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Die Ruhe dauert genau vier Stunden. Dann, als ich gerade so richtig im Zuge bin, rauscht ein alter Dreihunderter Mercedes vor unsere Tür. Ein mir nicht unbekannter grauhaariger Chauffeur rennt um den Wagen herum, reißt den Schlag auf, dem majestätisch Adele alias Marcs Mutter entsteigt. Mein Frauenvolk hat es auch gleich gemerkt und kommt die Treppe heruntergeflattert.

»Also ich rede nicht mit der Schreckschraube!« erklärt das Frauchen. »Ich habe genug!«

»Ich mache auf«, sagt die Mama.

»Nimm die Küchenschürze ab!« ruft das Frauchen hinter ihr her, aber die Mama ist schon weg. An der Haustür hören wir Adeles Baßstimme: »Wollen Sie mich bitte Herrn Bentz melden.«

Das Frauchen stöhnt nur noch: »Sie hält die Mama für unser Dienstmädchen! Das geschieht ihr recht. Aber ich verschwinde trotzdem.« Und damit ist sie weg — durch die Terrassentür.

Ich starre auf die Tür, und mir ist gar nicht wohl. Wie benehme ich mich, wenn der alte Drachen mich gar nicht zu Wort kommen läßt, sondern seinen Schirm auf mir zerbricht, weil Susannchen ihr erzählt hat, daß ich ihren Zuckerbubi vermöbelt hätte? Hat sie übrigens einen Schirm bei sich — darauf habe ich nicht geachtet. Plötzlich bekomme ich eine Wut auf diese ganze Weiberwirtschaft, die mich nur von der Arbeit abhält. Dann klopft es an die Tür — ziemlich zaghaft. Das muß der Drachen sein. Die Mama hätte nicht geklopft. Also kann ich mir einen Pluspunkt sichern.

»Was ist denn mm schon wieder los?« frage ich unwirsch, »und seit wann klopfst du an?«

Die Tür öffnet sich, und es ist Adele, eine ausgesprochen schüchterne Adele, die von dem Anblick >mitten im Schaffen gestörter Autor hinter Danziger Barocktisch< sichtlich beeindruckt ist.

Ich springe auf, zeige mich von meiner galantesten Seite, hole den Hennessy aus dem alten Florentiner Schrank, gieße ein und versichere ihr, daß ich auf das freudigste überrascht sei.

»Das ist gelogen«, erwidert sie. »Aber den Hennessy trinke ich trotzdem, und der Schrank da ist sehr schön. Auch der Schreibtisch.«

Ich erkläre ihr, daß diese beiden und noch eine Ulmer Meßgewändertruhe im ersten Stock die einzigen Stücke seien, die wir vor den Bomben gerettet hätten. Sie hört sich das ziemlich zerstreut an, während sie keinen Blick von meinem Gesicht läßt. Dann schießt sie in ihrem tiefsten Baß los wie ein Gangster, der durch die Jackentasche feuert:

»Als die beiden sich das Haus bauten, dachte ich, daß ich mich in Susanne geirrt hätte und sie nicht eine kleine, süße, sanfte Gans sei, sondern ein Biest, das mir doch meinen Sohn stehlen wollte, wie ich von Anfang an gefürchtet hatte. Eben war sie bei mir und hat mir alles erzählt. Danach glaube ich nicht mehr, daß sie ein Biest ist, sondern wirklich eine süße, sanfte Gans. Mein Marc dagegen ist nichts weiter als ein kleines Hähnchen, das vor Stolz hintenüber gefallen ist, weil er sich ein nettes Mädel angebändigt hat. Darauf ist er anscheinend endgültig größenwahnsinnig geworden und mit dieser Teegebäcks-Schlange in die Buntkarierten gegangen. Susannchen war außer sich, daß Sie ihm daraufhin eine geklebt haben, und beweist damit wenigstens, daß sie ihn aufrichtig liebt. Ich meinerseits möchte Ihnen meinen Dank dafür aussprechen, daß Sie ihm eine blutige Nase verschafft haben! Vielleicht bringt ihn das zur Besinnung.«

»Aber ich habe ihm gar keine blutige Nase verschafft!«

»Waaas?«

Ich erzähle den wahren Sachverhalt, und sie ist sichtlich enttäuscht und verwirrt, worauf ich ihr noch einen eingieße. Sie kippt den Hennessy zerstreut hinter den mit Fischbein verstärkten Kragen und blinzelt mir plötzlich listig-hoffnungsvoll zu:

»Sehen Sie mal an, wie man sich täuschen kann! Dann ist womöglich dieses — dieses andere auch nicht wahr und ganz harmlos? Warum soll er nicht mal mit dieser Frau ins Kino gehen, wenn sie...«

»Leider nein.«

Die Säcke unter ihren Augen vertiefen sich: »Nicht?«

»Nein.«

»Sie hat mit ihm...«

»Oder er mit ihr; wie Sie wollen.«

Sie zupft an ihren Handschuhen. Erst jetzt sehe ich, daß sie welche trägt und eine abnorm große Schlangenledertasche auf ihrem Schoß liegt. Eine Weile schweigen wir. Dann sagt sie mit einem Anflug von früherer majestätischer Herablassung: »Ich werde mir den Bengel vornehmen. Es ist mir schwer genug gefallen, ihn Susanne zu überlassen. Sie haben keine Kinder und können deshalb nicht wissen, daß — ich meine, die Trennung von einem Kinde ist — ist für die Mutter erheblich schmerzhafter als die schmerzhafteste Geburt.«

»Vergessen Sie nicht, daß Susanne auch eine Mutter hat, die ihre Tochter einem Mann geben mußte, den sie im Grunde kaum kannte.«

»Frau Bentler hat zwei Kinder!«

»Dann wird sie diesen Schmerz zweimal durchmachen müssen, und bei Margot wird es noch ärger für sie sein — nach den Erfahrungen Susannes mit Marc.«

Sie sackt wieder in sich zusammen, greift tief in Gedanken nach der Flasche und gießt sich noch einen ganz großen ein. Dann, als sie wieder zu sich kommt, errötet sie und sieht ganz reizend dabei aus. Sie bemerkt meinen Blick und wird noch röter: »Verzeihen Sie einer alten Frau diese Formlosigkeit.«

»Das, was wir hier treiben, ist nur auf diese Weise zu erledigen. Kriege ich auch noch einen? Aber nur einen kleinen.«

Sie lacht und gießt mir ein: »Übrigens habe ich inzwischen wirklich Ihre Bücher gelesen. Damals, als ich es bei meinem ersten Treffen mit Ihnen behauptete, war es nur die übliche konventionelle Wichtigmacherei, die wir nötig zu haben glauben, wir (tiefster Baß), deren Leben hohl und sinnlos geworden ist. Was wollte ich noch sagen — ja, also, aus diesen Büchern kenne ich Sie so gut, als ob wir seit Jahren...«

»Gute Freunde wären.«

In ihrem Blick ist die alte Schärfe: »Sind wir es?«

»Wir sind es.«

»Dann sagen Sie mir, was Sie davon halten, daß ich mir meinen Herrn Sohn vornehmen will.«

»Gar nichts.«

»Gar nichts — und warum?«

»Weil es ihn nur noch tiefer in diese unglückselige Affäre mit der gelangweilten Witwe treiben würde.«

Nun ist sie ganz ratlos: »Aber wie kommt er denn, um Gottes willen, dazu? Wer ist dran schuld — Susanne?«

»Nein. Sie.«

»Ich???«

»Sie.«

»Wollen Sie mir vielleicht erklären, warum?«

»Gern. Zunächst haben Sie ihn daran gehindert, vor der Ehe die nötigen Erfahrungen zu sammeln.«

»Aber ich habe niemals...«

»Die Kammerzofe!«

»Sie — ach so. Hm. Weiter.«

»Gut, weiter: bei unserem guten Susannchen konnte er sie auch nicht sammeln, denn sie ist, wie ich weiß, unberührt in die Ehe gekommen. Diese Situation hat ihn gegenüber den Verführungskünsten einer reifen Frau natürlich besonders verwundbar gemacht, und jetzt hängt er an ihr — erotisch — und noch in anderer Beziehung.«

»Bin ich etwa auch daran schuld?«

»Ja.«

»Ja — ja! Immer nur ja! Junger Mann, sind Sie sich darüber klar, daß Sie schlimmer sind als mein Zahnarzt?«

»Es tut mir von Herzen leid, daß ich Ihnen — hm — einige Zähne ziehen muß. Aber wie wär’s mit noch einem Gläschen?«

Sie schiebt meine Hand heftig zur Seite: »Nein, das hier ist viel zu wichtig. Ich warte darauf, daß Sie irgendeinen Unsinn reden und ich Ihnen auch mal was auswischen kann. Weiter!«

»Sie haben Marc nicht nur von den notwendigen Erfahrungen ferngehalten, sondern ihn auch fühlen lassen, daß er ein reicher Junge ist — aber nur, wenn er pariert. Goldener Käfig, mit zwei Worten. Das hat ihn zu der frühen Ehe getrieben und zum Auszug aus Ihrem Haus und zum Bau des eigenen Hauses und dazu, daß er sich dabei übernahm und nun an dieser Frau hängt, nicht nur erotisch, sondern weil er ohne ihre Empfehlungen und Honorare auf dem trockenen säße.«

Sie hat ihre Riesentasche geöffnet und sich die Nase geputzt. Jetzt schließt sie die Tasche mit einem Knall: »Ah — das ist gut, was Sie da sagen! Es gibt also eine ganz einfache Lösung. Ich stelle ihm — ohne Bedingung diesmal — alles Geld zur Verfügung, das er braucht, ich kaufe ihn einfach los von dieser Keks-Schlange.«

»Geht nicht.«

»Nicht?«

»Nein. Tut mir furchtbar leid. Sie haben einen Punkt übersehen: im Grunde liebt er doch Susanne, das ist mir bei der Aussprache mit ihm vollkommen klargeworden. Und alles, was er angestellt hat, tat er im Grunde nur, um ihr zu beweisen, daß er auch allein weiterkommt und ein richtiger Mann ist — und kein Muttersöhnchen.«

»Muttersöhnchen — Muttersöhnchen — Sie schenken mir aber auch gar nichts, Herr Zahnarzt! Und wie soll es weitergehen — wenn alles nicht geht?«

»Zunächst sollte man meiner Ansicht nach nur abwarten. Vielleicht passiert gar nichts. Vielleicht wird der Vamp seiner müde und sucht sich ein anderes Spielzeug. Oder es passiert ganz was anderes, woran wir überhaupt nicht denken. Das Schicksal hat ja tausend Wege und tausend Türen, die es auf- und zumachen kann. Vielleicht kann man auch etwas nachhelfen, ich habe keine Ahnung, wie — aber vielleicht...«

»Das ist ziemlich lahm, Herr Zahnarzt. Muttersöhnchen! Haben Sie eigentlich noch eine Mutter?«

»Ja, Gott sei Dank. Sie hat Ihnen vorhin die Tür aufgemacht — in der Schürze, was ihr streng verboten ist und was sie deshalb bei jeder Gelegenheit tut.«

»Das war — oh, das ist mir außerordentlich peinlich, und ich bitte Sie...«

»Wie konnten Sie das wissen? Ich habe also eine Mutter.«

»Und es freut mich, daß Sie meine Frage eben mit Gott sei Dank beantwortet haben. Aus Ihren Büchern kenne ich sie nur als eine sehr sympathische Figur, von der ich aber leider nicht wußte, ob sie wirklich existiert. Haben Sie immer mit Ihrer Mutter gelebt?«

»Nein, erst seitdem sie ausgebombt wurde.«

»Das ist lange her. Sie verdienen gut. Haben Sie niemals versucht, den früheren Zustand wiederherzustellen und ihr eine eigene Wohnung einzurichten?«

»Inzwischen war ich alt genug, um zu verstehen, was eine Mutter ist.«

Es blitzt in ihren Augen auf: »Ah!«

»Sie hat aber nie den Versuch gemacht, mir ihren Willen aufzuzwingen.«

»Danke!«

»Bitte.«

Sie zupft an ihren Handschuhen. Dann fragt sie mich mit dem kläglichen Versuch eines Lächelns: »Glauben Sie, daß Marc — daß die beiden auch mal einsehen werden — was eine Mutter ist?«

»Da es gute und normale Menschen sind, halte ich es für wahrscheinlich... Wenn Sie warten können, bis es in Freiheit geschieht, und wenn Sie nicht versuchen, sie durch Mitleid oder sonstige Pathetik zu erpressen.«

In ihren Augen flammt es wieder auf; der Blick einer zum Sprung gekauerten Löwin. Aber es gelingt mir, diesem Blick standzuhalten, bis sie als erste die Augen senkt. »Sie haben einer alten Frau ganz hübsch die Jacke vollgehauen, junger Mann!«

»Ich bin kein junger Mann — und Sie sind keine alte Frau. Sie sind ja noch nicht mal Großmutter.«

Sie horcht diesem letzten Satz nach wie einer ganz leisen Melodie der Verheißung: »Glauben Sie, daß die beiden, wenn mal was Kleines da ist und Susanne selber Mutter ist...?«

»Wenn Sie nicht versuchen, ihnen vorzuschreiben, wie sie ihr Kind erziehen sollen.«

»Sie schenken mir aber auch gar nichts!«

»Halten Sie Lügen für Geschenke?«

»Verzeihen Sie, ich war undankbar. Ich habe Ihnen so viel von Ihrer kostbaren Zeit...« Sie steht auf. Ich küsse ihr die Hand und tue es mit voller Genugtuung: »Es war mir eine Ehre und ein Vergnügen.«

Als ich sie hinausbegleite, kommt die Mama zum Abschied herunter. Sie hat sich umgezogen und trägt die große goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft, die mein Urgroßvater vom alten Kaiser Wilhelm verliehen bekommen hat: »Kommen Sie noch zu uns hinauf«, sagt sie. »Wir haben sicher mehr Verständnis für Ihre Probleme als mein Filius.«

Die Adele-Augen sehen mich nachdenklich an, dann wendet sie sich meiner Mutter zu: »Sie sind sehr gütig, gnädige Frau, aber Ihr Sohn hat, glaube ich, als Mann durchaus verstanden, was ich nötig hatte. Und das hat er mir in reichlichem Maße verabfolgt.« Sie hält mir noch einmal die Hand hin: »Wenn Sie sich gelegentlich überzeugen wollen, ob Ihre Medizin gewirkt hat — Sie sind immer willkommen!«

Ich öffne ihr die Tür: »Seien Sie vorsichtig, ich nehme Sie beim Wort!«

Gerade habe ich der Mama und dem Frauchen ausführlich über meine Aussprachen mit Marc und seiner Mutter Bericht erstattet, als Susanne erscheint, eine etwas verlegene Susanne. Sie wird von den beiden Frauen mit Wermut und zarter Rücksicht behandelt, während ich mich innerlich zunehmend fuchse. Schließlich sehe ich auf die Uhr: »Kinder, es ist gleich sieben. Wir wollen Abendbrot essen, und dann will ich noch arbeiten. Ist was Besonderes, Susanne?«

Sie schlägt ein Paar Engelaugen zu mir auf: »Kannst du dir nicht denken, Colonel, daß ich neugierig bin? Ich habe inzwischen mit Mama, ich meine mit Marcs Mama, telefoniert, aber sie konnte mir natürlich nicht alles erzählen, vor allem nicht, was du mit Marc besprochen hast!«

»Aber sie hat dir doch sicher erzählt, daß ich ihm keine blutige Nase verschafft habe, sondern unser Zerreißwolf.«

»Ja, aber..,«

»Na und?«

Sie sieht mich verständnislos an, errötet dann: »Ich glaube, ich muß mich entschuldigen, Colonel.«

»Gott, laß doch das Kind!« sagt das Frauchen. »In seiner Situation... Komm, mein Liebes, wir gehen ‘rauf, und ich werde dir alles erzählen.«

»Dein gutes Herz in Ehren, Frauchen«, sage ich, »aber das wirst du nicht tun.« Und zu Susanne: »Ich möchte dir nämlich sagen, du kleine Gans, daß ich dein Benehmen mir gegenüber heute morgen einfach widerlich fand! Fast zwanzig Jahre deines Lebens bin ich dein Freund gewesen — oder nicht?«

»Ja.« Sie ist ganz entsetzt.

»Und das war manchmal nicht leicht für mich, wie du sehr wohl weißt.«

»Ja.«

»Und das hat mir nicht mal so viel Kredit bei dir eingebracht, daß du meine Erklärung anhören konntest? Da kann man Jahre — Jahrzehnte in einen Menschen Gutes hineinpumpen — es ist alles selbstverständlich. Aber wehe, wenn du dann einmal was tust, was vielleicht nicht nach seinem Geschmack ist. Gleich schmeißt man dich in den Mülleimer. Du erfährst heute kein Wort, schmorst die Nacht über, und morgen vormittag nach dem Frühstück kannst du ‘rüberkommen, und wir werden miteinander sprechen. Das Palaver ist aus!«

Während meine eigene Belegschaft mich verwirrt anstarrt, steht Susanne auf: »Ich komme morgen, Colonel. Darf ich dir jetzt wenigstens einen Kuß geben?«

»Du weißt genau, daß das meine schwache Stelle ist, du kleines Luder.« Ich gebe ihr einen Kuß, sie verabschiedet sich von den beiden Frauen und geht.

Eine Weile bleiben wir schweigend. Dann sagt das Frauchen: »Du zitierst immer Buddha: die Güte, die herzerlösende! Das, was du eben getan hast...«

»Das, was ich eben getan habe, war das beste, was ich ihr antun konnte, und ich hoffe nur, daß es ihr eine Lehre fürs ganze Leben ist. Im übrigen ist das, was ich ihr zu erzählen habe, wie ihr wißt, keineswegs herzerlösend.«