeiten. Für dich vielleicht entscheidend. Und außerdem sind das alles nur Anschauungsstücke im Schaufenster für dich. Kaufen mußt du woanders, mein Lieber! Muß ich dir das noch mal sagen?«

»Ja, wo denn, um Himmels willen?«

»Das ist deine Sache.«

»Nein!« Er haut mit der Hand aufs Steuer: »Das ist deine Sache! Und du wirst es schaffen!«

»Gut«, sage ich ergeben, »ich werde mir wenigstens Mühe geben. Aber zunächst mach weiter die Augen auf.«

Das Abendessen findet bei uns statt. Es sind außer dem Reiserer-Franz alle dabei, also Addi, Teddy, Margot, Susanne und Buddy und wir sechs einschließlich Enrico und zwei Hunden<. Zu meiner Freude stelle ich fest, daß Enrico Hunde gern hat. Er tätschelt Weffchen und gibt ihm ein Stück rohen Schinken. Peterchen läßt sich zwar nicht von ihm anfassen, beobachtet ihn aber sehr aufmerksam und beschnüffelt ausführlich seine Hosenbeine. Weffchen hat direkt eine schwärmerische Zuneigung zu Enrico gefaßt und springt ihm, als wir nach dem Essen um den Rauchtisch sitzen, auf den Schoß. Enrico vergräbt die Nase in seinem Fell. Weffi gähnt begeistert, und Enrico schließt betäubt die Augen. »Merkwürdiger Geruch«, sagt er, als er sie wieder aufmacht, »woran erinnert er mich bloß...«

»Aus dem Fell riecht er nach Brathuhn«, sage ich.

Enrico lacht, Weffchen kringelt sich auf seinem Schoß zusammen, schmatzt ein paarmal und entschlummert sanft.

»Ja, überhaupt, die Tiere«, sagt Enrico. »Dieser Film, den wir vorhin gesehen haben, mit den Fischen...«

»Wieso Fische?« fragt Teddy.

Addi streichelt ihm über den Kopf: »Du hast geschlafen, Väterchen. Du bist erst wach geworden, als ich dir ‘n Schubs gab, weil der Hauptfilm anfing.«

»Ich weiß nicht, warum«, sagt das Frauchen, »aber mich hat dieser Film über die Fische schrecklich aufgeregt.«

»Wegen der Farben?« fragt Margot. »Die waren wirklich einzigartig, und wie schön diese Tiere alle sind!«

»Nein«, sagt das Frauchen, »nicht deswegen. Sondern weil sie sich alle gegenseitig fressen! Jedes dieser Wesen lebt doch ständig in Todesangst! Es muß morden, um leben zu können, und wird gemordet! Wie schrecklich!«

»Ja«, sage ich, »wenn sie wenigstens gleich tot wären. Aber so bei lebendigem Leibe Stück für Stück aufgefressen werden...«

»Wenn sie schreien könnten«, meint Frauchen, »wäre der ganze Ozean ein einziger Jammer- und Todesschrei.«

»Sie können schreien«, sagt Enrico. »Nur schreien sie auf einer anderen Wellenlänge. Es ist ja schon gelungen, ihre Laute im Radio zu übertragen.«

»Na, um so furchtbarer!« sagt das Frauchen.

Enrico zuckt die Achseln und streift gedankenvoll die Asche von seiner Zigarre: »Sind wir besser? So ein Kälbchen, so ein zauberhaftes! Ich esse besonders gern Kalbskoteletts.«

»Das ist es ja!« sagt Frauchen. »Da ist es ja! Deshalb habe ich doch gesagt, was für eine furchtbare Welt! Die ganze Welt ist nicht in Ordnung!«

Enrico zuckt abermals die Achseln: »Vergessen Sie nicht, gnädige Frau, daß das nur unsere Sicht dieser Welt ist. Physikalisch betrachtet sieht das alles ganz anders aus. Ein Fisch frißt einen anderen Fisch. Die ganze Materie besteht nur aus Atomschwärmen. Vielleicht gibt’s überhaupt keine Materie, sondern nur Energiefelder. Also zieht ein Energiefeld das andere an sich. Oder ein Atomschwarm nimmt den anderen in sich auf. Was ist dabei? Wenn Sie Wasser in ein Glas gießen, ist es genau dasselbe.«

»Aber Sie vergessen«, sagt Margot, »daß die Tiere Seelen haben, genau wie wir! Und daß sie Schmerz empfinden und Todesangst! Also, ich muß sagen, ich möchte am liebsten kein Fleisch mehr essen. Ich war’ schon längst Vegetarier geworden, wenn ich das Fleisch nicht brauchte. Aber offenbar brauchen wir es doch in unserem Klima, nicht wahr?«

»Natürlich brauchen wir es«, sagt Buddy. »Und auch das Vegetariertum würde dir nichts nutzen. Ich hab’ neulich in einer Fotozeitschrift Aufnahmen gesehen, Großaufnahmen von Blättern, da wurde gezeigt, daß diese Blätter mit Tausenden von Organen besetzt sind, die genau wie unsere Augen sehen! Wenn du also die Hand ausstreckst, um eine Blume abzupflücken, sieht sie deine Hand tausendfach auf sich zukommen!«

»Hör auf!« schreit Susanne. »Ich kann’s nicht mit anhören!« Und sie starrt auf den Strauß, der auf dem Meßgewänderschrank steht.

»Also?« fragt Enrico und blickt sich triumphierend um. »Was bleibt uns? Wir müssen verhungern oder anfangen, wissenschaftlich zu denken. Ich würde vorschlagen, wir tun das letztere, denn das ist doch offenbar das, was das Schicksal von uns will — wozu es uns erziehen will. Und die ganzen sentimentalen Bedenken sollten wir uns abgewöhnen.«

»Warum sagst du denn gar nichts?« fragt Addi mich.

»Hm... ich überlege die ganze Zeit. Ich glaube, unser Abscheu vor allem Töten sind Hinweise, Enrico. Das, worüber wir schon neulich bei Margot sprachen.«

»Du meinst die Doppelgeschlechtlichkeit und so? Gut, das sind deutliche körperliche Hinweise, ich hab’s ja auch nicht bestritten. Aber in diesem Fall — wo sind da die Hinweise?«

»Nun, ich meine, sie bestehen darin, daß wir diese Dinge als unnatürlich empfinden! Und daß wir uns nicht damit abfinden können! Wir können uns nicht mit dem Tod abfinden, sondern höchstens einen faulen Zwangskompromiß mit etwas Unbegreiflichem schließen. Wir können uns mit dem Altem nicht abfinden, besonders die Frauen nicht, die darin noch den viel ungebrocheneren Instinkt haben, du kannst es auch Hellsichtigkeit nennen. Und wir können uns nicht damit abfinden, daß es überall, im kleinsten Dorf, Schlachthäuser gibt, in denen man Tiere umbringt und das Blut fließt und Todesangst in jeder Ecke sitzt. Wir schließen die Augen davor, weil’s eben angeblich nicht anders geht. Aber uns damit abfinden, es als selbstverständlich und richtig und gar nicht anders möglich betrachten — das können wir trotzdem nicht! Das kannst du auch nicht, wenn du ehrlich bist.«

»Na gut, nehmen wir mal an, es wäre so. Was beweist das?«

»Es beweist, daß wir irgendwann mal einen todlosen Zustand erlebt haben. Eine Welt, in der nicht einer vom anderen, sondern direkt aus sich heraus oder aus astralen Energieströmen oder aus sonst irgendwas lebte.«

»Mit einem Wort, das Paradies?«

»Mit einem Wort, das Paradies. Ja. Und ich glaube, daß wir nach dem großen Gesetz der Entwicklungsspirale eines Tages dorthin zurückkehren werden. Und daß Gott das will. Und daß er uns deshalb dauernd stößt und an unserem Gewissen rüttelt, uns allmählich immer feinfühliger macht, immer empfindlicher für dieses Fressen aller von allen.«

»Und dann?« sagt Buddy. »Dann lassen wir so ‘n paar Neutronen- oder Wasserstoffbömbchen los, aus lauter Feinfühligkeit!«

»Das hat damit nichts zu tun«, sagt Teddy mit merkwürdiger Heftigkeit. »Das sind Unglücksfälle! Mal entgleist ein Zug, mal explodiert ein Flugzeug. Deshalb fahren und fliegen wir trotzdem weiter. Und wenn es unserer Menschheit gelingt, sich und alles sonstige Leben auf dieser Erde auszubrennen, wird eine andere Menschheit auf einem anderen Planeten da weitermachen, wo wir aufgehört haben.«

Enrico sieht uns alle der Reihe nach an: »Ich wünschte, ich könnte dran glauben! Ich hätt’s dann nicht mehr so bequem mit < mir wie jetzt, aber es wäre vielleicht besser.«

Worauf Teddy gewaltig gähnt und sich dann dafür bei Enrico entschuldigt.

»Ich glaube, wir machen jetzt Schluß«, meint Addi. Und zu Enrico: »Mein Mann hatte nämlich vor einem Jahr einen Herzinfarkt, und wir müssen noch sehr vorsichtig sein. Aber es war ein wunderschöner Abend, und man hat endlich mal wieder ernsthaft gesprochen. Ich danke Ihnen sehr dafür!«

Worauf Enrico aufspringt und ihr die Hand küßt: »Ich habe Ihnen zu danken, gnädige Frau!«

Dann fährt er zu Frauchen und der Mama herum: »Und vor allem Ihnen, meine Damen!«

Das Frauchen wehrt ab: »Reden Sie keinen Unsinn.« Und zu mir: »Wo soll er denn schlafen?«

Enrico ist ganz entrüstet: »Aber ich bitte Sie, Verehrteste, ich kann doch unmöglich...«

»Ganz recht«, sagt das Frauchen, »Sie können unmöglich — nämlich mit Ihrem Alkoholgehalt heimfahren. Wir haben ein Gastzimmer, es ist allerdings etwas klein.«

»Er kann auf meiner Couch schlafen«, biete ich an. Aber Enrico lehnt entschieden ab. Und so bleibt es denn beim Gastzimmer, das im Oberstock gegenüber dem Zimmer der Mama liegt.