16

APFELKUCHEN MIT VANILLEEIS

»Gott tritt durch eine private Tür ins Leben eines jeden Menschen.«

Ralph Waldo Emerson

Maggie?«

»Hey!«, kreischte Maggie und ließ eine Tasse mit Mehl auf die Küchenanrichte fallen. »Schleich dich nie wieder so heran! Weißt du nicht, dass du fast zwei Tage weg warst, nachdem du mich im Krankenhaus mit deiner Tochter allein gelassen hast? Jetzt schau dir an, was für eine Sauerei du angerichtet hast! Wie konntest du mich so erschrecken?!«

»Maggie?«

»Was denn?«

»Ich freue mich wirklich, dich zu sehen. Maggie, habe ich dir je gesagt, wie sehr ich dich mag? Ich bin dir so dankbar …«

»Tony, ist alles in Ordnung mit dir? Ich weiß nicht, wo du warst, aber du hörst dich ein bisschen krank an, weißt du. Gar nicht wie du selbst.«

Er lachte, und das fühlte sich gut an. »Mag sein, aber mir ging es nie besser als jetzt.«

»Nur damit du es weißt: Die Ärzte sind da ganz anderer Meinung. Dein Zustand ist gar nicht gut. Wir müssen reden. Lass uns zusammen beratschlagen, während ich diesen Apfelkuchen backe. In den zwei Tagen, in denen du verschwunden warst, ist eine Menge passiert. Wir müssen einen Plan schmieden.«

»Apfelkuchen? Ich liebe selbst gebackenen Apfelkuchen! Gibt es denn einen besonderen Anlass?«

Tony merkte, dass Maggie mühsam ein vergnügtes Lächeln unterdrückte. Ein einzigartiges Gefühlsgemisch regte sich in ihr. »Oh, ich weiß schon: Du bäckst für die Polizei, stimmt’s?«

Sie lachte. »Gut erkannt! Er kommt nach Schichtende zu Kaffee und Kuchen vorbei. Wir haben oft miteinander telefoniert, während du weg warst. Er findet mich« – sie wedelte aufgeregt mit den Händen wie eine Debütantin – »ziemlich geheimnisvoll. Und damit du es weißt: Es ist gut möglich, dass wir uns küssen, ganz aus Versehen, und dass ich in dem Moment gar nicht an dich denke. Nur damit du vorgewarnt bist. Ich werde wirklich versuchen, mich zu beherrschen, aber man kann nie wissen …«

»Na prima!«, stöhnte Tony und fragte sich, was es wohl für ein Gefühl sein würde, wie ein Pingpongball zwischen zwei Seelen hin- und herzuhüpfen.

Maggie redete die ganze Zeit, während sie das verstreute Mehl in die Spüle beförderte und sich daranmachte, die Zutaten für den Apfelkuchen nach dem Rezept ihrer Mutter zusammenzustellen. »In den zwanzig Minuten im Krankenhaus habe ich mehr über dich erfahren, als du mir in der ganzen Zeit erzählt hast, die du davor in meinem Kopf warst. Ich war wirklich ziemlich wütend auf dich, weil du deine Familie so schlecht behandelt hast. Deine Frau, deine Exfrau, ist ein Schatz, und deine Tochter ist absolut bemerkenswert. Und sie liebt dich immer noch, trotz ihrer ganzen aufgestauten Wut. Und, Tony, das mit Gabriel tut mir wirklich sehr, sehr leid.« Sie schwieg einen Moment. »Und was steht zwischen dir und Jake? Das verstehe ich noch nicht.«

»Maggie, nicht so schnell, bitte«, unterbrach Tony sie. »Ich werde deine Fragen später gerne beantworten, aber jetzt müssen wir erst über etwas anderes sprechen.«

Maggie hielt bei ihrer Arbeit inne und schaute aus dem Fenster. »Darüber, dass du in der Lage bist, jemanden zu heilen? Tony, das war wirklich das Letzte, dass du mich erst bei meiner kranken Lindsay vorbeischauen lässt und dann von mir verlangst, dass ich dir meine Hände auflegen soll, damit du gesund wirst …«

»Bitte, vergib mir das«, bat Tony. »Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich dachte, wenn ich gesund würde, könnte ich vielen Menschen helfen und vielleicht etwas von dem Schaden wiedergutmachen, den ich angerichtet habe. Ich weiß, das war total selbstsüchtig …«

»Nein, Tony!« Sie hob die Hand. »Ich war selbstsüchtig. Ich dachte nur an das, was mir in meinem Leben Kummer bereitet, was ich gerne in Ordnung gebracht haben wollte. Es ist erst ein paar Jahre her, da habe ich einige Menschen verloren, die mir sehr teuer waren. Und ich wollte nicht noch einen Menschen verlieren. Ich habe nicht das Recht, von dir zu erwarten, dass du deine Gabe dafür verwendest, Lindsay zu heilen. Das war nicht richtig. Verzeihst du mir?«

»Oh, dir verzeihen?« Ihre Bitte kam überraschend für Tony, aber sie löste ein warmes, tröstliches Gefühl in ihm aus.

»Ja. Wir müssen in die Klinik fahren, Tony. Wir müssen das Heilgebet für dich sprechen, solange diese Apparate dich noch am Leben halten – ehe es zu spät ist. In den letzten Tagen bist du immer mehr davongeglitten, und die Ärzte glauben nicht, dass du wieder aufwachst.«

»Maggie, ich habe viel über diese Gabe nachgedacht, einen einzelnen Menschen heilen zu können …«

»Das kann ich mir vorstellen. Aber etwas geht gar nicht: dass du dein Vermögen an Katzen vermachst!« Sie hörte auf, mit der Gabel in ihrem Kuchenteig zu rühren, und nahm einen Holzlöffel. »Katzen! Das ist wirklich das Durchgeknallteste, was ich je gehört habe. Zebras, meinetwegen, Wale oder diese süßen Seehundbabys, aber Katzen?« Sie schüttelte den Kopf. »Gott behüte! Wie kann man sauer verdientes Geld an Katzen verschleudern?«

»Stimmt«, gab er zu, »das war wirklich idiotisch von mir.«

»Tony, du hast selbstverständlich jedes Recht dazu, dich selbst zu heilen! Gott hat dir diese Gabe anvertraut, und wenn du dich dafür entscheidest, dich selbst zu heilen, werde ich dich dabei hundert Prozent unterstützen. Wer bin ich, dass ich mir anmaße, anderen Leuten zu sagen, wie sie leben sollen. Ich vergeude schon viel zu viel Zeit und Energie damit, Menschen zu beurteilen.« Sie wedelte mit ihrem Löffel, an dem Mehl und Butter klebten. »Ich versuche, das nicht mehr so oft zu tun, aber ich lerne nur allmählich. Und ich muss gestehen, dass es mir manchmal ein bisschen zu viel Spaß macht, Urteile über andere Menschen zu fällen. Da fühle ich mich dann sehr überlegen und denke: Der eine oder andere verdient es, beurteilt zu werden, und wer könnte das besser als ich? Siehst du, Tony? Wir alle sind ziemlich unvollkommen. So, jetzt habe ich genug gepredigt! Was denkst du?«

»Dass du ein Lächeln in mein Gesicht zauberst«, antwortete Tony.

Maggie lachte. »Na, was könnte es für mich im Leben Schöneres geben? Nein, bitte nimm es mir nicht übel, aber viel schöner wäre, wenn Clarence mir einen Heiratsantrag machen würde.«

Jetzt lachte auch Tony. »Das kann ich gut verstehen und nehme es dir überhaupt nicht übel.« Er wurde wieder ernst. »Maggie, ich habe eine Idee, wie wir dieses blöde Katzen-Testament aus der Welt schaffen können. Je weniger Leute davon erfahren, desto besser. Ich denke, wir sollten Jake einweihen, weil uns keine andere Wahl bleibt, und Clarence, weil er Polizist ist und sicherstellen wird, dass wir alles richtig machen.«

»Tony, jetzt machst du mir ein bisschen Angst! Du planst doch hoffentlich keinen Diebstahl? So was geht selten gut aus. Ich habe genug Kinofilme gesehen.«

»Ein Diebstahl ist es eigentlich nicht.«

»Eigentlich? Das hört sich nicht viel besser an. Ist es illegal?«

»Gute Frage. Genau weiß ich es nicht. Wir würden uns damit, sagen wir, in einer Grauzone bewegen. Aber da ich noch nicht tot bin, denke ich nicht, dass es illegal ist.«

»Und du willst meinen Clarence in die Sache hineinziehen?«

»Leider gibt es keine andere Möglichkeit, Maggie.«

»Aber ich will nicht, dass Clarence darin verwickelt wird. Dann ist mir lieber, dass die Katzen das Geld kriegen.«

»Maggie, es muss sein.«

»Weißt du, ich könnte nach draußen gehen und einfach einen streunenden Hund küssen, oder besser eine Katze, wo du doch ein solcher Katzenfan bist.«

»Es ist nie wirklich um die Katzen gegangen, Maggie. Es geht um mich. Bitte vertrau mir in dieser Sache. Wir brauchen Clarence’ Hilfe.«

»Oh Gott.« Maggie schaute zur Decke.

»Danke, Maggie«, fuhr Tony fort. »Es gibt da ein paar Dinge, die ich noch erledigen muss. Die Räume, in die wir hineinmüssen, gehören mir, aber niemand weiß, dass sie existieren. Ich bewahre dort alle meine privaten Unterlagen auf, und es gibt ein verdammt gutes Sicherheitssystem, von dem auch die Kameras in meiner Eigentumswohnung gesteuert werden. Leider hat die Polizei versucht, in das System einzudringen. Daraufhin hat es sich heruntergefahren und alle Zugangscodes geändert. Und ohne diese Codes komme ich nicht herein.«

»Und wie kommst du darauf, dass ich das verstehe?«, fragte Maggie.

»Entschuldigung. Ich habe nur laut nachgedacht.«

»Vergiss nicht, dass du in meinem Kopf laut nachdenkst, und ich finde das, was du da denkst, ziemlich verwirrend.«

»Okay. Ich besitze unten am Fluss in einer Nebenstraße der Macadam Avenue Privaträume. Aber das automatische Sicherheitssystem hat die Zugangscodes geändert, und es gibt nur drei Möglichkeiten, wie ich an die neuen Codes herankomme.«

»Dann besorg sie dir doch dort«, schlug Maggie vor.

»So einfach ist das nicht. Ein Brief mit dem neuen Code wird an eine Bank übermittelt und dort archiviert. Zugang erhält nur, wer sich zuvor die erforderliche Autorisierung beschafft hat, die in einem Schließfach hinterlegt ist. Dieses Schließfach wird nur bei Vorlage meiner Sterbeurkunde geöffnet.«

»Na, so ein Mist! Keine gute Option.«

»Die zweite Möglichkeit«, fuhr er fort, »ist nicht viel besser. Wenn ein solcher Reset der Codes erfolgt, wird automatisch ein Brief generiert, der dann als Eilzustellung an Loree geschickt wird. Sie hat keine Ahnung, was es mit dem Brief auf sich hat und warum er ihr geschickt wird. Das Schreiben enthält keinerlei Erläuterungen. Es handelt sich lediglich um eine Art Backup des Backups. Niemand würde auf die Idee kommen, dass meine Exfrau im Besitz von etwas sein könnte, was für mich wichtig ist.«

»Langsam!«, unterbrach ihn Maggie. »Wie sieht der Code aus?«

»Es ist einfach eine Folge von ein- und zweistelligen Zahlen zwischen eins und neunundneunzig, die rein zufällig generiert wird.«

»Wie Lotteriezahlen?«, fragte Maggie und wusch sich rasch in der Spüle ihre Hände.

»Ja, so ähnlich.«

»Also wie diese hier?« Maggie nahm ihre Handtasche vom Haken in der Diele und kramte darin. Mit triumphierender Geste zog sie einen Eilbrief heraus und nahm etwas aus dem Umschlag. Es handelte sich um einen einzelnen Briefbogen, auf dem sechs Zahlen in unterschiedlichen Farben ausgedruckt waren.

»Maggie!«, rief Tony. »Das ist es! Woher, um alles in der Welt, hast du das?«

»Von Loree! Ich bin noch mal ins Krankenhaus gefahren, um ihr und Jake bei den Formalitäten für den Fall des Falles zu helfen, und da gab sie mir das. Sie sagte, es sei ihr unmittelbar vor ihrer Abreise zugestellt worden und sie hätte es sich schnell beim Hinausgehen in die Handtasche gesteckt. Die Rücksendeadresse ist dein Büro in der Stadt, sagte sie. Sie dachte, dass ich vielleicht etwas darüber wüsste. Ich hatte keine Ahnung und sagte ihr das auch, aber sie beharrte trotzdem darauf, dass ich den Brief behalten sollte. Ich wollte dich schon danach fragen, aber es ist mir erst wieder eingefallen, als du es gerade erwähnt hast.«

»Maggie, lass dich küssen!«, rief Tony erleichtert.

»Das wäre aber sehr sonderbar«, sagte sie. »Ich frage mich, was dann passieren würde? Das sind also diese Codes, die du brauchst?«

»Ja! Das ist der Zugangscode. Lass mal das Datum sehen. Ja. Das ist es. Wow, dadurch sparen wir eine Menge Zeit.«

»Du sagtest, es gibt noch einen dritten Weg, an die Codes zu kommen?«

»Den brauchen wir jetzt nicht mehr. Der Code wird elektronisch an einen bestimmten Rechner in meinem Büro in der Innenstadt geschickt, auf den nur ich Zugriff habe. Wir hätten also zu den Leuten in meiner Firma gehen und sie durch einen Vorwand dazu bringen müssen, dass sie uns erlauben, allein in meinem Büro am Schreibtisch zu sitzen. Da Jake mein Bruder ist, dachte ich, dass man ihm vielleicht gestatten würde, sich allein in dem Büro aufzuhalten.«

»Ja, aber das hätte bedeutet …«

»Ich weiß. Du hättest ihn küssen müssen, und das hätte alles noch komplizierter gemacht, als es sowieso schon ist. Jetzt müssen wir Jake gar nicht in die Sache hineinziehen.« Er empfand große Erleichterung deswegen. »Das bringt mich zu meiner nächsten Frage.« Er zögerte einen Moment, ehe er sie stellte: »Welchen Eindruck hast du von Jake?«

»Oh, du meinst Jacob Aden Xavier Spencer, deinen Bruder?«

Wieder einmal war Tony überrascht. »Woher kennst du seinen vollständigen Namen?«

»Clarence hat in den Polizeicomputer geschaut, und da findet sich eine ziemliche Akte über ihn. Nichts wirklich Schlimmes. Kleine Einbruchdiebstähle, um seine jahrelange Drogenabhängigkeit zu finanzieren. Dafür war er in Texas fünf Jahre im Knast.«

»Knast? Was ist denn das für ein Jargon?«

»Nun hab dich mal nicht so! Da, wo ich herkomme, ist das ein ziemlich alltägliches Wort.«

»Entschuldigung. Bitte, fahr fort.«

»Gestern habe ich im Krankenhaus ein paar Stunden mit Jake verbracht. Er hat viel über dich gesprochen. Ich weiß nicht, ob dir das überhaupt bewusst ist, aber er betet dich an. Er sagte mir, dass er dir sein Leben verdankt. Du hast ihn damals in der Kindheit beschützt, als um euch herum alles zusammenbrach. Dann wurdet ihr voneinander getrennt. Er geriet in schlechte Gesellschaft, wurde drogenabhängig, und aus Scham mied er jeden Kontakt zu dir, solange er nicht clean war. Du bist so etwas wie ein Vater für ihn, und er war der missratene Bruder, der drogensüchtige Versager.«

Tony hörte schweigend zu. Wieder überwältigten ihn Gefühle, die er lange verdrängt hatte.

»Heute ist Jake clean. Er geht regelmäßig zu NA-Meetings, hat eine Therapie gemacht und zu Jesus gefunden. Er lebt jetzt seit fast sechs Jahren ohne Drogen. Er hat am Warner Pacific College hier in der Stadt seinen Abschluss nachgeholt und sich währenddessen mit Teilzeitjobs über Wasser gehalten. Er hat für einige gemeinnützige Organisationen gearbeitet und sogar etwas Geld zurücklegen können. Er ist jetzt bald so weit, wieder in eine eigene Wohnung zu ziehen. Als die Polizei ihn anrief, um ihm mitzuteilen, was mit dir passiert ist, war er gerade dabei, all seinen Mut zusammenzunehmen, um sich bei dir zu melden. Tony, er hat geweint. Er wollte, dass du stolz auf ihn bist. Ich glaube, das hat er sich mehr als alles andere gewünscht. Jetzt hat er das Gefühl, dass er den richtigen Moment verpasst hat, um es dir zu sagen. Aber wir werden dafür sorgen, dass du geheilt wirst, und dann kann er mit dir über all das sprechen. Es ist furchtbar wichtig für ihn, dass du ihm selbst sagst, wie viel er dir bedeutet.«

Tony rang mühsam um Fassung. »Also, Maggie, was ich wissen muss, ist: Vertraust du ihm? Glaubst du, auf Jake ist Verlass? Hat er sich wirklich zum Besseren verändert?«

Sie spürte, welches Gewicht diese Fragen für Tony hatten. Deshalb dachte sie gründlich nach, ehe sie antwortete.

»Ja, ich vertraue ihm. Tony, ich bin mir sicher, dass dein Bruder zuverlässig und anständig ist. Er arbeitet hart, und ich würde ihm Cabby und Lindsay anvertrauen, womit, was mich betrifft, alles gesagt ist.«

»Das ist alles, was ich wissen muss, Maggie, denn ich vertraue dir, und wenn du Jake vertraust, genügt mir das vollauf. Danke!«

Sie merkte seiner Stimme an, dass es zu der Geschichte zwischen ihm und Jake noch ein paar Dinge mehr zu sagen gab, aber sie drängte ihn nicht. Tony würde es ihr erzählen, wenn er bereit dafür war.

»Es ist eine Ehre, wenn andere Menschen einem vertrauen, Tony.«

»Für mich bist du einer der ersten Menschen überhaupt, dem ich vertraue. Das bedeutet mehr für mich, als ich in Worte fassen kann.«

»Vertrauen heißt immer, ein Risiko einzugehen, Tony. Keine Beziehung zu anderen Menschen ist ohne Risiko. Aber ohne Beziehungen hat unser Leben keinen Sinn. Manche sind chaotischer als andere, manche sind nur vorübergehend, manche sind schwierig, und nur wenige sind einfach, aber jede unserer Beziehungen zu anderen Menschen ist wichtig.«

Sie schob ihren Kuchen in den Ofen, kontrollierte zweimal die Temperatur und machte sich dann einen Tee.

»Übrigens, Tony, alle, also deine Leute und meine Leute, haben sich inzwischen kennengelernt.«

»Danke, Maggie. Danke, dass du das ermöglicht hast.«

»Das habe ich wirklich gerne getan, Mr. Tony.«

»Warum hast du mich gerade so genannt … Mr. Tony?«, fragte er überrascht.

»Weiß nicht. Mir war spontan danach. Warum?«

»Ich habe ein kleines Mädchen getroffen, das mich auch so nannte. Daran habe ich mich erinnert.«

»Kinder!«, lachte Maggie. »Sie finden den Zugang zu unserem Herzen, auch wenn wir uns noch so sehr abschotten.«

»Ja, das ist wahr«, sagte Tony.

Während der Kuchen im Backofen gedieh, scherzten die beiden miteinander wie ein altes Ehepaar. Ihr Gespräch war leicht und doch sinnerfüllt.

Nur Momente nachdem Maggie einen perfekt aussehenden Apfelkuchen aus dem Ofen geholt hatte, kamen Molly und Cabby nach Hause, beide bester Laune. Cabby stürmte auf seinen Maggie-Kumpel los und drückte sie heftig an sich. Er legte den Kopf an ihre Brust und flüsterte kichernd: »Too-ny … komm noch!« Dann lief er durch den Flur und verschwand in seinem Zimmer.

»Dieser Junge«, murmelte Tony. »Er ist wirklich etwas ganz Besonderes.«

»Allerdings«, stimmte Maggie zu. »Aber was meint er damit?«

»Ach, etwas, worüber er und ich mal gesprochen haben. Cabby weiß genau, wenn ich da bin, stimmt’s?«

»Dieser Junge weiß eine Menge.«

Molly kam aus dem Badezimmer, mit einem Lächeln, das wie die schönsten Farben eines Sonnenuntergangs war, und umarmte Maggie herzlich.

»Gibt es gute Nachrichten?«, fragte Maggie.

»Über Lindsay? Nicht wirklich. Alles ziemlich unverändert.« Sie senkte die Stimme. »Ist Tony da?«

Maggie nickte.

»Hey, Tony. Ich habe heute viel Zeit mit deiner Familie verbracht, vor allem mit Angela. Wir hatten eine schöne Zeit zusammen, Cabby und sie haben sich richtig ins Herz geschlossen. Deine Tochter ist wirklich ein Schatz.«

»Er hat Danke gesagt«, erwiderte Maggie, ehe Tony überhaupt zu Wort gekommen war.

»Und …« Molly lächelte. »Dein Bruder Jake gefällt mir, muss ich sagen. Wir haben dich heute zusammen besucht und, ehrlich gesagt, Jake ist der Attraktivere von euch beiden.«

»Tony sagt, das liegt nur daran, dass er krank ist«, übermittelte Maggie.

»Genau, das muss es sein.« Molly lachte, öffnete den Kühlschrank und suchte nach Essbarem für sich und Cabby.

»Es gibt einen großen Apfelkuchen, Molly. Genug für euch beide.«

»Wunderbar. Den essen wir zum Nachtisch. Bin gleich wieder da. Ich habe Cabby versprochen, dass er draußen im Garten essen darf. Ich bereite das gerade für ihn vor.«

In diesem Moment betätigte jemand die Türklingel, und dann wurde dreimal vernehmlich an die Haustür geklopft. Niemand hätte das bedeutsam gefunden, außer Tony. Er musste unwillkürlich grinsen. Jack oder Jesus sind es ja wohl kaum, dachte er.

Es war Clarence, der Maggie warmherzig anlächelte und umarmte. Eine Welle der Zufriedenheit stieg in ihr auf. Tony schloss für einen Moment die Augen, und dann atmete er tief durch. Wieder einmal wurde ihm bewusst, was ihm im Leben alles entgangen war, weil er sich hinter seinen Mauern verschanzt hatte.

»Ich küsse dich nicht«, flüsterte Maggie, »weil … du weißt schon.«

Clarence lachte. »Sag mir einfach Bescheid, wenn er wieder weg ist, dann machen wir das mehr als wett!«

»Ich klingele dann sofort bei dir an«, versprach Maggie kichernd.

»Wow, wonach duftet es denn hier?«, rief Clarence aus. »Frisch gebackener Apfelkuchen! Und er duftet genau wie bei meiner Mutter! Gibt es Eis dazu?«

»Natürlich! Tillamook-Vanille, ist das okay?«

»Perfekt!« Er setzte sich an den Küchentisch, während Maggie ihm ein großes Stück Kuchen mit einer nicht minder großen Portion Eis servierte. »Wenn du mich ab jetzt regelmäßig so verwöhnst, werde ich doppelt so viel Sport treiben müssen, aber wenn der Kuchen so schmeckt, wie er duftet, ist es das allemal wert.«

Maggie wartete gespannt, während er den ersten Bissen probierte. Clarence bestand die Prüfung. Er reagierte mit kindlicher Freude. »Maggie, dieser Kuchen ist spektakulär. Ich hasse es, das zugeben zu müssen, aber ich glaube, er ist sogar besser als der meiner Mutter.«

Sie strahlte.

»Ihr zwei macht mich ganz krank«, stöhnte Tony. »All dieses kitschige Geturtel … igitt!«

Maggie grinste. »Tony sagt Hallo.«

»Hi, Tony.« Clarence erwiderte das Grinsen. Er nahm den nächsten Bissen, kaute langsam und mit sichtlichem Genuss.

»Hi, Clarence.« Molly kam von Cabbys Picknick zurück und begrüßte den Polizisten mit einer Umarmung. Sie nahm sich einen Teller und setzte sich zu ihnen. »Wie ist die Lage?«

»Du kommst genau zur rechten Zeit«, sagte Maggie, während sie sich selbst eine Portion Kuchen mit Eis nahm. »Genau darüber wollten wir gerade sprechen.«

Clarence schaute Maggie an und sagte, nun spürbar ernster: »Tony, ich möchte dich um einen großen Gefallen bitten.«

»Er sagt: Das trifft sich gut, denn er möchte dich ebenfalls um einen großen Gefallen bitten.«

»Vielleicht«, überlegte Tony laut, »solltest du Clarence einfach küssen. Dann kann ich ihm auf direktem Weg erklären, was ich möchte. Das würde die Sache vereinfachen.«

»Machst du Witze?«, entgegnete Maggie. »Kommt gar nicht infrage, mich einfach außen vor zu lassen! So verlockend es wäre, Clarence auf der Stelle zu küssen, werde ich lieber noch ein bisschen warten, danke. Wenn ihr beiden Pläne schmiedet, will ich eingeweiht sein.«

Clarence machte den Anfang. »Tony, eigentlich habe ich gar nicht das Recht, eine solche Bitte zu äußern, und ich weiß auch gar nicht, ob sie überhaupt im Bereich des Möglichen liegt, und bevor ich sage, worum es geht, möchte ich betonen, dass damit keinerlei Erwartungen verknüpft sind. Ich meine, der Gefallen, um den du mich bitten möchtest, ist für mich in keiner Weise daran gebunden, dass du etwas für mich tust. Ist das klar?«

»Kristallklar, sagt er, aber du solltest vielleicht erst abwarten, um was für einen Gefallen es sich handelt.«

»Spielt keine Rolle«, sagte Clarence. »Wenn Maggie mitmacht, bin ich auch dabei.« Er schwieg einen Moment. »Ist es illegal?«

»Tony glaubt, dass es das nicht ist.«

»Er glaubt es?«, schaltete sich Molly ein.

»Das … ist beruhigend«, seufzte der Polizist. »Also hier ist das, worum ich dich bitten möchte. Und wenn du Nein sagst, ist das völlig okay.«

Die drei sahen, wie dieser starke Mann mit seinen Gefühlen kämpfte, etwas, das bei ihm sehr ungewöhnlich erschien. Maggie nahm eine seiner Hände. Da hätte er beinahe geweint, aber irgendwie schaffte er es, die Beherrschung wiederzugewinnen. Er räusperte sich und fuhr mit belegter Stimme fort.

»Meine Mutter hat Alzheimer. Vor ein paar Jahren mussten wir sie in einem Heim unterbringen, wo sie rund um die Uhr betreut wird, wozu wir nicht in der Lage sind. Die Krankheit schritt viel schneller fort, als wir erwartet hatten. Ich befand mich gerade auf einem Lehrgang an der Ostküste, als ihr Zustand sich so verschlechterte, dass sie niemanden von uns mehr erkannte.«

»Das tut mir wirklich leid, Clarence«, sagte Molly. Sie nahm seine andere Hand.

Er blickte auf, mit feuchten Augen. »Ein letztes Gespräch zwischen ihr und mir, ein Abschied, war nicht mehr möglich. Vor meiner Abreise wusste sie noch, wer ich war, und als ich zurückkehrte, war da nichts mehr, nur diese Leere in ihren Augen, die niemand mehr füllen konnte.

Tony«, fuhr er fort, »immer wieder kommt mir der Gedanke, dass Maggie sie küssen könnte. Dann könntest du in sie überwechseln und sie für mich finden und sie wissen lassen, dass wir sie vermissen, dass ich sie vermisse. Ich weiß, es klingt verrückt, und ich weiß nicht, ob es überhaupt funktionieren würde …«

»Er wird es tun«, verkündete Maggie.

»Wirklich?« Clarence schaute sie an, und sein Gesicht entspannte sich, weil er nicht mehr gegen seine zurückgehaltenen Gefühle ankämpfte.

»Natürlich wird er das«, sagte Molly. »Nicht wahr, Tony?« Sie schaute Maggie an.

»Ja«, bestätigte Maggie. »Aber er ist nicht sicher, ob es funktionieren wird. Er ist schließlich kein Experte in diesen Dingen.«

»Tony, danke, dass du es auch nur in Erwägung ziehst! Dafür bin ich dir etwas schuldig.«

»Er sagt, dass du ihm nichts schuldest und dass an seine Bitte keinerlei Bedingungen geknüpft sind. Du kannst auf jeden Fall Nein sagen.«

»Verstehe«, erwiderte Clarence.

»Also«, begann Maggie, »ich will versuchen, in Worte zu fassen, was Tony braucht. Er hat dieses streng geheime Büro unten am Fluss. Er hat dieses Büro nicht, weil er irgendetwas Ungesetzliches getan hätte, aber es befinden sich einige wirklich wichtige Dokumente darin. Clarence, er möchte wissen, ob du jemanden kennst, der industrielle Aktenvernichtung betreibt?« Sie hob die Brauen, als wollte sie sagen: »Frag mich nicht, ich bin nur die Übermittlerin.«

»Ja, Kevin, ein guter Kumpel von mir, arbeitet für eine große Schredderfirma. Ich glaube, sie haben auch einen Vertrag mit der Stadt. Warum?«

»Da müssen einige Unterlagen vernichtet werden – keine Steuerunterlagen und auch nichts Illegales, nur persönliche Dokumente«, sagte Maggie für Tony. Sie hielt inne und drehte den Kopf ein Stück zur Seite, als würde sie mit sich selbst sprechen. »Tony, warum wartest du denn nicht einfach, bis es dir besser geht? Dann kannst du dich doch um das alles selbst kümmern?«

Als sie sich wieder Clarence zuwandte, spiegelte sich Besorgnis in ihrem Gesicht. »Er sagt, er ist sich überhaupt nicht sicher, dass es ihm jemals wieder besser gehen wird. Und deshalb will er kein Risiko eingehen.« Sie fuhr mit der Übersetzung fort. »Tony muss in sein Büro. Die nötigen Zugangscodes hat er. Er sagt, er braucht dich, Clarence, um sicherzustellen, dass wir es richtig machen und keine Spuren hinterlassen.«

Clarence nickte.

»Er sagt, das Ganze ist wirklich sehr einfach. Nur rasch hinein und gleich wieder hinaus. Er muss einen in den Boden eingelassenen Safe öffnen und einige Dokumente sichten. Er wird einen Stapel zusammenstellen, der geschreddert werden soll, und vielleicht noch ein paar andere Dinge mitnehmen. Das ist alles. Es wird höchstens eine halbe Stunde dauern. Niemand wird uns sehen oder je erfahren, dass wir dort waren.«

»Nicht illegal?«, fragte sich Clarence laut.

»Er sagt, solange er noch am Leben ist, wäre es völlig legal. Es ist sein geheimes Büro, und er hat die Codes. Also ist es kein Einbruch. Er wird bei uns sein. Auch wenn es dir niemand glauben wird, weißt du doch, dass er bei uns ist.«

Clarence dachte einen Moment nach.

»Kannst du uns helfen?«

Clarence nickte.

»Tony fragt, ob wir die Sache heute Abend durchziehen können. Können wir jetzt zu deiner Mutter fahren?«

Wieder nickte Clarence und schaute auf die Küchenuhr. »Wir haben genug Zeit. Ich telefoniere mit dem Heim und kündige unseren Besuch an. Wer kommt alles mit?«

»Ich muss bei Cabby bleiben und kann nicht mitkommen«, sagte Molly. »Aber ihr müsst mir später unbedingt alles erzählen, okay?«

»Du weiß doch, dass ich dir immer alles erzähle, Schätzchen«, sagte Maggie. »Gib du gut auf Cabby acht, während wir drei James Bond spielen.«

Clarence telefonierte bereits.

Maggie umarmte Molly herzlich. »Tony sagt, du hast seinen Segen«, flüsterte sie.

»Wofür?«, fragte Molly.

»Was seinen Bruder betrifft … wenn etwas daraus wird, hast du seinen Segen.«

Molly lächelte. »Man kann ja nie wissen.« Sie lehnte sich zurück. »Danke, Tony. Ich mag dich.«

Das überraschte Tony ebenso wie die Gefühle, die es in ihm auslöste. »Oh«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich mag dich auch.«

»Er sagt, dass er dich auch mag«, übermittelte Maggie lächelnd.