10
ZWEI SEELEN IN EINEM KOPF
»Die Tragödie ist ein Werkzeug, durch das die Lebenden Weisheit erlangen können, kein Führer, nach dem man sein Leben ausrichten soll.«
Robert Kennedy
Molly öffnete Maggie und Cabby die Tür. Als Maggie auf zwei roten Schuhen mit abgebrochenen Absätzen hereinhumpelte, hob Molly fragend eine Augenbraue. Es war zu kalt gewesen, um barfuß zum Auto zu laufen, und anstatt auf einem Absatz zu hinken, hatte Maggie es vorgezogen, den anderen Absatz ebenfalls abzubrechen. Dann standen wenigstens beide Füße auf einer Höhe. Der gerissene Lederriemen des Schuhs war durch etwas Klebeband aus dem kirchlichen Werkzeugschrank ersetzt worden. Ihr Kleid war an mehreren Stellen eingerissen und ihr Haar immer noch zerzaust.
»Wow! Muss ja ein denkwürdiger Gottesdienst gewesen sein«, sagte Molly.
Maggie ging auf Strümpfen zum Mülleimer und warf die kaputten Schuhe weg. »Mädchen«, sagte sie lachend und kopfschüttelnd, »du hast ja keine Ahnung! In diese Kirche bekommen mich keine zehn Pferde mehr hinein, wenn Gott es nicht von mir verlangt! Ich habe meine Brücken dort nicht bloß abgebrochen, sondern buchstäblich in die Luft gesprengt.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Molly.
»Das weiß ich selbst nicht so genau, aber nach dem, was ich angerichtet habe, würde ich mir am liebsten ein Loch graben, das so groß wie Texas ist, und mich darin verkriechen.«
»Maggs, so schlimm kann es gar nicht sein. Wirklich, es findet sich immer ein Weg. Willst du mir denn nicht endlich erzählen, was los war?«
»Molly«, Maggie blickte auf, und ihr Mascara und Make-up waren offensichtlich nicht wasserfest, »du hättest ihre Gesichter sehen sollen, als ich schreiend durch die Kirche gerannt bin, mitten in Oh Happy Day. Ich habe geschrien, dass ich einen Dämon habe, und die Leute stoben auseinander und beteten und riefen nach Jesus, und dann ging mein verflixter Schuh kaputt, und ich hätte beinahe Bruder Clarence getötet.« Sie setzte sich und fing an zu weinen. Molly starrte sie mit offenem Mund an.
»Was habe ich nur getan?«, jammerte Maggie. »Ich habe den armen Clarence zu Tode erschreckt … den süßen, Jesus liebenden Clarence. Ab heute werde ich sagen, dass ich an Agoraphobie leide. Ich werde das Haus nicht mehr verlassen. So werde ich von heute an leben. Ich verkrieche mich in meinen vier Wänden. Sag den Leuten einfach, ich hätte eine ansteckende Geschlechtskrankheit, sodass mich niemand besuchen kommen darf.«
»Maggs«, Molly drückte sie an sich und gab ihr ein Küchentuch, damit sie sich das Geschmiere aus Make-up und Tränen abwischen konnte, »warum gehst du nicht und machst dich frisch? Zieh dir deinen gemütlichen Pyjama an, und ich mache dir einen Lemon Drop. Das hört sich für mich nach einem Lemon-Drop-Abend an. Und dann erzählst du mir alles in Ruhe.«
»Das klingt gut«, seufzte Maggie und stand langsam auf. »Ich muss sowieso schon seit über einer Stunde aufs Klo. Noch ein Grund, warum ich froh bin, wieder zu Hause zu sein. Glaub mir, es geht nichts darüber, auf dem eigenen Topf Pipi zu machen!«
»Jetzt geht das schon wieder los«, dachte Tony.
Maggie umarmte ihre Freundin erneut. »Molly, meine Liebe, ich weiß nicht, was ich ohne dich, Cabby und Lindsay machen würde. Ich wette, du hattest keine Ahnung, dass du mit Hurrikan Katrina zusammenwohnst, mit so einer Naturkatastrophe wie mir. Glaubst du, die Leute drüben in deiner weißen Kirche hätten etwas dagegen, wenn eine leicht übergewichtige, aber gepflegte und ruhige schwarze Frau sich einschleicht, um ein paar Lieder mitzusingen? Ich verspreche, dass ich sogar im Takt klatsche.«
»Jederzeit, Maggs!«, lachte Molly. »Wir könnten dort ein bisschen Leben gut gebrauchen.«
Maggie ging zu ihrem Schlafzimmer und dem eigenen Badezimmer. Unterwegs begegnete sie Cabby, der bereits seinen Spiderman-Anzug trug. Er stellte sich vor sie hin und hob beide Hände. »Stopp!«, befahl er.
Sie gehorchte, vor allem, weil ein solches Verhalten ganz untypisch für Cabby war. »Was hast du? Alles okay, Cabby?«, fragte sie.
Er zeigte auf ihre Brust und schaute sie eindringlich an. »Too-ny!« Er zeigte erneut auf Maggies Herz. »Too-ny.«
»Entschuldige, junger Mann. Manchmal bin ich etwas schwer von Begriff.«
»Freund«, sagte Cabby.
»Tony?«, wiederholte sie.
Cabby nickte heftig und zeigte auf Maggies Brust. »Too-ny. Freund.«
»Tony ist dein Freund?« Sie sagte es langsam, verwundert.
Cabby nickte und klopfte sich auf die Brust. »Freund.« Damit betrachtete er seine Mission offenbar als erfüllt, umarmte Maggie und eilte in Richtung Küche davon.
Maggie lehnte sich verwirrt gegen die Wand. Sie beschloss, das Geheimnis zu entschlüsseln, während sie auf dem Klo saß.
Tony, der diese Szene zwischen Cabby und Maggie miterlebt hatte, war noch verblüffter als sie. Wer war dieser Junge, und wie war es möglich, dass er all diese Dinge wusste? Doch nun sah er sich wieder jenem Dilemma gegenüber, durch das der ganze Aufruhr ursprünglich entstanden war. Wer hätte gedacht, dass ein simpler Toilettengang solche unerwarteten Konsequenzen nach sich ziehen konnte?
In diesem Moment erinnerte sich Tony an das, was Großmutter gesagt hatte: dass er sich in schwierigen Situationen »umdrehen« sollte. Er versuchte, dies mental zu tun, aber nichts geschah. Der kleine Tanz, dachte er, diese Vierteldrehung. Er probierte es und stellte fest, dass er sich tatsächlich »umdrehen« konnte. Er schaute nicht mehr durch das »Augenfenster«, sondern in die Dunkelheit dahinter.
Es dauerte einen Moment, bis er sich an das dort herrschende Dämmerlicht gewöhnt hatte, aber dann entdeckte er zu seiner Überraschung, dass er an der Rückseite eines großen Zimmers stand, fast als stünde er mit dem Rücken vor den Fenstern dieses Raumes, vor denen sich wechselnde Szenen abspielten. Jemand hatte ihm einmal gesagt, die Augen seien die Fenster der Seele, und vielleicht stimmte das tatsächlich. Nun blickte er von diesen Augen aus in Maggies Seele. Aus dem Badezimmer hinter ihm fiel Licht herein, das undeutliche Schatten auf die weit entfernte gegenüberliegende Wand warf. Offenbar hingen dort viele Fotos und Bilder. Aber sie waren so weit entfernt, dass er sie nicht klar erkennen konnte.
Später würde er sich den Raum genauer ansehen, aber einstweilen spürte er, dass Maggie fertig war. Also drehte er sich wieder hüpfend um.
Maggie beschloss, zunächst einmal die Reste des Make-ups zu entfernen. Sie schaltete auf Autopilot – weibliche Routine, die darin bestand, prüfend hinzuschauen, wegzuwischen, wieder zu inspizieren, noch mehr zu wischen und zu tupfen, und dann endlich die Erleichterung, die sich einstellt, wenn alle Öle und Farben entfernt sind.
Als Nächstes nahm sie ihr Tropfen-Amulett und ihre Ringe ab, alle fünf. Sie legte den Schmuck in die Schublade des Frisiertischs, an dem sie saß, jedes Teil an seinen Platz. Dabei bemerkte sie, dass ein Ohrring fehlte. Er gehörte zu einem Paar billiger Edelsteinohrringe, die ihre Mutter ihr geschenkt hatte, ein persönliches Geschenk von einer Frau, die fast völlig mittellos lebte. Wahrscheinlich hatte sie ihn bei ihrem Sturz in der Kirche verloren. Sie würde gleich morgen früh dort anrufen und bitten, dass man danach suchte. Vielleicht würde sie sogar selbst die Staubsauger überprüfen müssen. Aber im Moment konnte sie in der Sache nichts unternehmen. Die Kirche war geschlossen und zugesperrt. Sie verließ ihr Badezimmer und ging hinüber zur Küche, in freudiger Erwartung des Cocktails.
Molly hatte den Lemon Drop vorbereitet, gekrönt von einem Zuckerrand, der dem ersten Schluck etwas von seinem scharfen Biss nahm. Langsam und angenehm floss er durch ihre Kehle. Maggie kuschelte sich in einen der beiden großen Sessel, Molly in den anderen, mit ihrer abendlichen Tasse Tee, in der noch der Beutel hing. Cabby lag bereits behaglich im Bett.
Molly grinste spitzbübisch. »Na«, sagte sie, »dann mal los! Ich will die ganze Geschichte hören, mit allen gruseligen Details.«
Also legte Maggie los, bis sie beide prusteten wie zwei Schulmädchen und sich vor Lachen den Bauch hielten. Molly trank inzwischen ihren dritten Tee, während Maggie noch an ihrem ersten Lemon Drop nippte. Sie mochte den Geschmack des Alkohols, aber diese Bestie hatte in ihrer Familie großen Schaden angerichtet, und sie hatte nicht die Absicht, dem Alkohol mehr Aufmerksamkeit zu widmen als ein gelegentliches freundliches Kopfnicken im Vorübergehen.
»Maggs, was ich nicht verstehe«, sagte Molly, »ist die Sache mit diesem Tony. Hast du eine Idee, wer das sein könnte?«
Maggie schüttelte den Kopf. »Du meinst, der Dämon? Ich hatte gehofft, da könntest du mir vielleicht weiterhelfen. Cabby sagt, Tony ist sein Freund.«
»Sein Freund?« Maggie dachte einen Moment nach. »Ich weiß von keinem Tony, mit dem Cabby befreundet wäre.« Sie schaute ihre Freundin wieder an, die mit dem Glas vor dem Mund erstarrt war, die Augen angstvoll geweitet.
»Maggie, was ist?«, fragte Molly und nahm ihr das Glas aus der Hand. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!«
»Molly«, flüsterte Maggie. »Er hat gerade etwas zu mir gesagt.«
»Wer denn? Und warum flüsterst du?«
»Der Typ, den ich für einen Dämon halte … Tony«, zischte Maggie mit zusammengepressten Zähnen.
»Tony? Oh, du meinst der Tony?« Sie lehnte sich zurück und fing an zu lachen. »Maggs … für einen Moment dachte ich, du meinst es ernst.« Aber Maggie rührte sich immer noch nicht. Molly erkannte nun, dass es kein Scherz war.
»Entschuldige, Maggie, ich habe niemanden reden hören und dachte, du nimmst mich auf den Arm.« Maggie starrte konzentriert in die Ferne, als sei sie beschäftigt. »Was hat er denn gesagt, dein Tony?«, fragte Molly und beugte sich etwas näher zu ihr vor.
Maggie schien sich regelrecht losreißen zu müssen von dem, was da ihre Aufmerksamkeit beanspruchte. »Erstens: Er ist nicht mein Tony. Und zweitens: Er redet wie ein Wasserfall und lässt mich gar nicht zu Wort kommen. Tony?« Sie legte die Hand ans Ohr, als höre sie über Kopfhörer. »Tony? Tony, kannst du mich hören? … Du kannst? Gut. Dann halt für einen Moment den Mund. Danke! So ist es besser … ja. Ich werde es Molly erklären, okay, Tony? Ja, ich rede gleich wieder mit dir.«
»Molly!« Ihre Augen wurden noch größer. »Du wirst es nicht glauben! Vielleicht verliere ich den Verstand … nein, Tony, ich bin ruhig … lass mich das auf meine Weise verarbeiten, ja? Tony – sei still! Ja, ich weiß, du hast eine Menge zu erzählen, aber jetzt brauche ich eine Pause. Ich muss mir darüber klar werden, was, verdammt noch mal, hier eigentlich vor sich geht. Ist dir überhaupt klar, in was für einen Schlamassel du mich hineingeritten hast? Nein, bitte fang nicht an, dich zu entschuldigen! Ich werde mich nie wieder in diese Kirche wagen. Und jetzt hör einen Moment auf zu quatschen und lass mich mit Molly reden, okay? Danke!«
Sie wandte sich Molly zu. »Ich rede mit einem Idioten«, flüsterte sie. »Oh, du hast es gehört? Hörst du etwa alles, was ich sage, du Schnüffler? Mein schlimmster Albtraum – kein Privatleben.«
Wieder richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Molly, die sie mit aufgerissenen Augen anstarrte, die Hand vor dem Mund. Maggie beugte sich vor und ließ ihrem Ärger freien Lauf. »Ich weiß, ich habe Gott gesagt, dass ich mir einen Mann in meinem Leben wünsche, aber so hatte ich das wirklich nicht gemeint! Ich hatte …«, sie schaute zum Himmel, als bete sie, »eher an einen wie den Kirchenvorsteher Clarence gedacht, danke, Jesus.«
Sie hielt einen Moment inne, legte den Kopf schief und fragte: »Jetzt sag mir: Bist du schwarz oder weiß? Wie bitte? Na, du weißt schon – die Hautfarbe. Bist du ein Schwarzer oder ein Weißer?«
»Oh, mein Gott!« Sie wandte sich wieder Molly zu. »Molly, in meinem Kopf wohnt ein weißer Mann! Tony, nun sei doch mal still … was meinst du, du hast ein bisschen dunkle Hautfarbe in dir? Was? Du hast eine indianische Großmutter? Na ja, dann würde ich sagen, dass du etwas Indianisches in dir hast. Was? Sie ist nicht deine biologische Großmutter? Das ist keine hilfreiche Information, Tony. Warum hältst du also nicht einfach den Mund und lässt mich mit Molly reden, okay? Danke.«
Sie sank in ihren Sessel zurück. Durch die Aufregung hatte sich eine Haarsträhne gelöst, die sie sich aus der Stirn pustete. Sie schaute Molly an und fragte: »Und, wie war dein Tag?«
Molly spielte mit, auch wenn sie nach wie vor keine Ahnung hatte, was da eigentlich vor sich ging. »Oh, das Übliche. Bin ins Krankenhaus gefahren, um während der Tests bei Lindsay zu sein. Heute Abend sind Nance und Sarah bei ihr. Ich habe ganz vergessen, dir zu erzählen, dass Cabby gestern dort Verstecken gespielt hat. Ich habe ihn drüben in der OHSU gefunden, auf der neurologischen Intensivstation. Beinahe hätte er einem halb toten Mann die Stecker herausgezogen … keine große Sache, also. Und du?« Sie trank einen Schluck Tee.
»Oh, nichts Besonderes, wie bei dir. Ich habe mich nur vor dem ganzen Universum zur Närrin gemacht, weil ich dachte, ich wäre von einem Dämon besessen. Aber die Sache ist halb so wild. Da ist bloß so ein weißer Typ in meinen Kopf hineingekrochen, weißt du. Erlebt man ja jeden Tag.«
Sie schwiegen einen Moment, dann sagte Maggie: »Molly, es tut mir so leid! Wegen dieser verrückten Tony-Sache habe ich ganz vergessen, dich zu fragen, wie es Lindsay geht. Ich habe nur an mich gedacht.«
Ehe Molly antworten konnte, fuhr Maggie fort: »Tony, bist du noch da? Aha. Das hatte ich befürchtet. Jedenfalls, Tony, Molly hat eine süße kleine Tochter. Ihr Name ist Lindsay, und sie ist das süßeste Mädchen der Welt, erst vierzehn. Vor ungefähr einem Jahr …« Sie schaute Molly an, um sich zu vergewissern, dass es in Ordnung war, wenn sie darüber sprach. »… wurde Lindsay krank, und vor sechs Monaten wurde bei ihr AML diagnostiziert, akute myeloische Leukämie. Seitdem macht sie eine wirklich schwere Zeit durch. Während wir beide also in der Kirche für Wirbel sorgten, war Molly in der Doernbecher-Kinderklinik bei Lindsay. Hast du das alles verstanden? Gut … ja, das tut uns allen sehr leid, aber die Dinge sind nun einmal, wie sie sind. Wenn du weißt, wie man betet, könntest du am besten jetzt gleich damit anfangen.«
Sie wandte sich wieder Molly zu. »Was wolltest du sagen, bevor ich dir ins Wort gefallen bin? Es fühlt sich an, als würde ich mich gleichzeitig mit einer dritten Person am Telefon unterhalten. Aber eine Konferenzschaltung ist offenbar nicht möglich, tut mir leid.«
Molly winkte ab. »Kein Problem, auch wenn ich keine Ahnung habe, was da gerade los ist in dir.« Sie schwieg kurz und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes. »Lindsay kämpft, so gut sie kann. Sie erwarten, dass die Werte in den nächsten ein bis zwei Tagen auf null zurückgehen, genau rechtzeitig für die nächste Chemo. Ich frage immer wieder nach einer Prognose, aber du bist Krankenschwester, du weißt ja, dass die Ärzte lieber wenig sagen, um keine falschen Hoffnungen zu wecken. Ich wünschte, ich könnte mit dem Zauberer hinter den Kulissen reden, der für all diese Verzögerungen verantwortlich ist.«
»Das kann ich gut verstehen, Liebling, und ich weiß, dass das kein großer Trost ist, aber Lindsay ist im Doernbecher wirklich gut aufgehoben. Einige der brillantesten Ärzte der Welt praktizieren dort. Dass wir zusammenwohnen und ich dort arbeite, ist ein bisschen heikel wegen der ärztlichen Schweigepflicht. Aber wir müssen einfach darauf vertrauen, dass Gott bei uns ist, inmitten all der Sorgen.«
»Das versuche ich, Maggie. Aber an manchen Tagen fällt es mir schwerer als an anderen. Manchmal glaube ich sogar, dass Gott anderswo beschäftigt ist und sich um wichtigere Leute kümmert oder dass er mich bestraft, weil ich etwas falsch gemacht habe …«
Molly senkte den Kopf, und ihre Tränen, denen sie in dieser schweren Zeit stets nah war, begannen zu fließen. Maggie nahm ihr sanft die Tasse aus der Hand, stellte sie auf den Couchtisch, schloss ihre Freundin in die Arme und ließ sie sich ihre Traurigkeit von der Seele reden.
»Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch beten soll«, stammelte Molly schluchzend. »Ich gehe dort hinauf, und in jedem Zimmer sitzen Väter und Mütter und warten, warten darauf, wieder lächeln zu können, wieder lachen und leben zu können. Wir alle halten den Atem an und hoffen auf ein Wunder. Und ich fühle mich so selbstsüchtig, wenn ich darum bete, dass Gott meinen Schatz heilt, dass ich irgendwie seine Aufmerksamkeit errege und er mir sagt, was ich tun soll. Und genau so beten die anderen für ihre Kinder. Ich begreife es nicht. Es ist so furchtbar schwer. Warum gerade Lindsay? Sie hat nie einer Fliege etwas zuleide getan. Sie ist gut und schön und zerbrechlich. Und dort draußen gibt es eine Menge Leute, die anderen schweren Schaden zufügen, und sie sind gesund, während meine Lindsay …« Eine Sturmwelle aus lange unterdrückter Wut und Verzweiflung brach aus ihr heraus und wurde zu einer wahren Tränenflut.
Maggie sagte nichts. Sie hielt ihre Freundin ganz fest in den Armen, strich ihr durchs Haar und reichte ihr Papiertaschentücher. Manchmal hilft Schweigen mehr als tausend Worte, und der größte Trost liegt darin, dass einfach nur jemand da ist und dich festhält.
Tony, der Zeuge des Ganzen wurde, zutiefst bewegt von Maggies großem Mitgefühl für ihre Freundin, fand dennoch einen Weg, sich zurückzuziehen, als würde er sich umdrehen und nach hinten ins Zimmer gehen, weg von den Augen-Fenstern. Natürlich tat ihm die Frau leid. Wenn jemand wusste, was sie durchmachte, dann er. Aber er kannte sie und ihre Tochter nicht, und wie sie selbst gesagt hatte, gab es eine Menge anderer Familien, die sich in der gleichen Situation befanden. Im Grunde kümmerte es ihn nicht wirklich. Was die Möglichkeit anging, einen einzigen Menschen zu heilen, hatte er einen größeren und wichtigeren Plan, und darin kam Lindsay nicht vor. Es machte ihn sogar etwas wütend, dass Gott ihn auf diese Weise zu manipulieren versuchte, ihn in eine Lage brachte, die ihn in Versuchung führte, von seinem Ziel abzuweichen.
»Danke, Maggs«, sagte Molly, die sich für den Moment etwas erleichtert fühlte. Der Druck würde zurückkehren, das wusste sie, aber nicht heute. Sie schnäuzte sich die Nase und wechselte das Thema.
»Erzählst du mir mehr über deinen neuen Freund?« Ihre Augen waren geschwollen und gerötet, aber sie lächelte.
»Mein neuer Freund – hah! Tony ist nicht mein Freund.« Dann lachte Maggie tief und kräftig und klatschte sich dazu aufs Knie. »Aber ich muss zugeben, dass es eine tolle Geschichte ist.« Sie schien es mehr zu sich selbst zu sagen. »Also, Tony. Du hast es gehört. Wer bist du und warum bist du hier? Und wie kommt es, dass Cabby dich kennt und weiß, dass du in mir drin bist?«
Tony erklärte es ihr, und indem Maggie die Antworten an Molly weitergab, gelang es ihnen in diesem indirekten Dreiergespräch, die Fäden der Geschichte allmählich zusammenzufügen. Das gab mehr als eine Überraschung. Tony erzählte ihnen von seinem Zusammenbruch und Koma und auch davon, wie er sich mit Jesus und dem Heiligen Geist unterhalten hatte und von ihnen gebeten wurde, sich auf eine Reise einzulassen, die ihn mitten hinein in Maggies und Mollys Welt geführt hatte.
»Dann warst du also in Cabbys Kopf, ehe du in mich hineingeraten bist, und deshalb weiß Cabby Bescheid?«, fragte Maggie.
»Anders kann ich es mir nicht erklären«, antwortete Tony. Er berichtete, wie Cabby sich in Tonys Krankenzimmer versteckt hatte, dass also er der »halb tote Mann« war, der auf der Neurologie im Koma lag. Dann beschrieb er den Tag, den er mit – oder in – Cabby in der Schule verbracht hatte.
»Cabby ist ein bemerkenswerter junger Mann. Wisst ihr, dass er in einem Spielzeuggitarrenkoffer unter seinem Bett eine Kamera versteckt?«
Molly lachte, als Maggie an sie weitergab, was Tony gerade gesagt hatte, aber sie interessierte etwas anderes. »Wie bist du denn in ihn hineingelangt, und von ihm hinüber zu Maggie?«, wollte sie wissen.
»Das weiß ich wirklich nicht«, antwortete Tony. »Vieles von dem, was hier vorgeht, ist immer noch ein totales Rätsel für mich.« Er war sich nicht sicher, warum er log. Vielleicht verschaffte es ihm ja einen Vorteil, wenn er zunächst einmal Informationen zurückhielt. Und selbst diesen beiden Menschen mochte er noch nicht vertrauen. Vielleicht gab es aber auch einen tieferen Grund. Jedenfalls tat er es mit einem Achselzucken ab, wie schon viele Male zuvor.
»Hmm«, machte Maggie, nicht überzeugt. »Und warum bist du nun hier, in unserer Welt?«
»Das weiß ich wirklich nicht«, antwortete er, was zumindest teilweise zutraf. »Ich nehme an, wir müssen diesbezüglich einfach Gott vertrauen.« In seinem Mund klangen diese Worte künstlich und falsch. Er zuckte innerlich deswegen zusammen, aber es war ein leichter Weg, die Frage zu umgehen. »Nun, Maggie, erzähl doch mal, wie ihr beide euch kennengelernt habt«, wechselte er das Thema.
Maggie erklärte ihm, dass sie als examinierte Krankenschwester im Aushilfsdienst in der OHSU und der Doernbecher-Klinik arbeitete. Um ihren Vertrag zu behalten, musste sie monatlich eine bestimmte Mindestzahl an Aushilfsstunden leisten, aber in der Regel arbeitete sie weitaus mehr. Portland war der Endpunkt einer langen Wanderung nach Westen, nachdem der Hurrikan ihre Familie in New Orleans dezimiert hatte. Die übrig gebliebenen entfernten Verwandten hatten in Texas Wurzeln geschlagen, aber sie wollte etwas anderes, eine grünere Umgebung. Also übernahm sie Jobs an der Pazifikküste, bis sie schließlich in der großen Universitätsklinik oben auf dem Hügel gelandet war.
»Hast du daher deinen Akzent?«, fragte Tony.
»Ich habe keinen Akzent«, gab Maggie zurück. »Ich habe eine Geschichte.«
»Wir haben alle unsere Geschichte«, fügte Molly hinzu. »Jeder von uns ist eine Geschichte. Cabby war es, der uns beide zusammenbrachte. Das ist schon eine Weile her. Es war, bevor Lindsay krank wurde. Ich entdeckte dieses Haus, aber allein hätte ich es mir nie leisten können …«
»Und ich war schon einige Zeit in der Stadt und suchte nach einem Zuhause, wo ich mich für länger niederlassen konnte«, sagte Maggie.
»Eines Tages«, fuhr Molly fort, »kaufte ich mit Cabby im Supermarkt ein. Und er schob den Einkaufswagen in diese Pyramide aus Melonen. Wie zufällig war Maggie dort und half mir, die Sauerei zu beseitigen. Dabei lachte sie die ganze Zeit und verwandelte ein ärgerliches Missgeschick in eine neue Möglichkeit. Sie war die Antwort auf ein Gebet. Das ist es, was Maggie ist: ein wirkliches Geschenk Gottes.«
Maggie lächelte. »Das Gleiche würde ich über Molly und ihre beiden Kids sagen. Wegen meiner ›Geschichte‹ ist ein Zuhause nicht ein Ort, zu dem man gehört, sondern Menschen, zu denen man gehört. Ich gehöre hierher.« Tony fühlte, dass sie die Wahrheit sagte. Und plötzlich fühlte er sich einsam. Rasch wechselte er wieder das Thema.
Im Verlauf der nächsten Stunde versuchte Tony zu erklären, wie es war, im Kopf eines anderen Menschen zu sein, die Welt durch Maggies Augen zu sehen und doch etwas anderes als sie anschauen zu können, solange es sich in ihrem Gesichtsfeld befand. Er musste es Maggie einige Male demonstrieren, ehe sie überzeugt war. Um Maggies Sorgen in puncto Anstand und Schicklichkeit zu zerstreuen, beschrieb er ihr, wie er sich hüpfend herumdrehen konnte, bis er nichts mehr durch ihre Augen sah. Aber von dem großen Raum mit den Bildern, den er hinter ihren Augen sah, erzählte er ihr nichts. Er vermied es, seine Heilungsgabe zu erwähnen, und auch die leere Einöde seiner eigenen Seele. Jack, der für Tony immer noch ein Rätsel war, ließ er bei seinem Bericht ebenfalls außen vor.
Sie stellten ihm eine Menge Fragen über Jesus, und als er ihnen erzählte, Großmutter, der Heilige Geist, sei eine alte Indianerin, glaubten sie, er wolle sie veralbern.
»Das kann doch alles gar nicht wahr sein«, sagte Molly irgendwann. »Maggie, ich rede hier durch dich mit einem Mann, der in deinem Kopf wohnt. Wir dürfen niemandem davon erzählen. Alle würden uns für verrückt halten! Ich halte uns für verrückt!«
Es war schon weit nach Mitternacht, als Maggie und Molly ihre Planung für die kommenden Tage besprachen, um sich gegen alle Eventualitäten abzusichern.
»Na, dann will ich hoffen, dass euer Stelldichein nicht die ganze Nacht dauert«, sagte Molly kichernd. Ehe sie auf ihr Zimmer ging, schaute sie, wie sie es immer tat, noch nach Cabby.
Maggie dachte einen Moment schweigend nach. »Also«, sagte sie schließlich, »das ist wirklich unangenehm!«
»Meinst du?«, erwiderte Tony.
»Kannst du meine Gedanken lesen, ich meine, weißt du, was ich denke?«
»Nein, ganz bestimmt nicht! Ich habe keine Ahnung, was du denkst.«
»Uff!« Sie atmete erleichtert auf. »Gott sei Dank. Wenn du in der Lage wärst, meine Gedanken zu lesen, würde ich sofort die Scheidung einreichen.«
»Eine Scheidung habe ich schon hinter mir«, gestand er.
»Na, davon kannst du mir ein anderes Mal erzählen. Ich bin müde und möchte ins Bett gehen. Aber ich weiß nicht, wie ich einschlafen soll, wenn du, na, du weißt schon, in mir herumgeisterst.«
»Vielleicht hilft es ja, wenn ich dir versichere, dass ich bestimmt nicht die ganze Zeit in deinem Kopf sein werden«, sagte er. »Ich war auch nicht ständig in Cabby. Irgendwie hat er Gott mitgeteilt, dass er mich nicht in seinen Träumen haben will, und so war ich nicht anwesend, während er schlief. Ich war solange wieder bei Jesus und Großmutter.«
»Gütiger Gott, ich will nicht, dass dieser Mann in meinen Träumen ist. Amen! … Bist du noch da?«
»Ja, Entschuldigung! Ich weiß nicht, wie es weitergeht.«
»Na gut, dann finde es heraus und lass es mich wissen. Ich werde hier in diesem Sessel warten.« Damit zog Maggie eine Fleecedecke von der Couch und legte sie sich über die Beine. Sie stellte sich innerlich darauf ein, möglicherweise die ganze Nacht so zu verbringen.
»Maggie?«, fragte Tony zögernd.
»Tony?«, antwortete sie.
»Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«
»Vielleicht. Kommt darauf an.«
»Ich würde gerne morgen in die Uni-Klinik gehen und, nun ja, mich selbst besuchen.«
»Das ist der Gefallen? Du willst, dass ich dich ins Krankenhaus bringe, damit du dich selbst im Koma liegen sehen kannst?«
»Ja, das klingt vermutlich verrückt. Aber ich glaube, es muss sein.«
Maggie dachte ein paar Momente nach. »Offen gesagt, weiß ich nicht, ob das möglich ist – falls du morgen noch bei mir sein solltest. Ich arbeite nicht auf der neurologischen Intensivstation, und es gibt einen Bereich, wo nur nahe Verwandte und andere Besucher Zutritt haben, die auf einer Liste eingetragen sind. Und selbst dann dürfen immer nur zwei auf einmal herein, was in deinem Fall kein Problem darstellt. Dass Cabby es dort hineingeschafft hat, grenzt an ein Wunder, und ich bin sicher, dass sie darüber gar nicht glücklich sind. Hast du einen nahen Verwandten, den ich kontaktieren könnte, damit man uns in seinem Schlepptau dort hineinlässt?«
»Nein, habe ich nicht. Das heißt … nein, nein, nicht wirklich.« Er zögerte, und Maggie wartete mit fragend erhobenen Augenbrauen.
»Na ja, ich habe einen Bruder, Jacob. Aber ich weiß nicht, wo er ist. Wir haben seit ein paar Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Er ist wirklich alles, was ich habe, aber ich habe ihn nicht wirklich.«
»Keine anderen Verwandten?«
»Eine Exfrau an der Ostküste und eine Tochter, die bei ihr wohnt und ihren Vater hasst.«
»Hmm, hattest du immer schon eine so positive Wirkung auf andere Leute?«
»Ja, leider«, gab Tony zu. »Ich hatte so eine Tendenz, das Kreuz zu sein, das andere tragen müssen.«
Maggie sagte: »Ich bete gerade darum, dass Gott ein ganz bestimmtes Kreuz von mir nimmt, nur damit du es weißt. Aber falls du morgen früh trotzdem noch da bist, werde ich versuchen, einen Weg zu finden, dass du dich selbst besuchen kannst.« Sie schüttelte angesichts der Unglaublichkeit ihrer Situation den Kopf.
»Danke, Maggie. Übrigens glaube ich, dass du jetzt unbesorgt ins Bett gehen kannst, denn ich verschwinde …«
Diesmal spürte er, wie es anfing, und während er sich noch darüber wunderte, war er bereits fort. Wieder schlief er, im Dazwischen.