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Nach dieser Explosion des Falles Marc tritt, sehr zu meiner Erleichterung, eine Windstille ein, die über drei Monate dauert. Marc sehe ich nicht mehr. Es heißt, daß er meist bei dieser Frau ist und offenbar auch schon weitere Aufträge durch sie bekommen hat, denn daheim arbeitet er wie ein Verrückter bis tief in die Nacht hinein. Susanne hält sich meist bei ihren Eltern auf, kommt aber nicht mehr auf das Thema zurück. Nur manchmal kann ich nicht umhin zu bemerken, daß ihre Augen verweint sind. Ich bemühe mich, das zu übersehen, weil ich ja doch nicht helfen kann. Für ein paar Wochen wollte sie zu Margot in die Stadt ziehen, kam jedoch schon nach drei Tagen wieder zurück, weil sie nicht im Wege sein wollte. Wir alle wußten natürlich, daß ihr das Liebesglück Margots mit ihrem Buddy auf die Nerven gefallen war. Addi schickte sie daraufhin zu einer Freundin, deren Mann sie mit zwei kleinen Kindern sitzengelassen hatte; aber auch von dort kam sie schon nach zwei Wochen wieder nach Hause zurück. Sie könne es nicht aushalten, wie diese Frau auf die Männer im allgemeinen und im besonderen schimpfe.

Wenn Margot kommt, bezaubernd und strahlend vor Glück und Jugend, redet sie immer auf Susanne ein, sich scheiden zu lassen. Nie würde etwas aus dieser Ehe mit dem verklemmten Muttersöhnchen. Selbst Marcs Mutter, der alte Drachen, die Susanne jetzt fast mehr liebt als den eigenen Sohn, rät ihr zur Scheidung und hat ihr angeboten, dann bei ihr zu wohnen und ihre Erbin zu werden. Auf jeden Fall werde sie im Falle einer Scheidung von dem für immer verlorenen Sohn für eine anständige Abfindung geradestehen. Sie solle dadurch für ihr weiteres Leben von dem verdammten Männervolk unabhängig sein. Bei dieser Unterredung hat sie, wie mir Susanne erzählte, eine Reihe von klassischen Vergleichen in bezug auf ihren Sohn gebraucht, angefangen von Tannhäuser im Venusberg bis zur Circe, die die Männer in Schweine verwandelte. Ich mußte Susannchen, deren Weg durch die Schule ebenso qualvoll wie unergiebig war, erklären, was es mit Circe und Tannhäuser auf sich hatte. Nach erfolgter Aufklärung zeigte sie aber keinerlei Reaktion! Sie liebt ihren Marc offenbar trotz allem und mehr denn je. Sie leidet und wartet, aber sie bemüht sich tapfer, den anderen nicht damit auf den Wecker zu fallen.

Teddy, ihrem Vater, ging diese Geschichte derart auf die Nerven, daß er vor vierzehn Tagen erklärte, er wisse genau Bescheid, obwohl man es seines Herzens wegen vor ihm geheimhalte. Selbiges Herz sei aber jetzt wieder soweit hergestellt, daß er in der Lage wäre, diesen Schlawiner Marc aufzusuchen, und zwar genau dann, wenn er bei seiner Circe sei. Dort werde er dann die Inneneinrichtung weitgehend abmontieren, den Kerl bei den Ohren nehmen und ihn nach Hause schleifen. Addi, die sein gerötetes Gesicht während dieser Ansprache mit der größten Unruhe betrachtet hatte, arbeitete erst mal mit Beruhigungspillen und zusätzlich mit dem Hinweis, daß solch eine Gewaltlösung Marc nichts nütze, dafür aber der armen Susanne das Leben nur noch schwerer machen würde. Als auch das nichts fruchtete, spielte sie auf ein Ereignis in der Frühzeit ihrer eigenen Ehe an, worauf Teddy sofort und total ruhig wurde und hinausging. Ich folgte ihm und fand ihn auf der Gartenbank.

»Nanu«, sagte ich, »davon wußte ich ja gar nichts! Plättest deinem besten Freund ruhig mal was zum besten geben können.«

»Hatte es doch selbst total vergessen«, grunzte er aus seinem gewaltigen Brustkasten. »Aber so ‘n Weib hat ja ‘n Gedächtnis wie ‘ne Schallplatte. Besonders für so was.« Nach einer Weile legte er mir die dicke Pranke auf den Schenkel: »War ‘ne unscheinbare, kleine Frau, hättste ihr nie im Leben angesehen! Aber die hatte was auf dem Kasten, Junge, Junge!«

Am nächsten Tag, als Frauchen unter Mitnahme Peterles zum Friseur gefahren war, setzte sich Addi zu mir an Cockis Grab. Eine Weile druckste sie herum, und es stellte sich schließlich heraus, daß ihr die Enthüllung aus ihrem Eheleben unangenehm war. Vielleicht hatte Teddy — Angriff ist die beste Verteidigung — ihr Vorwürfe gemacht, aber vielleicht geschah es auch aus eigener Initiative.

Jedenfalls platzte sie mitten in einem konventionellen Gespräch über Blumen, Peter und Dauerwellen heraus: »Das war gemein von mir, gestern.«

»Was denn?«

»Ach, spiel doch nicht Theater. Du weißt genau, was. Ich war mal wieder nicht Frau, sondern gereizte Henne, die sich vor ihr Küken stellt.«

»Ist das nicht natürlich?«

»Zu natürlich, Hannes, zum Kotzen natürlich. Wir sollten aber doch etwas über das nur Natürliche hinauswachsen. Für eine richtige Frau sollte zuerst immer der Mann kommen, auch wenn noch so viele Kinder dazukommen. Ich habe neulich mal darüber von einem Professor gelesen, sehr interessant. Der sagte, daß meist mit dem ersten Kind schon die wirkliche Ehe aufhöre. Ist was Wahres dran!«

»Bereust du denn, daß du Susanne und Margot hast?«

»Bereust du, daß du keine Kinder hast?«

»Nicht unbedingt. In meinen schwarzen Stunden komme ich mir allerdings manchmal vor wie ein Schnorrer, der keinen Eintritt im Lebens-Theater gezahlt hat.«

»Aber fehlen tun dir die Kinder nicht?«

»Nein. Außerdem habe ich ja deine beiden.«

»Allerdings! Mir kommt es manchmal so vor, als ob du sie mehr hast als wir. Womit wir wieder bei Susanne wären. Was hältst du denn von der ganzen Sache? Du hast doch so viel über die Verbesserung der menschlichen Beziehungen geschrieben. Oder war das nur so Geschreibsel?«

»Nein.«

»Also, was ist denn dein Rezept für den Fall Susanne?«

»Es gibt allgemeine Richtlinien, die aber keinesfalls für jeden Fall angewandt werden können.«

»Also, schieß los mit deinen allgemeinen Richtlinien!«

»Die sind von kompetenterer Seite seit langem entwickelt worden, und ich wundere mich nur, daß sie in fast mysteriöser Weise nicht weiteren Kreisen bekannt sind, vor allem nicht den durchschnittlichen Ehepaaren... Da wäre zunächst mal die Tatsache, daß das Verhältnis der Ehepartner — wie alles in diesem ulkigen Universum — dem Gesetz der Welle unterliegt, das heißt: es folgen in ziemlich regelmäßigen Abständen Perioden der Annäherung und Abstoßung, der innigen Sympathie und der Ablehnung. Wenn einer der Partner wieder mal in solch ein Wellental gerät und eine Weile >fremdelt<, sollte der andere nicht gleich einen Seitensprung oder das Ende der Liebe vermuten. Ferner sollte der Mann unbedingt wissen, daß ihr vor euren kritischen Tagen mehr oder weniger ausschlagt. Ist es mal wieder soweit, sollte der Mann sich den Mantelkragen hochklappen und ins nächste Wirtshaus oder zu einem Freund gehen, statt daß er es vielleicht zu einem Krach kommen läßt. Und krachen, liebe Addi, sollte man sich so selten wie möglich, obwohl man im allgemeinen Ehekräche für ganz normal oder sogar gesund hält. Glaube mir, jeder Krach läßt einen feinen Riß im Herzen zurück, und eines Tages klafft die große Wunde, sehr oft nicht nur im psychischen, sondern auch im physischen Sinne. Ich möchte nicht wissen, wie viele Herzinfarkte auf diese Ehekräche als tödliche Mehrbelastung zum ohnehin harten Lebenskampf kommen! Ferner sollten beide Teile wissen, daß die weibliche erotische Erregungskurve anders verläuft als die des Mannes und daß es hauptsächlich seine Sache ist, beide auf einen Nenner zu bringen, damit beide Partner glücklich werden. Ferner sollte die Frau wissen, daß jede Kritik an den erotischen Eigenschaften des Mannes ihn nicht nur impotent machen kann — wenigstens ihr gegenüber —, sondern daß sie darüber hinaus sein ganzes psychisches Kraftwerk durch Kurzschluß zerstören kann. Im Grunde aber hat das alles ja so ‘n Bart!«

»Das kann man wohl flüstern«, erklärt Addi großartig.

»Hast du deinen Töchtern davon erzählt oder deinem Schwiegersohn?«

Sie kaut nachdenklich und verlegen an einem Grashalm.

»Nein. Ich habe natürlich van de Velde gelesen und den Kinsey-Report, aber — es war für mich mehr... mehr Literatur. So im Zusammenhang habe ich’s noch nicht gesehen und auch nicht praktisch angewandt.«

»Wenigstens bist du ehrlich. Das ist aber auch alles, was man zu diesem Geständnis sagen kann, mein liebes kleines Huhn! Deshalb kommt ja die Menschheit nicht weiter, weil sie ihre Erfahrungen auf diesem wichtigsten Gebiet nicht weitergibt! Papa geniert sich, die Mama geniert sich, und sehr oft wissen auch alle beide nicht mal Bescheid, weil Großpapa und Großmama auch so dumm waren oder sich ebenso genierten. So kommt es dann, daß zwar die Bazillen lernen, wie sie sich gegen Penizillin schützen können, aber die Menschen stürzen sich Generation um Generation mit der gleichen Ahnungslosigkeit in das größte Abenteuer des Lebens, in die Ehe!«

Eine kleine Weile schluckte sie an dieser Lektion, während ich ihre wunderschönen dunkelbraunen Beine auf dem Liegestuhl bewunderte.

Dann sagte sie: »Trotzdem muß ich dich mit der Beharrlichkeit einer echten Henne fragen: Wie heißt nun dein Rezept für Susanne?«

»Abwarten. Der Film muß ablaufen. Es muß zwischen den beiden zu einem natürlichen Ende kommen.«

»Und wie stellst du dir dieses >natürliche Ende< vor?«

»Indem ihn dieses Weib ‘rausschmeißt, weil er ihr zu langweilig wird.«

»Und wenn er’s aber nun nicht wird?«

»Dann soll es so sein, und Susannchen wird dann bestimmt einen besseren finden, vorausgesetzt, daß sie sich nicht vorher noch ein Kind andrehen läßt. Aber dafür zu sorgen wäre nun genau deine Aufgabe. Rede endlich Deutsch mit ihr, geliebte Henne! Ich habe sie zwar schon vor Jahren aufgeklärt, da ihr es ja nicht tatet, aber von Frau zu Frau geht’s vielleicht jetzt doch noch besser. Auf keinen Fall aber darf einer von uns an dieser Sache basteln, das macht diese Kinder nur bockig. Außerdem — das habe ich Susanne schon gesagt — gibt’s ja noch DEN da oben, und du glaubst nicht, was IHM alles einfällt, wenn ER glaubt, daß es nun der Prüfungen genug sein kann.«

Sie sah mir lange ins Gesicht und lächelte immer mehr, bis mir ganz heiß wurde: »Dieses Mal zahle ich das Honorar freiwillig!« Sie küßte mich. »Gut, daß wir keine Nachbarn haben und die Deine nicht eifersüchtig ist«, murmelte sie, stand auf, seufzte und ging.

Gestern abend habe ich das Fernsehspiel beendet, es heute dreimal bespuckt, mit toi, toi, toi beklopft und zur Post getragen. Die letzten Tage vor der Fertigstellung waren, wie üblich, wieder hektisch. Unter strengster Aussperrung unseres Pudel-Zerreißwolfes lagen wir stundenlang auf den Knien und versuchten, die fünf verschiedenen Kopien auseinanderzusortieren, zu korrigieren und zu numerieren. Besonders das Numerieren wollte und wollte nicht klappen. Im dritten Exemplar blieben es hartnäckig sechsundneunzig Seiten, während es bei den anderen Exemplaren nur vierundneunzig waren. Warum war das so? Waren nun Seiten aus den anderen Kopien in dieses Exemplar gelangt und fehlten demzufolge in den anderen? Oder hatte jemand falsch oder doppelt numeriert, oder hatten sich Seiten aus früheren Fassungen eingeschmuggelt? Oder hatte der Zerreißwolf etwa doch...?

Es kostete viel Schnaps, Beruhigungstabletten, Zigarren und Zigaretten, bis wir uns dazu entschlossen, die Seitenübergänge gemeinsam laut zu lesen. Es war falsche Numerierung, wie sich dann endlich herausstellte.

Na, das ist ja nun alles vorbei, und bevor das neue Buch losgeht, gönne ich mir drei Tage völlige Ruhe. Ich sitze im Liegestuhl am Grab des kleinen Löwen und im Schatten der großen Sträucher, deren Namen ich immer wieder vergesse. Es ist glühend heiß. Der See gleißt wie das Blei zu Silvester im Schmelz-löffel. In der Südwestecke, nach dem Wetterstein zu, braut sich mit fetten, tintenen Bäuchen und weißen Sturmflocken schon wieder das Abendgewitter auf. Meine Hand streichelt halb unbewußt den weißen Stein mit dem Namen >Cocki<.

»Also, das Fernsehspiel habe ich fertig, Löwechen«, sage ich. »Nun werden sie sich draufstürzen und es in Stücke reißen. Die einen werden sagen, ich hätte besser einen Roman draus gemacht, und der Dramaturg wird sagen: so geht es natürlich nicht! Und der Regisseur — wenn’s überhaupt bis zu dem kommt — wird auch noch ändern. Alles natürlich nur, um sich wichtig zu machen. Und dann kommen die Sprecher, besonders die Erinnern, und jeder und jede wird an seiner Rolle mäkeln und die von den anderen lieber haben wollen. Gut, daß wir mit alledem nichts direkt zu tun haben, was Löwechen?

Komisch ist das, mit dem Leben und vor allem — mit dem Sterben, mein Löwechen. Vielleicht bist du aber auch gar kein Hund mehr, sondern auf einem anderen Stern, als König natürlich, und regierst über einen Verein, der die Augen oben auf dem Kopf hat und den Po dafür vorn?

Jetzt donnert es da hinten über uns schon! Peti fürchtet sich Gott sei Dank gar nicht vor dem Gewitter, ebensowenig wie der erste Peti, während es den Kastenbart immer schon vor Angst schüttelte. Weißt du noch, wie wir in dem großen Hause in der Stadt lebten und ihn nach einem schweren Gewitter vermißten, bis wir ihn in einem großen Kleiderschrank unter den Mänteln fanden? Gottlob hatte die Mama den Schrank aufgelassen, sonst wäre unser Weffchen sicherlich erstickt. Die Mama läßt noch immer alle Schränke auf und bringt damit das Frauchen auf die Palme.

Das neue Peterle rast so schnell, daß man ihm kaum mit den Augen folgen kann, weshalb er von mir den Beinamen >Ritzewitz< bekam. So mit hundert Sachen zickzackt er wie ein kleiner schwarzer Blitz über die Wiese, umkreist dich hundertmal in der Sekunde mit dem Brillenetui, dem Füller, dem Pantoffel oder Manschettenknopf in der Schnauze, daß dir ganz schwummerig wird — Ritzewitz — zick — zack — ritz — ritz. Und dieses freche Gesicht solltest du dabei sehen!

Das Weffchen hat er natürlich vollkommen herumbekommen. Gestern, als wir im Moor waren, ist Weffi mit ihm Seite an Seite den Weg entlanggerast, wie ein Junger... Du weißt doch, daß es das größte Freundschaftszeichen bei euch ist, wenn ihr Seite an Seite rast und euch dabei manchmal so mit den Flanken anstoßt, die Augen ganz groß und voller Lust und die Zunge weit heraushängend, mit Schaum bedeckt. So hast du’s auch gemacht, mein Löwechen, als du dich endlich über den Tod des alten Peterchens getröstet und mit dem Kastenbart abgefunden hattest. Aber ganz so, wie ihr beide, sind Weffi und Ritzewitz doch noch nicht zusammengewachsen. Wenn der kleine schwarze Teufel den Weffi wie eine wildgewordene Hornisse umkreist und über seinen Rücken wegspringt oder ihm sogar mitten auf den Rücken hopst, auf ihm entlangsaust und über dem Kopf herunterkobolzt, schließt Weffchen noch immer wie betäubt die Augen und schnappt nach ihm. Natürlich beißt er immer nur in die Luft, denn da, wo er knurrend hinschnappt, ist Ritzewitz schon lange nicht mehr! Apropos: beißen! Stell dir vor: letzte Woche hat er, der Ritze, doch ganz ernsthaft angefangen, eines von unsern geretteten paar Prunkstücken aufzufressen! Aus dem Ulmer Meßgewänderschrank hat er eine ganze Leiste abgerissen, die ihm dann, ganz freiwillig, in Stücken vor die Füße fiel, weil sie doch schon vierhundertfünfzig Jahre alt und sogar für die Holzwürmer zu langweilig geworden ist...

Das Frauchen hat aber trotzdem fast geweint, denn das Geld, das sie sich für was Besonderes gespart hatte, bekommt nun plötzlich der Restaurator. Die Mama hat sich danach schnell den Kleinen gegriffen und hat sich mit ihm in ihrem Zimmer eingeschlossen.

Natürlich verstehe ich die Mama, aber auch Frauchen, denn es geht natürlich nicht, daß Peter unsere letzten Kulturreserven auffuttert. Bei ‘nem Schriftsteller weiß man ja doch nie, wie es weitergeht. Man könnte doch vielleicht eines Tages dem Publikum einreden, daß es nur noch weiße oder schwarze Unterentwickelte lesen kann. Dann müssen wir vielleicht noch selber die Renaissancetruhe aufessen. Dies gab ich zu bedenken, als der seltene Fall eintrat, daß Frauchen sich mir zuwandte und sagte: >Nun sag du doch auch mal was!<

So schlossen denn Mama und Frauchen durch die Tür einen Kompromiß: der Hund wird nicht verhauen, aber doch an den Tatort geführt und eindrücklichst verwarnt. So geschah es.

Das Frauchen ist Peters Gott, obwohl sie streng und viel auch ohne ihn unterwegs ist... Wenn ihr Wagen aus der Garage fährt, hört sein Leben auf. Zuerst schreit er auf, weint dann leise, um bald ganz aufzuhören. Er wird ganz still. Der Rest seiner Liebe genügt aber, um die Mama mit neuer Lebenslust und immer neuen Großmutterfreuden zu erfüllen. Sie macht ihm das Fressen zurecht, sie bürstet ihn, geht mit ihm an der Leine spazieren und sitzt dann mit ihm am Fenster auf Ausguck. Sie sitzt auf einem Stuhl und stellt einen zweiten für Peter neben sich. Aufs Fensterbrett legt sie für ihn ein weiches Kissen. Er steht aufgerichtet auf dem Stuhlsitz und legt, wie ein Mensch, die Vorderpfoten eingeknickt aufs Kissen, so daß sie aussehen wie ein Muff. Sie spricht dann leise mit ihm, und so warten sie stundenlang, auch wenn die Welt inzwischen sich draußen verändert, die Straßen dunkel, einsam werden. Aber dann ertönt einmal doch Frauchens Fanfare, und mit schrillem Freudenschrei saust Peter die Treppe hinab. Es kam dabei schon vor, daß er auf dem Gesicht zuerst unten landete, obwohl er doch so schnell ist.

Moment mal, Löwechen, was ist denn da im Hause los? Frauchen und die Mama sind doch weg, und trotzdem klirrt’s, als ob die Küche demoliert wird. Man hat doch wirklich nicht mal ‘ne halbe Stunde Zeit, sich zu unterhalten.«

Ich erhebe mich ächzend aus dem Liegestuhl. In der Bibliothek und in meinem Zimmer — nichts. Das Geräusch kommt von der Treppe, und am Fuße selbiger Treppe beobachte ich folgendes Schauspiel; Haupt- und Alleindarsteller: Ritzewitz!

Zuvor aber muß ich folgendes erwähnen:

Mit den neuen Zähnen gibt Peter ganz gewaltig an, und sie sind auch eine ganz gefährliche Sorte. Es klingt unglaublich, aber er hat es doch tatsächlich fertiggebracht, den von Cocki geerbten Aluminium-Freßnapf rings um den Rand durchzustanzen, genauso wie ein Straßenbahnschaffner die Billetts locht. Wenn er sein Fressen bekommt, verputzt er es im Nu, packt dann den Napf und geht damit hausieren, und zwar nicht für sich, sondern für seinen geliebten Weffi, den Nimmersatten.

Nun hat er einen neuen Verwendungszweck für den Napf gefunden: wahrscheinlich hatte er mit dem Napf in der Schnauze oben an der Treppe gestanden, als er etwas Interessantes bemerkte. So ließ er den Napf einfach aus der Schnauze fallen, der dann mit Donnergepolter die Treppe hinunterkullerte. Das hat ihm offenbar ganz großartig gefallen. Jedenfalls holt er sich den Napf jetzt immer wieder nach oben und läßt ihn los, so daß er mit Gepolter die Treppe hinuntersaust. Das war der Radau, den ich bis in den Garten hörte, und ich sehe ihn nun, wie er mit schiefgeneigtem Kopf selig oben steht und dem stürzenden Napf nachlauscht. Gleich aber ist er wieder hinter dem Napf her, der vor meinen Füßen liegt, wirft mir einen flüchtigen Blick zu: >Bin, wie du siehst, gerade beschäftigt!<, packt den Napf, daß man die weißen Vorderzähne unter der hochgeklappten Lippe sieht, rast die Treppe hinauf und zielt. Der Napf kommt mit Höllengetöse herabgetrudelt. Viermal sehe ich mir das an, dann packe ich ihn — Ritzewitz — am Genick und hebe ihn auf den Arm: »So, das war nun sehr schön und vor allem — sehr laut. Jetzt ist mal für ‘ne kleine Weile Schluß damit. Außerdem hat Herrchen eben gerade mit seinem Cocki gesprochen, und du hast uns dabei gestört. Komm mal ‘raus!«

Ich nehme ihn mit in den Garten und schließe die Terrassentür, damit er sich nicht etwa den Napf wieder holen kann, denn er ist in seinen Spielen von einer geradezu nervenzerrüttenden Ausdauer.

Gerade will ich mich wieder an Cockis Grab setzen, als ein neues Ereignis eintritt: Teddy fährt in einem todschicken Mercedes-Coupé vor. Das Coupé blitzt in den letzten Sonnenstrahlen vor der Gewitterwand. Teddy steigt aus, ist ganz rot im Gesicht, wischt sich den Schweiß von der Stirn und sieht mich an: »Na?«

»Prima«, sagte ich, »wo hast du denn das gestohlen?«

Er grinst über das ganze Gesicht und haut mich auf die Schulter, daß ich fast in die Knie gehe: »Gestohlen? Haha, denkste — hab’s soeben gekauft!«

»Gekauft? Menschenskind, entweder bist du wahnsinnig oder du hast das Große Los gewonnen! Es ist zwar das vorjährige Modell, aber — zeig mal, wie ist denn der Kilometerstand: hundertzehn! Ist ja nagelneu! Als Coupé ist der heute — na, sagen wir mal — seine achtzehn Mille wert!«

»Ja, das ist er auch! Und weißt du, was ich dafür bezahlt habe? Acht! Und dann kriege ich noch vier für meinen Volkswagen, dann hab’ ich’s für vier! Kostet natürlich ein bißchen mehr Unterhaltungskosten als mein VW, aber ich habe mit dem Chef gesprochen, er meint, daß er fürs Geschäft als Repräsentation gut wäre, und von den vier Mille übernimmt er zwei und außerdem fünfzig Prozent der Unterhaltungskosten.«

»Ja, aber ich verstehe das alles nicht ganz! Seit wann hast du so gute Beziehungen zu einer Irrenanstalt?«

Er bietet mir mild lächelnd eine Zigarre an. »Du kennst doch den alten Wachsleitner, oder vielmehr: Du kanntest ihn, bevor er in der vorigen Woche gestorben ist?«

»Ah, jetzt geht mir ein Licht auf, ein >Wachsleitnerlicht<, sozusagen — haha! Der hatte sich doch im vorigen Sommer mit fast achtzig Jahren dies Ding da >auf Vorrat< gekauft und fuhr trotzdem mit seinem zehn Jahre alten Kabriolett ‘rum.«

»Genau! Und die Wachsleitnerin, die erst fünfzig ist, die hat so ‘n bißl was für mich übrig. Hat mal zu Addi gesagt: >Weißt, Addi, so was wie dein Teddy, das war’ was für mich! So ein Küchenschrank von Mannsbild — so was war mir grad recht. Außerdem werde ich ihm nicht vergessen, daß er mir meine Waschmaschine ganz umsonst hat reparieren lassen, obwohl ja die Garantie schon seit einem Jahr abgelaufen war.<

Damals, als mir Addi das erzählte, hab’ ich mir nix dabei gedacht, aber...«, er wirft sich in seine ungeheure Brust, »warum soll man denn solche Chancen nicht ausnutzen! Und bei der Wachsleitnerin ist es offenbar tiefer gegangen, als wir geglaubt haben. Jedenfalls, kaum war der alte Zausel, der ihr ja das Leben weiß Gott sauer genug gemacht hat, unter der Erde, da hat sie bei mir angerufen. Gestern. Piekfeines Haus hat sie ja und ‘n dollen Garten. Da könnte man glatt noch ein zweites Haus drauf bauen. Kaffee gab’s und Schnaps, so daß ich sogar ‘n Moment dachte: Teufel noch mal, das sieht ja direkt nach Verführung aus! Aber dann hat sie mich so richtig nett angeschaut und hat gesagt: >Du weißt, der Oskar hat sich diesen neuen Wagen gekauft und ist fast niemals darin gefahren. Gott hab’ ihn selig, den Oskar! Aber es waren schon einige Schrauben locker bei ihm... Was mache ich nun mit dem Wagen? Du hast mir doch damals bei der Waschmaschine so geholfen...< — >Verkaufen, natürlich<, habe ich gesagt. Und dann ist’s mir so ‘rausgefahren: >Eigentlich wäre er was für mich, etwas, wovon man träumt.< — >Was würde ich denn dafür kriegen?< hat sie so ganz listig gefragt, und ich hab’ gesagt: >Na, so achtzehn- bis zwanzigtausend.< Und sie hat gelacht und gesagt: >Bist ‘n anständiger Kerl, wirklich. Hab’ mich schon erkundigt: sechzehntausend haben sie mir angeboten. Und nun will ich dir was sagen: Ich geb’ ihn dir für die Hälfte. Dafür hilfst du mir ‘n bißl mit dem Nachlaß und der Steuer und mit dem alten Wagen, den kannst du dann für mich verkaufen...< —

Drei große Cognacs habe ich gebraucht, Mensch, um das zu begreifen. Dann aber haben wir den Vertrag gemacht, und sie hat mir ‘n Kuß gegeben. >Addi wird mir bestimmt nicht böse sein», hat sie gesagt, >bist ‘n guter Kerl und hast dich immer so geschunden, und ihr zwei lebt so nett miteinander. Und wenn ihr gelegentlich mal so ‘n bißl Zeit habt, denkt dran, daß ich nun recht allein bin, eine einsame, alte Frau...< — >Quatsch<, habe ich gesagt, >so, wie du aussiehst und mit dem, was du hast, kriegst du alleweil noch jemanden ab.< Sie ist ganz rot geworden und fragte: >Meinst du das im Ernst?< Sie ist dann nach hinten gegangen und hat einen Zettel geholt: >Weißt<, hat sie gesagt, >ich hab’s mir auch schon überlegt, ich sollt’s doch vielleicht noch mal versuchen, mit einem jüngeren dieses Mal natürlich, und da hab’ ich mir gedacht, warum soll ich nicht mal inserieren? Was hältst du denn davon?< Dann hat sie sich die Brille aufgesetzt und mir den Zettel vorgelesen: >Guterhaltener Junggeselle oder Witwer zur Einheirat in wohlhabende, kinderlose Witwe gesucht.< — >Na<, hab’ ich gesagt, >so, wie’s jetzt ist, klingt das ziemlich unanständig, aber das kriegen wir schon hin, dabei kann uns am besten der Hannes helfen.< — Und wie wir noch so darüber ‘rumreden, hält ein Wagen vor der Tür mit dem ersten Autohändler, der sich für das Coupé interessierte. Innerhalb einer Stunde erschienen noch zwei. Die wittern ja so was von fern wie die Aasgeier. Sie haben natürlich lange Schnäbel gemacht, als sie hörten, daß es schon weg wäre. Und dann habe ich ihnen noch schnell das alte Kabrio für zwölfhundert aufgehängt, obwohl es eigentlich nur noch vierhundert Mark Schrottwert hatte. Tja, und nun habe ich’s — das neue!«

»Ja«, sage ich gepreßt und nicht ohne Neid, »nun hast du’s...« Aber dann ist plötzlich aller Neid verflogen, ich boxe ihn in den Bauch: »Mensch, Dicker, ich freu’ mich! Freu’ mich wirklich! Das hast du bestimmt verdient nach all diesen schweren Jahren!«

In diesem Augenblick tauchen Addi und Margot auf. »Stell dir vor, Teddy«, sagte Addi zu ihrem Mann (Tag, Hannes!), »Margot ist heute schon gekommen!«

»Na fein«, erwidert Teddy, »dann setzt euch gleich mal ‘rein und macht ‘ne Probefahrt mit unserem Wagen!«

Addi lacht herzlich über diesen Witz, aber dann wird auch ihr alles erklärt, und dann fordert sie mich auf, sie mal zu kneifen, damit sie’s glaubt. Dann quietscht sie und sagt: so genau nun hätte sie’s auch wieder nicht wissen wollen, klettert dann vorsichtig in den Wagen, fordert Margot auf, sich auch vom in den Wagen zu setzen. Die aber lehnt ab: »Nein, fahrt ihr man, ihr beiden! Die erste Fahrt wenigstens sollt ihr mal ganz für euch allein haben!« Die zwei sind abgebraust, und ich bleibe mit Margot zurück. Dann drehe ich mich um und sehe sie mir an: »Dein Edelmut war leicht überspielt — es ist doch was los?«

»Ja«, sagt sie, »es ist was los.«

Ich schaue auf das Gewitter, dessen ungeheurer Leib schon fast über unsern Köpfen hängt, aber noch keinen Laut von sich gibt: »Geh schon immer in die Bibliothek, ich bring’ nur noch den Liegestuhl in die Garage. Und dann erzähl mir, was los ist.«