19
DAS GESCHENK
»Vergebung ist der Duft, den das Veilchen dem Absatz
schenkt,
von dem es zertreten
wurde.«
Mark Twain
Tony war lebendiger als je zuvor, und doch wusste er, dass er ermüdete. Er hatte geschlafen oder geruht oder etwas dazwischen, ohne sich an einen Traum zu erinnern, und erwachte mit diesem Gefühl, sicher getragen zu werden. Wo immer er gewesen war, er war dort behütet und geborgen und würde es immer sein. Selbst wenn es dafür eine Erklärung gab, wollte er sie nicht wissen. Er ermüdete. Er starb. Er akzeptierte das, mit einem ihn zutiefst erfüllenden Gefühl des Friedens. Es war Zeit, zu handeln.
»Maggie?«
»Hey, du! Ich habe mich schon gefragt, wann du wieder auftauchst. Dieser Ort ist nicht derselbe, wenn du nicht da bist.«
»Danke, dass du das sagst.«
»Ich sage nichts, was ich nicht wirklich meine«, sagte sie mit echter Zuneigung. Mit einem Kichern setzte sie hinzu: »Jedenfalls meistens.«
»Und, wie ist der Plan? Wann können wir ins Krankenhaus fahren?«
»Ich habe telefoniert, während du weg warst – wohin immer du dann verschwindest. Wir fahren alle heute Nachmittag dorthin.«
»Wir?«, fragte Tony neugierig.
»Ja, die ganze Rasselbande. Sogar Clarence kommt mit.« Maggie fügte rasch hinzu: »Nun mach dir keine Sorgen! Ich habe niemandem erzählt, was wir vorhaben. Ich habe nur gesagt, dass es schön wäre, wenn wir alle gemeinsam dort sind.«
»Und wer sind ›alle‹?« Tony verstand noch nicht so ganz.
Sie zählte an den Fingern ab. »Na, Clarence, ich, Molly, Cabby, Jake, Loree, Angela …« Sie machte eine effektvolle Pause. »… und du. Das macht acht. Es ist fast, als würden wir unsere eigene Kirche gründen.«
»Und du hältst es für eine gute Idee, dass wir alle zusammen dort sind?«
»Man weiß vorher nie, ob etwas eine gute Idee ist. Man muss eine Entscheidung treffen und dann schauen, wie es läuft. Lass uns das Geschenk, die Gnade dieses Tages auskosten.«
»Einverstanden«, sagte er. Das war eine Entscheidung, die er treffen konnte – die Gnade des Tages auskosten. Alles andere als der gegenwärtige Augenblick war ohnehin nur Fantasie.
Maggie, die wieder einmal mit Kuchenbacken beschäftigt war, hielt plötzlich inne und fragte: »Tony, du weißt gar nicht, welcher Tag heute ist, nicht wahr?«
»Nein. Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Ich weiß nicht, wie lange dieses Koma eigentlich schon andauert. Was ist denn Besonderes an diesem Tag?«
»Heute«, verkündete sie, »ist Karfreitag, der Tag, an dem wir alle unsere Wut an Jesus ausließen, der am Kreuz hing. Der Tag, an dem er völlig zum Teil unserer Erfahrung wurde und sich so tief in unserem ganzen Elend verlor, dass nur Gott ihn wiederfinden konnte. Dieser Tag ist heute. Der Tag, an dem Gott in die Hände wütender Sünder fiel.«
Tony war überrascht. Die Ironie entging weder ihm noch Maggie, die mit ihrer Predigt fortfuhr:
»Tony, begreifst du nicht? Das ist das Wochenende der Auferstehung! Und heute fahren wir ins Krankenhaus, um dich von den Toten aufzuwecken. Durch die Macht Gottes werden wir dich in ein neues Leben hinüberholen. Der Ostersonntag kommt! Ist das nicht wunderbar?« Maggie offenbarte ihre pfingstkirchlichen Wurzeln. Sie schwang den Holzlöffel, an dem köstlich aussehender Kuchenteig klebte, und machte ein paar vergnügte Tanzschritte. »Nun sag schon! Wie findest du das?«
»Wann brechen wir denn auf?« Er versuchte, ihre Aufregung zu teilen, aber im Vergleich klang seine Stimme flach.
»Tony, wie kannst du so kühl bleiben, wenn etwas so unglaublich ist? Was ist los mit dir?«
»Ich bin weiß – sogar noch in körperloser Form.« Jetzt musste Tony lachen. »Ich bin froh, dass ich in deinem Kopf bin und nicht irgendwo, wo man mich vielleicht zum Tanzen auffordern würde.«
Maggie lachte! Sie schüttelte sich förmlich vor Lachen, und Tony wurde mitgeschüttelt. Als sie sich wieder beruhigt hatte, sagte sie: »Also, wir werden jetzt bald aufbrechen. Ich warte noch, dass der Teig aufgeht, und dann können wir beide uns auf den Weg machen. Molly und Cabby sind bereits dort. Die anderen vielleicht auch, aber das weiß ich nicht genau.«
»Klingt gut«, antwortete er. Da konzentrierte Maggie sich bereits auf das, was noch zu tun war. Sie summte ein Lied, das Tony von irgendwoher kannte. Alles war in Bewegung.
Als Maggie das Wartezimmer vor der neurologischen Intensivstation betrat, wurde sie von Molly, Loree und Angela herzlich begrüßt. Jake und Cabby hatten sich zum Starbucks in der Eingangshalle aufgemacht, um sich einen Latte und eine heiße Schokolade zu gönnen. Clarence umarmte Maggie schicklich, aber ziemlich lange, und sie wäre beinahe errötet. Hätten doch die anderen nur gewusst, was sie wussten!
Bald darauf ging Maggie, um Tony allein auf seinem Zimmer zu besuchen. Sie erklärte es den anderen damit, dass sie für ihn beten wollte. Und weil sie dabei leicht ein wenig in Ekstase gerate, sagte sie, wolle sie die anderen nicht durch ihren Überschwang in Verlegenheit bringen.
Clarence zwinkerte ihr verschwörerisch zu und flüsterte: »Ich werde auch beten.«
Sie meldete sich am Empfang an. Als sie sich dann Tonys Krankenzimmer näherte, kam gerade ein Arzt heraus.
»Maggie«, sagte Tony, »hast du den Brief aus dem Safe dabei?«
»Den, den du an Angela geschrieben hast?«, raunte sie, ohne die Lippen zu bewegen.
»Nein, den anderen. Das unbeschriftete weiße Kuvert. Hast du ihn dabei?«
»Ja.«
»Gib ihn dem Arzt, der gerade aus meinem Zimmer gekommen ist. Schnell, bevor er weg ist.«
»Entschuldigen Sie«, rief sie dem Arzt hinterher. Er blieb stehen und drehte sich um. »Mir wurde gesagt, dass ich Ihnen das hier geben soll.« Sie kramte in ihrer Handtasche und zog das unbeschriftete weiße Kuvert hervor.
»Für mich?« Er sah überrascht aus, nahm den Brief von Maggie entgegen und öffnete ihn.
Er überflog das Dokument und nickte. »Gut! Darauf haben wir schon gewartet. Es ist Mr. Spencers Patientenverfügung.«
»Was?«, rief Maggie und nahm es ihm aus der Hand. Kein Zweifel, es handelte sich um eine unterschriebene und notariell beglaubigte Patientenverfügung. Tony hatte das Formular sorgfältig ausgefüllt. Er gestattete dem Krankenhaus darin nicht nur, seine künstliche Beatmung zu beenden, sondern forderte es ausdrücklich dazu auf.
»Entschuldigung.« Der Arzt nahm das Dokument Maggie langsam, aber nachdrücklich aus der Hand. »Das ermöglicht es uns, entsprechend den Wünschen des Patienten zu verfahren und …«
»Das weiß ich!«, entgegnete Maggie schroff. Rasch wandte sie sich ab und ging davon, ehe sie die Beherrschung verlor. Sie betrat Tonys Zimmer und war erleichtert, dass niemand vom Krankenhauspersonal sich darin aufhielt.
»Tony! Was soll denn das?« Sie dämpfte ihre Wut zu einem mühsam beherrschten, rauen Flüstern, um nicht wieder von einer Kollegin hinausgeworfen zu werden. »Das ist doch verrückt! Hast du ihnen die Verfügung gegeben, weil du glaubst, dass es keine Rolle mehr spielt und du das Beatmungsgerät nicht mehr brauchst, weil du sowieso geheilt wirst? Ist es das, was du denkst?«
Als er nicht antwortete, ging Maggie an sein Bett und legte die Hände auf seinen Körper. »Bete, Tony!« Dann fing sie an zu zittern, als die Gewissheit dessen, was hier geschah, sich herabsenkte wie der letzte Vorhang. »Verdammt, Tony, bitte … bete, dass du geheilt wirst!«
Er weinte. »Ich kann nicht!«, schluchzte er. »Maggie, mein ganzes Leben habe ich nur für einen einzigen Menschen gelebt: mich. Und endlich bin ich bereit, das nicht mehr zu tun.«
Maggie war entsetzt. »Aber, Tony, das ist Selbstmord! Du hast ein Geschenk erhalten. Du kannst dich selbst heilen. Danach kannst du Menschen helfen, die noch nicht wissen, was du weißt. Du nimmst dein Leben selbst in die Hand.«
»Nein, Maggie, das werde ich nicht tun! Ich nehme mein Leben nicht selbst in die Hand. Wenn es Gottes Wille für mich ist, dass ich leben soll, dann kann Gott mich heilen, aber ich selbst kann es nicht.«
Maggie fühlte, wie eine Welle der Traurigkeit sie erfasste. »Aber, Tony, wenn du es nicht tust, wirst du sterben. Verstehst du nicht? Ich will nicht, dass du stirbst!«
»Maggie, liebe Maggie, ja, das verstehe ich. Und du kannst dir gar nicht vorstellen, was es mir bedeutet, dass du so etwas zu mir sagst! Aber ich war längst schon tot. Den größten Teil meines Lebens war ich tot, ohne mir dessen bewusst zu sein. Ich lief herum und dachte, ich sei lebendig, doch mit meinem Totsein habe ich allen Leuten in meiner Welt Schaden zugefügt. Aber jetzt ist es anders! Ich bin lebendig. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich lebendig und frei und in der Lage, eine wirklich freie Entscheidung zu treffen. Und ich habe mich entschieden. Ich wähle das Leben … für mich … und für Lindsay.«
Maggie konnte nicht mehr. Schluchzend sank sie zu Boden. In diesem Moment wäre sie am liebsten vor allem geflohen und wünschte sich, sie hätte Gott nicht darum gebeten, ihm bei der Verwirklichung seiner Pläne helfen zu dürfen. Diese Last schien ihr nun unerträglich, und beinahe hasste sie es, dass sie gleichzeitig eine Freude in sich aufkeimen fühlte. Die Sorge um Lindsay vereinte sich mit ihrer Trauer um Tony. Beides zusammen brachte sie wieder auf die Füße. Ihr Atem ging stoßweise, während sie darum kämpfte, ihre Fassung wiederzugewinnen. Schließlich fragte sie: »Tony, bist du sicher?«
Er brauchte ebenfalls einen Moment, um wieder sprechen zu können, gefangen in seinen und ihren Gefühlen. »Ich bin mir sicherer als bei allem, was ich je zuvor in meinem Leben getan habe. Es ist die richtige Entscheidung, Maggie, das weiß ich.«
Maggie ging zum Waschbecken und wusch sich das Gesicht. Sie wagte kaum, in den Spiegel und damit Tony in die Augen zu schauen. Schließlich lächelte sie doch und nickte.
»In Ordnung. Uns bleibt nicht viel Zeit. Du bist dir ganz sicher?«
»Ja, Maggie. Das bin ich.«
»Gut. Dir ist klar, dass du dann niemals meine Karamellrollen probieren kannst?« Sie tupfte sich die Augen ab. »Albern, nicht wahr? Aber ich hätte wirklich gern, wenn du sie probieren könntest.«
»Das werde ich, Maggie. Nicht in nächster Zeit, aber später ganz bestimmt.«
Maggie ging zurück in den Warteraum, wo alle gleich spürten, dass sich die Lage verändert hatte. Sie erklärte ihnen, dass die Ärzte jetzt eine Verfügung Tonys hatten, wie mit der künstlichen Beatmung zu verfahren sei.
»Aber sie werden nichts tun, solange sie nicht mit den nächsten Angehörigen darüber gesprochen haben.« Sie nickte Jake zu. Wieder kamen ihr die Tränen. »Ich gehe jetzt Lindsay besuchen. Ich kann es nicht erklären, aber ich spüre gerade ein starkes Bedürfnis danach. Würdet ihr auf mich warten? Ich bin in ein paar Minuten wieder zurück.«
»Ich komme mit.« Clarence fragte nicht erst, sondern betrachtete es als selbstverständlich.
»Ich auch«, sagte Molly und wandte sich Jake zu. »Würdest du ein Auge auf Cabby haben? Ich möchte nicht, dass er wieder Verstecken spielt.«
Jake nickte, etwas überrascht, aber sichtlich gerne bereit, ihr zu helfen.
Sie wollten gerade gehen, als Maggie sich noch einmal umdrehte. »Cabby, kommst du gerade mal her zu mir?«
Es war offensichtlich, dass er etwas spürte. Sein Verhalten war sanft und schüchtern. Er ging zu seinem Maggie-Kumpel. Maggie umarmte ihn. Leise, sodass niemand sonst es hören konnte, flüsterte sie: »Cabby, Tony sagt, du hast zu ihm gesagt, der Tag wird kommen, dass er dich lieb hat. Ich soll dir sagen, dass dieser Tag heute ist. Verstehst du?«
Da füllten sich Cabbys schöne Mandelaugen mit Tränen, und er nickte. »Tschüss, Too-ny«, flüsterte er. Er zog Maggies Gesicht zu sich heran, bis ihre Stirnen sich berührten und er ihr tief in die Augen schauen konnte. »Cabby hat Too-ny lieb!« Dann rannte er zu Jake davon, der ihn in den Arm nahm. Er vergrub sein Gesicht an der Brust des Mannes.
Schweigend gingen die drei vom Hauptgebäude hinüber in die Doernbacher-Klinik. Clarence wurde zunächst von der Ananas-Prinzessin aufgehalten, bis Molly die entsprechenden Genehmigungen erteilt hatte. Nach einer kurzen Befragung zu seinem Gesundheitszustand durfte er die Frauen auf die Station begleiten. Lindsay war wach und las.
»Hi!« Sie lächelte, schaute Clarence an und warf dann Maggie einen wissend lächelnden Blick zu.
»Ja, das ist Clarence. Der Polizist, von dem ich dir erzählt habe.«
»Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, Clarence«, sagte sie strahlend und schüttelte ihm die Hand.
»Die Freude ist ganz meinerseits«, erwiderte er mit einer leichten Verbeugung, die Lindsay sichtlich charmant fand.
»Lindsay, wir sind gekommen, um für dich zu beten. Ist das in Ordnung?« Molly legte Maggie die Hand auf den Arm, mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht. Es war nicht so, dass sie ihrer besten Freundin nicht vertraut hätte, sie hatte es nur nicht kommen sehen. Maggie umarmte sie und flüsterte ihr ins Ohr, wobei ihr wieder die Tränen kamen: »Molly, das ist Tonys Geschenk an euch, an uns alle. Vertraue mir einfach, okay?«
Sie nickte mit großen, fragenden Augen. »Lindsay?«, fragte Maggie.
»Natürlich«, antwortete sie lächelnd, etwas befremdet darüber, dass die beiden Frauen Tränen in den Augen hatten. »Ich nehme alle Gebete, die ich kriegen kann. Ich fühle mich jedes Mal besser, wenn jemand für mich gebetet hat.«
»Gutes Mädchen«, sagte Maggie und öffnete ihre Handtasche. »Jetzt werde ich deine Stirn mit diesem Öl salben. Das ist keine Magie, nur ein Symbol für den Heiligen Geist, und dann werde ich dir meine Hände auflegen und beten, okay?«
Lindsay nickte und lehnte sich in die Kissen zurück. Sie schloss die Augen. Maggie strich ihr mit dem Öl das Kreuzzeichen auf die Stirn. »Das ist das Symbol für Jesus, und heute ist Karfreitag, ein ganz besonderer Tag.« Ihre Stimme brach, und Lindsay schlug die Augen auf.
»Ich bin okay, mein Liebes.« Zufrieden schloss Lindsay ihre Augen wieder. Dann legte Maggie ihre Hand auf die Stirn des Teenagers, wo das Öl noch glänzte, und beugte sich vor.
»Talitha kumi«, flüsterte sie, und Lindsays Augen öffneten sich plötzlich. Sie schien an Maggie vorbeizusehen, schien etwas hinter ihr wahrzunehmen. Ihre Augen weiteten sich und füllten sich mit Tränen. Einen Moment später richtete sie ihren Blick wieder auf Maggie und flüsterte: »Maggie, wer war das?«
»Wer denn, mein Schatz?«
»Der Mann, was war das für ein Mann?«
»Welcher Mann? Wie hat er ausgesehen?«, fragte Maggie verwundert.
»Er hatte die schönsten braunen Augen, die ich je gesehen habe. Er hat mich angeschaut, Maggie.«
»Blaue Augen«, sagte Tony. »Falls du dich das fragst, ich habe blaue Augen. Ich glaube, sie hat Jesus gesehen. Er sagte mir, ich selbst könnte niemanden heilen. Nicht ohne ihn.«
»Das war Jesus, Lindsay«, sagte Maggie. »Du hast Jesus gesehen.«
»Er hat etwas zu mir gesagt.« Sie schaute ihre Mutter an. »Mom, Jesus hat etwas zu mir gesagt.«
Tränenüberströmt setzte sich Molly aufs Bett und nahm ihre Tochter in die Arme. »Was hat er gesagt?«
»Erst sagte er etwas, das ich nicht verstand, und dann lächelte er und sagte: ›Das Beste kommt noch.‹ Was bedeutet das, Mom? Das Beste kommt noch?«
»Da bin ich mir nicht sicher, Liebling, aber ich glaube ihm.«
»Tut mir leid, Lindsay«, unterbrach Maggie die beiden. »Ich muss zurück auf die neurologische Intensivstation. Molly, es ist Zeit, Abschied zu nehmen.«
Clarence setzte sich an Lindsays Bett und unterhielt sich mit ihr über das Buch, das sie gerade las, während Molly sich mit Maggie in eine Zimmerecke zurückzog. Molly setzte mehrfach an, etwas zu sagen, aber die Worte steckten irgendwo zwischen ihrem Herzen und ihrem Mund fest.
Tony meldete sich: »Maggie, sag ihr einfach, dass es eine wunderbare Erfahrung für mich ist – alles, was wir in den letzten Tagen gemeinsam erlebt haben.«
Molly nickte. »Tony?«, flüsterte sie schließlich, »bist du Jesus?«
Er lachte laut auf, und Maggie musste grinsen. »Sag Molly: Nein, aber er und ich verstehen uns gut.«
Jetzt lächelte Molly, aber dann beugte sie sich wieder vor. »Tony, ich denke, es steckt mehr von Jesus in dir, als dir selbst bewusst ist. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«
»Tony sagt Lebewohl, Molly. Er sagt, du kannst ihm danken, indem du ein Auge auf Jake hast, okay?«
»Ja, okay.« Molly lachte unter Tränen. »Ich liebe dich, Tony!«
»Ich … ich … liebe dich auch, Molly.« Einfache Worte, und doch fiel es ihm so unendlich schwer, sie auszusprechen. Aber er fühlte, dass es die Wahrheit war. »Maggie, bring mich hier weg, bitte, bevor ich mich total in Tränen auflöse.«
Ein paar Minuten später kehrten Maggie und Clarence in das Wartezimmer in der OHSU zurück. Die beiden hatten ein Auge auf Cabby, während die anderen nacheinander, wenn sie bereit dafür waren, in Tonys Zimmer gingen und von ihm Abschied nahmen.
Diese Augenblicke zwischen Leben und Tod sind zerbrechlich und zart, und Maggie wollte nicht ohne Mitgefühl auf diesem heiligen Boden gehen. Während Angela darauf wartete, dass die Reihe an sie kam, setzte sich Maggie zu ihr und gab ihr den Brief ihres Vaters. Zwanzig Minuten lang las die junge Frau schluchzend, aber auch voller Wut, was Tony für sie aufgeschrieben hatte. Ihre Mutter gesellte sich zu ihr und tröstete sie. Schließlich ging auch Angela auf Zimmer 9 der Intensivstation, allein, denn das war ihr Wunsch. Mit rotgeweinten Augen und erschöpft kehrte sie zu den anderen zurück.
»Bist du okay?«, fragte Maggie und nahm sie in den Arm.
»Es geht mir besser. Ich habe ihm gesagt, wie wütend ich auf ihn war. Maggie, ich war so wütend dort drin! Es fehlte nicht viel, und ich hätte das Zimmer zertrümmert. Aber ich habe es ihm gesagt.«
»Ich bin sicher, dass du richtig gehandelt hast, Angela. Er wusste es nicht besser, das war Teil seines Schmerzes.«
»Ja, das hat er in dem Brief geschrieben, dass es nicht meine Schuld war.«
»Ich bin froh, dass du ihm gesagt hast, wie wütend du auf ihn bist. Das ist sehr heilsam.«
»Ich bin auch froh. Und ich bin froh, dass ich ihm gesagt habe, wie sehr ich ihn liebe und dass er mir fehlt.« Sie schaute Maggie in die Augen. »Danke.«
»Wofür, Darling?«
»Ich weiß es nicht genau.« Angela lächelte erschöpft. »Ich möchte dir einfach danken, das ist alles.«
»Es ist wirklich gern geschehen. Und ich gebe es weiter.«
Wieder lächelte Angela, auch wenn sie nicht recht wusste, was Maggie damit meinte. Sie setzte sich zu ihrer Mutter und lehnte sich müde bei ihr an.
Als Nächster kam Jake aus dem Zimmer. Er sah aus wie durch den Wolf gedreht, aber seine Augen funkelten lebendig.
»Bist du sicher, dass du nicht mit ihm reden willst?«, murmelte Maggie.
»Ich kann nicht!«, erwiderte Tony resigniert.
»Weshalb?«
»Weil ich ein Feigling bin, deshalb. Trotz aller positiver Veränderungen habe ich davor immer noch zu viel Angst.«
Sie nickte, für die anderen kaum merklich, aber doch genug, dass Tony es mitbekam. Dann setzte sie sich neben Clarence, der sie umarmte und im Schutz dieser Umarmung flüsterte: »Tony, danke für alles. Und damit du beruhigt bist: Welche Unterlagen auch immer in diesem Müllsack waren, sie sind professionell vernichtet worden.«
»Richte ihm meinen Dank aus, Maggie. Und richte ihm aus, was für ein feiner Kerl er ist. Ich werde seiner Mutter Hallo sagen, wenn das irgendwie möglich ist.«
»Ich sage es ihm«, erwiderte sie.
Es war nun Zeit, und Maggie ging allein ein letztes Mal in Tonys Zimmer. »Keine Katzen, also«, sagte sie.
»Nein. Nichts für die Katzen, Gott sei Dank. Das Testament, das wir im Tresor gelassen haben, teilt mein gesamtes Vermögen gerecht zwischen Jake, Loree und Angela auf. Eines Abends war ich betrunken und hörte mir diesen Bob-Dylan-Song an. Du weißt schon: den, der von dieser Frau gecovert wurde …«
»Make Me Feel Your Love von Adele? Lass mich deine Liebe spüren?«
»Ja, genau der. Da fühlte ich mich plötzlich ganz scheußlich und setzte die drei als Erben ein. Am nächsten Morgen war ich immer noch voller Schuldgefühle. Trotz eines schlimmen Katers ging ich zum Notar und ließ es beglaubigen. Aber dann, wie immer, änderte ich meine Meinung wieder …«
Maggie und Tony waren ungestört. Inmitten der sich unermüdlich wiederholenden Arbeitsgeräusche der Maschinen senkte sich Stille herab.
Schließlich durchbrach Maggie die Stille. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Tony, durch dich hat sich mein Leben zum Besseren verändert. Du bedeutest mir viel, und ich weiß nicht, wie ich dich ziehen lassen, dir Lebewohl sagen soll. Alles, was ich weiß, ist, dass du eine große Lücke in meinem Herzen hinterlassen wirst.«
»Niemand hat je so etwas zu mir gesagt. Danke.« Er schwieg einen Moment, dann sagte er: »Maggie, es gibt noch drei Dinge, über die ich mit dir sprechen muss.«
»Okay, aber bring mich bitte nicht mehr zum Weinen. Ich glaube, es sind keine Tränen mehr da.«
»Maggie, die erste Sache ist ein Geständnis. Eines Tages, wenn du den Moment für geeignet hältst, kannst du es Jake erzählen. Mir fehlte dazu der Mut. Ich bin wirklich feige, aber ich … ich kann es einfach nicht. Die Angst ist zu groß.«
Sie wartete, während er nach Worten suchte.
»Dass mein Bruder und ich getrennt wurden, war meine Schuld. Ich war immer für Jake da. Ich war der große Bruder, der auf ihn aufpasste. Aber dann war da plötzlich diese eine Pflegefamilie, und nach allem, was sie sagten, war ich mir sicher, dass sie zur Adoption bereit waren. Das Problem bestand aber darin, dass sie nur einen von uns adoptieren konnten. Ich wünschte mir verzweifelt, dieser eine zu sein, wieder irgendwo dazuzugehören.« Tony hatte nie jemandem von dieser Sache erzählt und kämpfte mit der Scham, die unter der Last des Geheimnisses verborgen lag.
»Also belog ich sie über Jake. Er war jünger, netter und viel angenehmer im Umgang als ich, also erfand ich alle möglichen schlimmen Geschichten über ihn, damit sie ihn nicht adoptierten. Ich habe meinen Bruder verraten, und er erfuhr niemals davon, bis heute. Eines Tages kamen die Leute vom Jugendamt und holten ihn ab. Er schreit und tritt um sich und klammert sich an meinen Beinen fest, und ich halte ihn fest, als würde es mir wirklich etwas ausmachen. Aber, Maggie, ein Teil von mir war froh, dass sie ihn abholten. Er war alles, was ich hatte. Wegen meines Wunsches, zu jemand anderem gehören zu wollen, zerstörte ich die Liebe, die ich eigentlich für Jake empfand.«
Tony brauchte einen Moment, um sich wieder zu sammeln, und Maggie wartete. Sie wünschte sich, diesen kleinen, verlorenen Jungen in ihre Arme nehmen zu können.
»Ein paar Wochen später versammelt sich die Familie, und sie sagen, dass sie mit mir sprechen möchten. Sie teilen mir mit, dass sie eine große Entscheidung getroffen haben: Sie wollen ein Kind adoptieren. Aber sie haben sich nicht für mich entschieden. Deshalb werde der Betreuer des Jugendamtes mich noch am gleichen Tag abholen und mich zu einer anderen ›wundervollen‹ Familie bringen, die sich schon darauf freuen würde, mich bei sich aufzunehmen. Ich hatte geglaubt, schon zu wissen, wie es ist, sich allein zu fühlen, aber das war eine völlig neue Art von Verlust.
Maggie, ich hätte mich um Jake kümmern müssen, vor allem, weil er ja sonst niemanden hatte. Ich bin sein älterer Bruder. Er hat mir völlig vertraut, aber ich habe versagt, schlimmer noch: Ich habe ihn verraten.«
»Oh, Tony«, sagte Maggie, »das tut mir so leid. Tony, du warst doch selbst noch ein Kind. Es macht mich so traurig, dass du in diesem Alter schon gezwungen wurdest, solche Entscheidungen zu treffen.«
»Und dann kommt Gabe in mein Leben. Zum ersten Mal halte ich einen Menschen in den Armen, der zu mir gehört. Bei diesem kleinen Jungen versuchte ich, alles richtig zu machen, aber auch ihn habe ich verloren. Angela hatte keine Chance. Ich hatte solche Angst, sie zu verlieren, dass ich noch nicht einmal wagte, sie richtig in den Arm zu nehmen, und dann Loree …«
Er hatte sich alles von der Seele geredet, und nun hingen seine Worte in der Luft wie Morgennebel, der unerwartete Seufzer eines Herzens, das durch dieses Geständnis befreit wurde und leise zu jubeln begann.
Ein weiteres Schweigen folgte, während dessen beide durch lange aufgestaute Gefühle wateten. Schließlich holte Tony tief Luft und atmete aus. »Hast du die kleine blaue Schachtel?«
»Natürlich.« Maggie holte sie aus ihrer Handtasche.
»Ich möchte, dass du sie Jake gibst. Es ist das Einzige, was ich noch von unserer Mutter besitze. Sie schenkte es mir nur wenige Tage bevor sie starb, fast als hätte sie geahnt, dass sie uns verlassen würde. Sie sagte mir, ich sollte es eines Tages der Frau schenken, die ich liebe, aber ich war nie gesund genug, um wirklich lieben zu können. Ich sehe aber, dass Jake diese Fähigkeit zu wahrer Liebe in sich trägt. Vielleicht kann er es eines Tages der Frau schenken, die er liebt.«
Maggie öffnete die Schachtel vorsichtig. Eine kleine Goldkette mit einem schlichten Goldkreuz lag darin. »Das ist wirklich schön, Tony. Ich gebe es Jake, versprochen. Und ich hoffe, er wird es eines Tages Molly um den Hals hängen. Wollte ich nur mal so gesagt haben.«
»Ja, das hoffe ich auch«, sagte Tony mit einem Lächeln. »Meinen Segen haben die beiden auf jeden Fall.«
»Und die dritte Sache?«
»Das ist das Wichtigste. Und wahrscheinlich fällt es mir am schwersten, das zu jemandem zu sagen. Maggie, ich liebe dich! Ich liebe dich wirklich.«
»Ich weiß, Tony. Ich liebe dich auch. Mist, wozu habe ich heute überhaupt Make-up aufgelegt?!«
»Okay, dann lass uns die Sache nicht noch schwerer machen. Gib mir einen Abschiedskuss, und dann geh nach draußen zu unserer Familie.«
»Du wolltest doch wissen, worüber du und Jake und eure Eltern auf dem Foto gelacht habt.«
Er lachte. »Natürlich!«
»Sonderbar, dass du dich nicht daran erinnerst. Eure Mutter hatte sich versehentlich Salz statt Zucker in den Kaffee geschüttet. Sie nahm einen Schluck und spuckte ihn, sehr undamenhaft, in hohem Bogen wieder aus – genau auf das Kleid einer piekfein herausgeputzten Frau am Nebentisch. Jake kann es besser erzählen als ich, aber ich denke, jetzt hast du eine Vorstellung davon.«
»Ja, ich erinnere mich«, lachte Tony. »Ich erinnere mich, wie lustig es war und wie froh und gut gelaunt wir alle an diesem Tag waren! Wie konnte ich es vergessen? Zumal …«
»Lebe wohl, mein Freund«, flüsterte Maggie. Tränenüberströmt beugte sie sich über den Mann im Bett und küsste ihn auf die Stirn. »Wir werden uns wiedersehen.«
Tony glitt ein letztes Mal davon.