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LEIDENSCHAFTLICHE DISKUSSIONEN

»Was leuchten will, muss sich verbrennen lassen.«

Viktor Frankl

Als er wach wurde, befand er sich immer noch in Großmutters Lehmhütte. Er setzte sich auf. Draußen war es jetzt ganz dunkel. Die Abendkühle kroch durch die Decken vor dem Eingang und ließ ihn frösteln. Am offenen Feuer saßen zwei Gestalten dicht beisammen. Jesus und Großmutter unterhielten sich in gedämpftem Ton über, wenn er richtig verstand, eine Mauer des äußeren Walls, die während der nächtlichen Erdbeben stark beschädigt worden war. Als sie bemerkten, dass er aufgewacht war, sprachen sie lauter, um ihn einzubeziehen.

»Willkommen zurück, Tony«, sagte Jesus.

»Danke, denke ich. Wo bin ich gewesen?«

»Eine Mischung aus Koma und Zorn«, antwortete Großmutter.

»Oh, ja, tut mir leid.«

»Aber das muss es nicht«, versicherte ihm Jesus. »Du hast dir ein wirklich bemerkenswertes Eingeständnis gemacht! Spiele es jetzt nicht herunter, nur weil es dir peinlich ist. Wir glauben, es war wirklich tiefgreifend.«

»Na, toll!«, stöhnte Tony und ließ sich auf die Decken zurückfallen. »Ich liebe den Tod. Wie tröstlich.« Ein plötzlicher Gedanke kam ihm, und er setzte sich wieder auf. »Aber wenn das stimmt, warum kämpfe ich dann so sehr darum, am Leben zu bleiben?«

»Weil Leben das Normale und der Tod die Anomalie ist«, sagte Jesus. »Du wurdest nie für den Tod erschaffen, sondern es entspricht deiner Natur, gegen ihn zu kämpfen. Es stimmt nicht, dass du den Tod liebst. Aber du fühlst den Drang, dich einer Sache hinzugeben, die größer ist als du, etwas außerhalb deiner Macht Liegendes, das dich von deinen Schuldgefühlen und deiner Scham erlöst. Du schämst dich buchstäblich zu Tode.«

»Und damit bist du, weiß Gott, kein Einzelfall«, meldete sich Großmutter zu Wort. »Ich kenne andere, denen es ebenso geht.«

»Da fühle ich mich ja gleich viel besser.« Tony zog sich eine Decke über den Kopf. »Na los, worauf wartet ihr? Erschießt mich!«

»Wir haben eine viel bessere Idee. Möchtest du sie hören?«

Langsam zog Tony die Decke wieder weg, stand auf, nahm sich einen Hocker und stellte ihn dicht ans wärmende Feuer.

»Ich bin ganz Ohr. Es gibt einiges, was ich lieber tun würde, und eine Million Orte, wo ich jetzt lieber wäre, aber nur zu … nicht dass ich einverstanden wäre oder dergleichen. Schließlich bin ich mir immer noch nicht sicher, ob überhaupt glaubwürdig ist, was ich hier erlebe … ich schwafele herum, stimmt’s?«

Großmutter grinste ihr zahnloses Schmunzeln. »Sag uns einfach, wenn du dich ausgeschwafelt hast. Zeit gehört zu den Dingen, die wir hier reichlich haben.«

»Okay, ich bin fertig. Ihr sagt, ihr habt eine bessere Idee, als mich zu erschießen?« Das kann ja was werden, dachte er. Gott, der eine Idee hat. War das überhaupt möglich? Wenn man allwissend ist, wie kann man dann eine »Idee« haben? Er blickte auf und merkte, dass sie ihn ansahen. »Entschuldigung. Ich bin bereit.«

Jesus begann: »Tony, das ist eine Einladung, keine Erwartung.«

»Dann sag mir doch«, unterbrach ihn Tony seufzend, »werde ich eurem Vorschlag zustimmen? Das spart uns etwas Zeit.«

Jesus schaute Großmutter an. Sie nickte.

»Okay, dann weiter im Text: Was soll ich tun?«

»Möchtest du denn nicht wissen, was es ist, dem du zustimmst?«, fragte Jesus.

»Habe ich aus freien Stücken zugestimmt? Ohne jeden Zwang?«

»Du kannst völlig frei entscheiden.«

»Okay, dann glaube ich euch.« Er lehnte sich zurück, über sich selbst erstaunt. »Ich hasse es, das zuzugeben, aber dieses Nichtwissen fängt langsam an, mir zu gefallen. Ihr müsst verstehen, dass ich das sonst nie tue. Ich meine, ich gehe nie ein Risiko ein oder vertraue jemandem ohne irgendeine Form von Garantie oder zumindest eine Vertraulichkeitsvereinbarung … aber wahrscheinlich wollt ihr keine solche Vereinbarung, oder?«

Jesus lachte. »Habe ich noch nie gebraucht.«

»Also, was soll ich tun?«

»Wir … warten. Wir schauen zu, wie das Feuer herunterbrennt.«

Eine merkwürdige Ruhe überkam Tony, die vielleicht auf sein Eingeständnis und die emotionale Katharsis zurückzuführen war. Doch was auch der Grund sein mochte, er atmete ruhig und tief und zog seinen Hocker noch näher an die brennenden Holzscheite, die tanzten und knisterten, fasziniert von ihrem eigenen feurigen Glanz.

»Jesus, habe ich dir schon gesagt, dass du … bemerkenswerte Augen hast?« Eigentlich hatte er »schön« sagen wollen, dann aber befürchtet, das könnte unpassend erscheinen.

»Ja, das höre ich oft. Habe sie von meinem Vater.«

»Josef, meinst du?«, wollte Tony wissen.

»Nein, nicht Josef«, antwortete Jesus. »Josef war mein Stiefvater, daher hat er keine Gene an mich weitergegeben. Ich wurde adoptiert.«

»Oh, du meinst«, Tony zeigte nach oben, »deinem Gott-Vater?«

»Ja, meinem Gott-Vater.«

»Deinen Gott-Vater mochte ich nie«, gab Tony zu.

»Du kennst ihn nicht«, sagte Jesus mit fester, warmherziger, gütiger Stimme.

»Ich will ihn auch gar nicht kennenlernen.«

»Zu spät, mein Bruder«, erwiderte Jesus. »Wie der Vater, so der Sohn.«

»Hmm«, brummte Tony, und wieder schwiegen sie längere Zeit, fasziniert vom Tanz von Hitze und Gas, während die Flammen ihre Beute verzehrten. Schließlich fragte Tony: »Dein Vater, ist das nicht der Gott des Alten Testaments?«

Großmutter war es, die antwortete, während sie aufstand und sich reckte. »Oh, der Gott des Alten Testaments! Der macht mich ganz verrückt!« Und damit drehte sie sich um und ging in den mit Decken verhangenen Nebenraum. Jesus schaute Tony an, und beide lachten, während sie ihre Gesichter wieder der verlöschenden Glut zuwandten.

Tony senkte die Stimme. »Jesus, wer genau ist diese Frau … Großmutter?«

»Ich habe dich gehört«, kam ihre Stimme aus dem anderen Raum. Tony grinste, schenkte ihr aber weiter keine Beachtung.

Jesus beugte sich zu ihm und flüsterte. »Heiliger Geist.«

»Diese Frau, diese Indianerin, ist der Heilige Geist?«

Jesus nickte, und Tony schüttelte den Kopf. »Das hatte ich so nicht erwartet. Ich dachte, der Heilige Geist wäre, nun ja, geisterhafter, fließender, mehr wie ein Kraftfeld«, flüsterte er, »nicht … eine alte Frau.« Er senkte die Stimme noch mehr, bis sie fast unhörbar war. »Ohne Zähne.«

»Hah!« Jesus lachte schallend, und die Stimme aus dem Nebenraum sagte. »Geisterhaft kann ich auch. Wenn du es gespenstisch oder fließend willst, kein Problem … und wenn du denkst, ich hätte keine Zähne, kennst du mich nicht sehr gut.«

Die Leichtigkeit ihrer Wortgeplänkel und ihr unkomplizierter Umgang miteinander waren für Tony völlig neu. Keine verborgenen Spannungen, keine Fettnäpfchen oder Minenfelder, die in den Gesprächen lauerten. Und ihre Worte schienen völlig frei von Hintergedanken. Alles war real, authentisch, mitfühlend, unbeschwert und höchst angenehm, und deshalb erschien es ihm fast schon gefährlich.

Ein paar Minuten vergingen, dann sagte Jesus leise: »Tony, du wirst eine Reise unternehmen …«

Tony lachte. »Das klingt mehr wie etwas, das Großmutter sagen würde: ›Du wirst eine Reise unternehmen, Enkelsohn‹ … als wäre das hier«, er machte eine alles umfassende Geste mit den Armen, »nicht längst schon eine Reise, oder etwa nicht?«

Jesus lachte leise und sanft. »Genau so etwas würde sie sagen. Wie dem auch sei, auf deiner ›Reise‹ ist es wichtig, dich daran zu erinnern, dass du niemals allein bist, was auch geschieht oder wie immer es sich anfühlen mag.«

»Muss ich das wirklich wissen?« Er legte Jesus die Hand auf den Arm. »Ich versuche zu verdrängen, dass ich schon längst in die Sache eingewilligt habe. Wenn du mich nervös machen willst, gelingt dir das hervorragend.«

Wieder lachte Jesus, ruhig und authentisch, und vermittelte Tony das tröstliche Gefühl, dass er wirklich an Tonys Seite war und immer für ihn da sein würde. »Es ist nicht meine Absicht, dich nervös zu machen. Ich wollte dir nur noch einmal versichern, dass ich dich niemals verlassen werde.«

Tony holte tief Luft und suchte nach den richtigen Worten. »Ich … denke, ich glaube dir. Warum, weiß ich nicht genau. Vielleicht wegen meiner Mutter.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Übrigens, danke für alles. Ich meine, dass du bei mir warst, als ich auf dem Weg hier herauf zusammenbrach.«

Jesus nickte und klopfte ihm auf die Schulter. Dann fuhr er fort: »Großmutter und ich möchten dir ein Geschenk mitgeben, das du an einen Menschen auf deiner Reise weitergeben kannst.« Als wäre es das Stichwort, schlug Großmutter die Decken zur Seite und kam aus dem Nebenraum. Sie hatte ihr tiefschwarzes Haar gelöst, das jetzt locker und frei auf ihre Schultern fiel und einen starken Kontrast zu ihrem runzeligen und doch leuchtenden Gesicht bildete. Sie strahlte behagliches Wohlbefinden aus.

Großmutter streckte und reckte sich. Sie kratzte sich unter ihrem Kinn, wo an ihrem Kittel ein Knopf fehlte. »Ich werde alt«, ächzte sie. »Aber was soll man da machen?«

»Was auch immer!«, neckte Tony sie. Diese Frau war vermutlich älter als das Universum. »Sport treiben und eine Diät machen«, schlug er mit einem Lächeln vor, das sie erwiderte.

Sie ließ sich auf den Hocker neben ihm plumpsen, rutschte ein bisschen hin und her, bis sie bequem saß, und währenddessen zog sie aus den Falten ihres Kleides etwas, das wie Lichtfäden aussah. Starr vor Überraschung beobachtete Tony, wie sie geschickt die verschiedenen Enden miteinander verflocht, ganz ohne Gedanken oder Absicht die leuchtenden Fäden zusammenwebte. Licht berührte Licht, die verschiedenen Farben der Fäden mischten sich, und Transformationen begannen. Ein Faden aus irisierendem Aquamarin wurde zu tausend Schattierungen tanzenden Grüns, Rot verwob sich mit Lila, während zwischendrin Weiß hervorleuchtete. Mit jeder neuen Schattierung, jedem neuen Farbton ertönten leise Klänge. Sie mischten sich und schwollen zu einer Harmonie an, die Tony in seinem Körper spüren konnte. Zwischen Großmutters Fingern erschienen Formen, dunkle Räume zwischen den Lichtstücken, die drei oder noch mehr Dimensionen hatten.

Diese Muster und Figuren wurden immer komplexer, und plötzlich begannen in der tiefen, schweren Schwärze zwischen den Lichtfäden kleine Explosionen, Feuerwerksmuster wie vielfarbige Diamanten, getragen von einem tintenschwarzen Hintergrund. Und sie verschwanden nicht. Erst hingen sie in der Leere, blinkend und schimmernd, und als ihre Töne sich vereinigten, fingen sie an zu tanzen, präzise choreografiert und doch frei und leicht. Es war absolut faszinierend, und Tony hielt unwillkürlich den Atem an, während er zusah. Er ahnte, dass der kleinste Lufthauch, ja selbst ein Flüstern Großmutters Schöpfungen in unvorhersehbare Richtungen davonschweben lassen und so möglicherweise alles ruinieren würde.

Großmutter öffnete die Arme weiter, um diesen Schatz umfangen zu können, und Tony wurde Zeuge, wie sich auf unmöglich scheinende Weise ein Schöpfungsgebilde entwickelte. Seine Augen sahen etwas, was sein Verstand nicht begreifen konnte. Er spürte die Klangharmonien nun in seiner Brust, und die Musik wuchs mit der Komplexität der Muster und Formen aus Dunkelheit und vielfarbigem Licht. Haarfeine Wellen aus brillanten Farben verwoben sich gezielt und absichtsvoll. Jede gegenseitige Durchdringung brachte eine Quanten-Partizipation hervor, Fäden zufälliger Gewissheit, Ketten chaotischer Ordnung.

Plötzlich lachte Großmutter wie ein kleines Mädchen und sammelte dieses großartige Gebilde ein, konzentrierte es, bis sie es in ihren gewölbten Händen hielt. Sie schloss die Hände, sodass Tony das Licht nur noch zwischen ihren Fingern pulsieren sehen konnte. Langsam führte sie die Hände vor den Mund, als wollte sie Glut anfachen. Wie eine kosmische Zauberin blies sie in ihre Hände, öffnete sie, breitete die Arme aus und erzeugte so ein Gebilde wie ein fallendes Herz. Damit verschwand die Pracht.

Sie lächelte Tony an, der sie mit offenem Mund anstarrte. »Gefällt dir, was?«

»Ich bin sprachlos«, stammelte er. »Das war das Aufregendste, was ich je gesehen, gehört, gefühlt habe. Was hast du da gemacht?«

»Schnüre«, antwortete sie sachlich. »Erinnerst du dich an die Abnehmspiele aus deiner Kindheit?« Er nickte und dachte an die einfachen Formen aus Schnüren, die man sich um die Finger wickelte – ein Spiel, mit dem er sich als Kind gern vergnügt hatte. »Das war meine Version. Hilft mir, mich zu konzentrieren.«

»Also …« Er zögerte, wollte nicht ignorant wirken, hatte aber doch das starke Bedürfnis, nachzufragen. »Was ich da eben gesehen habe … ist das einfach so entstanden, rein zufällig, oder war es ein spezielles Design?«

»Das ist eine brillante Frage, Anthony. Was du gesehen, gehört und gefühlt hast, war eine winzige Demonstration von etwas ganz Bestimmtem.«

»Und um was handelte es sich?« Tony konnte kaum erwarten, es zu erfahren.

»Liebe! Hingebungsvolle, fürsorgliche Liebe!«

»Das war Liebe?«, fragte er und konnte kaum glauben, was sie da sagte.

»Eine winzige Demonstration von Liebe. Kindliches Spiel, aber doch real und wahr.« Sie lächelte wieder, während Tony sich zurücklehnte und versuchte, ihre Worte zu begreifen. »Noch etwas, Anthony: Das konnte dir nicht auffallen, aber ich habe bei meiner kleinen Komposition bewusst etwas weggelassen. Du hast die Harmonien des Lichts gehört und gespürt, wenigstens an der Oberfläche, aber bestimmt hast du nicht bemerkt, dass die Melodie fehlte, nicht wahr?«

Sie hatte recht. Tony hatte keine Melodie gehört, nur eine Symphonie aus Harmonien. »Ich verstehe nicht. Was ist die fehlende Melodie?«

»Du, Anthony! Du bist die Melodie! Du bist der Grund für die Existenz dessen, was du gesehen und so ungeheuer beeindruckend gefunden hast. Ohne dich hätte das, was du wahrgenommen hast, keinen Sinn und keine Form. Ohne dich wäre es einfach … zerfallen.«

»Ich verstehe nicht …«, begann Tony und schaute hinunter auf den Boden aus gestampftem Lehm. Er hatte das Gefühl, dass der Boden etwas unter seinen Füßen schwankte.

»Das ist in Ordnung, Anthony. Ich weiß, dass du noch nicht viel von dem glaubst, was du hier erlebst. Du hast dich verirrt und schaust aus einem sehr tiefen Loch empor, von wo aus du nur die Oberfläche sehen kannst. Das ist kein Test, bei dem du versagen könntest. Die Liebe wird dich niemals verdammen, weil du dich verirrt hast. Die Liebe wird dich dort nicht alleinlassen, aber sie wird dich auch nicht zwingen, aus deinem Versteck hervorzukommen.«

»Wer bist du?« Er hob den Kopf und schaute in diese Augen, und fast gelang es ihm, in ihnen das zu sehen, was er eben noch zwischen ihren Händen beobachtet hatte. In diesem Moment schien ihm der Name »Heiliger Geist« vage und ohne viel Inhalt.

Ihr Blick hielt seinem ohne Zögern stand. »Anthony, ich bin die, die mehr ist, als du dir auch nur ansatzweise vorzustellen vermagst, und die doch der Ankerplatz für deine tiefste Sehnsucht ist. Ich bin die, deren Liebe zu dir du nie verlieren und der du immer vertrauen kannst. Ich bin ein Feuer, ein Zorn, der allem Unwahren entgegensteht, das du über dich selbst glaubst. Ich bin die Weberin, du bist eine Lieblingsfarbe, und er« – sie deutete mit einem Kopfnicken auf Jesus – »er ist der Bilderteppich.«

Ein heiliges Schweigen senkte sich auf sie herab, und eine Zeit lang beobachteten sie einfach nur die Glut, die, von den Launen eines unmerklichen Atems angefacht, aufleuchtete und wieder verblasste.

»Es ist Zeit«, flüsterte Großmutter.

Jesus nahm Tonys Hand. »Das Geschenk, von dem ich vorhin gesprochen habe, besteht darin, dass du auf dieser Reise, die du unternehmen wirst, einen Menschen körperlich heilen kannst. Du kannst diesen Menschen frei auswählen, aber nur einen einzigen. Und wenn du diesen einen Menschen gewählt hast, endet deine Reise.«

»Ich kann jemanden heilen? Willst du damit sagen, ich kann jeden Menschen heilen, den ich heilen will?« Das war ein ganz und gar überraschender Gedanke. Sofort glitt seine Erinnerung zurück zu Gabriel, zu dem Moment am Bett seines fünfjährigen Sohnes, als dessen Hand schlaff geworden und ihm entglitten war. Und dann musste er an seinen eigenen Körper auf der Intensivstation denken. Er blickte auf die erlöschenden Reste des Feuers und hoffte, dass die beiden nicht mitbekommen hatten, was ihm gerade in den Sinn gekommen war. Er räusperte sich und fragte, um sich zu vergewissern, dass er Jesus nicht missverstanden hatte: »Jeden?«

»Vorausgesetzt, dieser Mensch ist nicht bereits gestorben«, sagte Großmutter. »Zwar wäre sogar das möglich, es ist aber in der Regel keine gute Idee.«

Tony merkte, dass seine Wahrnehmung seiner Umgebung sich verlangsamte, als würde er sie in einer Abfolge einzelner Bilder sehen. »Nur dass wir uns nicht missverstehen.« Auch das Sprechen fiel ihm jetzt schwer. »Jeden! Ich kann … jeden heilen, also … kann ich … jeden heilen, den ich heilen will?« Seine Gedanken und Worte kamen ihm wirr vor, aber er war zuversichtlich, dass Großmutter und Jesus ihn verstehen würden.

Jesus beugte sich dicht zu ihm. »Du für dich allein kannst niemanden heilen, aber ich werde bei dir sein. Und den, für dessen Heilung du betest, werde ich durch dich heilen. Aber diese Art von körperlicher Heilung ist letztlich immer nur vorübergehend. Selbst Geistheiler sterben irgendwann.«

»Jeden?«

»Ja, Tony, jeden.« Jesus lächelte, aber sein Lächeln fing an, sich von seinem Gesicht abzulösen. Tony griff in den leeren Raum hinaus und versuchte, es wieder an Ort und Stelle zu fixieren.

»Also gut«, murmelte er, kaum noch verständlich. »Muss ich … muss ich denn daran glauben, damit es funktioniert?« Wieder blickte er zum Feuer, auf die letzten Glutreste, von denen immer noch eine starke, sichere Wärme ausging. Er war nicht sicher, ob er die Antwort hörte. Später meinte er aber, Jesus habe geantwortet: »Bei der Heilung geht es nicht um dich, Tony.«

Er lehnte sich zurück und glitt davon.