13

DER INNERE KRIEG

»Der Apostel sagt uns, dass ›Gott Liebe ist‹. Da Gott außerdem unendlich ist,
folgt daraus, dass er ein unendlicher Brunnen der Liebe ist. Daraus, dass Gott
ein unerschöpfliches Wesen ist, folgt, dass er ein überreicher, niemals versiegender
Brunnen der Liebe ist. Und da er ein unveränderliches und ewiges Wesen ist,
muss er ein unveränderlicher und ewiger Brunnen der Liebe sein.«

Jonathan Edwards

Hallo?«

Die Stimme überraschte Maggie. Sie ähnelte der Tonys, war aber leiser und von einer Sanftheit, die an Resignation grenzte. Maggie zögerte.

»Hallo? Wer ist denn da?«

»Entschuldigen Sie. Spreche ich mit Jacob Spencer?«

»Ja. Und wer sind Sie?«

»Hallo, Mr. Spencer, mein Name ist Maggie, Maggie Saunders, und … ich bin eine Freundin Ihres Bruders Tony.«

»Aha? Wir sind jetzt Freunde?«, redete Tony dazwischen. »Dein Freund zu sein ist ganz schön anstrengend.«

Sie hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.

»Ich wüsste nicht, dass mein Bruder je Freunde hatte. Kennen Sie ihn gut?«

»Intim.« Das falsche Wort. Sie wusste es sofort, als es ihr herausgerutscht war. »Ich meine, nicht intim wie … Sie wissen schon … nicht intim …« Sie verdrehte die Augen. »Wir waren nie liiert oder dergleichen, nur befreundet. Man verbringt etwas Zeit mit ihm, und schon geht er einem nicht mehr aus dem Kopf.« Sie hörte ein dankbares kleines Lachen am anderen Ende der Leitung.

»Oh ja, das passt zu dem Tony, wie ich mich an ihn erinnere. Was kann ich denn nun für Sie tun, Ms. Saunders?«

»Nennen Sie mich Maggie, bitte … sicher wissen Sie bereits, dass Tony oben in der OHSU im Koma liegt … haben Sie ihn schon besucht?«

Wieder eine Pause. »Nein, ich habe erst gestern davon erfahren. Die Polizei hat mich informiert. Ich habe mich noch nicht … dazu aufgerafft. Unser Verhältnis ist eher schwierig. Wir hatten ein Zerwürfnis. Trotzdem denke ich, dass ich ihn besuchen werde … vielleicht.«

»Mr. Spencer, ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten.«

»Sie können mich ruhig Jake nennen. Um was geht es denn?«

»Ich bin Krankenschwester und arbeite in der Klinik, aber in einer anderen Abteilung. Ich würde sehr gerne ab und zu nach ihm sehen und mich vergewissern, dass man sich gut um ihn kümmert. Weil ich aber kein Familienmitglied bin, bekomme ich keinen Zutritt. Also wollte ich fragen, ob …«

Jake sagte: »Entschuldigen Sie bitte, aber ich möchte sichergehen, dass Sie ihn wirklich kennen. Heutzutage kann man ja nicht vorsichtig genug sein. Kennen Sie die Namen seiner Exfrau und seiner Eltern?«

Tony gab Maggie die richtigen Antworten. Das schien Jake zufriedenzustellen.

»Maggie, darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?«

»Natürlich, Jake, fragen Sie.«

»Hat Tony jemals … ich meine, hat er«, seine Stimme wurde etwas brüchig, und Maggie hörte einen jüngeren Bruder, der hoffte, beinahe flehte. »Hat er je über mich gesprochen? Mich erwähnt?«

Tony schwieg, und Maggie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. »Jake, ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas anderes erzählen, aber Tony hat nie viel über seine Familie gesprochen. Das behielt er für sich.«

»Ja, ja … ich verstehe.« Jake klang enttäuscht, niedergeschlagen. »Ich wollte es nur gerne wissen, weiter nichts.« Er räusperte sich. »Also, Maggie, ich rufe sofort im Krankenhaus an und sage ihnen, dass sie Sie auf die Besucherliste setzen sollen. Und ich danke Ihnen! Ich weiß nicht, wie viel Sie ihm bedeuten. Aber ich bin dankbar, dass es in seinem Leben jemanden gibt, der sich um ihn sorgt … vielen Dank dafür!«

»Gern geschehen, Jake.« Dann kam ihr ein Einfall. »Jake, wo wohnen Sie denn? Vielleicht …« Aber da hatte er schon aufgelegt.

»Tony?« Maggie lenkte ihre Aufmerksamkeit nach innen, und in ihrer Frage schwang eine Forderung mit.

»Ich will nicht darüber reden«, kam die barsche Antwort.

»Na gut. Wenn du es dir anders überlegst, weißt du ja, wo du mich findest«, sagte sie.

Tony reagierte nicht, und sie verspürte eine Art Leere. »Tony?« Immer noch nichts. Sie wusste, dass er dorthin gegangen war, wohin er zwischendurch auf geheimnisvolle Weise verschwand. »Lieber Gott«, betete sie, »ich habe keine Ahnung, was du vorhast, aber bitte heile die gebrochenen Herzen dieser beiden Brüder.«

Tony stand allein auf dem Weg und sah, wie die beiden Gestalten sich ihm langsam und vorsichtig näherten. Während er Zeit mit Maggie, Clarence und Horace Skor verbracht hatte, schien hier überhaupt keine Zeit vergangen zu sein. »Was ist die Zwischenzeit?«, wunderte er sich, während er sich rasch zu orientieren versuchte. Jack war tatsächlich verschwunden, und die beiden großen Gestalten näherten sich ihm aus vielleicht hundert Metern Entfernung.

Tony war überhaupt nicht in der Stimmung, Leute zu treffen, Nachbarn schon gar nicht. Er war voll und ganz mit seinen aufgewühlten Gefühlen beschäftigt. Maggies Gespräch mit Jake hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Unerfreuliche Erinnerungen waren dadurch plötzlich freigesetzt worden, von denen er geglaubt hatte, sie sicher in den Rumpelkammern seines Bewusstseins weggesperrt zu haben. Nun empfand er tiefen Selbsthass. Er hatte das Gefühl, dass seine inneren Schutzdämme dabei waren einzustürzen. Er konnte seine Gefühle nicht länger unterdrücken. Abwartend stand er da, nicht gewillt, die fremden Nachbarn freundlich auf seinem Grund und Boden zu empfangen.

Während sie sich näherten, befiel Tony ein sich ständig steigerndes Gefühl der Isolation und Einsamkeit, als würde er durch die Anwesenheit dieser beiden Gestalten in eine Ecke abgedrängt. Seltsamerweise schienen die beiden, die in der Ferne riesig gewirkt hatten, in sich zusammenzuschrumpfen, je näher sie kamen. Sie blieben vor ihm stehen, wobei sie sich gegenseitig wegzudrängen versuchten, als beanspruche jeder den besten Platz für sich. Aus kaum drei Metern Abstand starrten sie Tony an. Ein Fäulnisgestank ging von ihnen aus. Sie waren klein, nicht größer als einen Meter fünfzig.

So sonderbar sie aussahen, kam ihm ihr Auftreten doch seltsam vertraut vor. Der größere und schlankere der beiden trug einen dreiteiligen italienischen Seidenanzug, der viel von seinem Glanz verloren hatte und für ein Geschäftsessen unter Führungskräften kaum noch akzeptabel gewesen wäre. Der andere platzte förmlich aus seinem Outfit, bei dem es sich um einen wild zusammengenähten Materialmix aus gänzlich unpassenden Farbtönen handelte. In dieser kahlen, öden Landschaft schienen die beiden völlig deplatziert, was geradezu lächerlich gewirkt hätte, wäre nicht eine schleichende Beklemmung und Anspannung von ihnen ausgegangen.

Tony machte keine Anstalten, sie freundlich zu begrüßen. »Wer seid ihr beide denn, wenn ich fragen darf?«

Der Kleinere, Gedrungenere antwortete sofort mit schriller, atemloser Stimme: »Also, mein Name ist …«

Der Größere versetzte ihm einen Schlag auf den Hinterkopf, beugte sich zu ihm herunter und brummte in einem tiefen Bariton, als wäre Tony gar nicht anwesend: »Wir sollen ihm unsere Namen nicht nennen, du Idiot. Willst du uns in noch größere Schwierigkeiten bringen?« Dann lächelte er Tony an, eine breite, fast unheimliche Grimasse, und wedelte mit der Hand, als wäre sie ein Zauberstab. »Sie müssen entschuldigen, Sir, aber mein Freund hier vergisst manchmal, was sich gehört. Sie können uns Bill« – er zeigte mit dem Daumen auf seinen Begleiter – »und Gerry nennen.« Mit einer angedeuteten Verbeugung signalisierte er, dass der letztere Name zu ihm gehörte.

»Bill und Gerry?«, rief der kleine Gedrungene aus. »Etwas Besseres fällt dir nicht ein? Bill und Gerry?« Bill zuckte zusammen, als Gerry die Hand hob, um ihn ein zweites Mal zu schlagen.

Gerry besann sich eines Besseren, verzichtete darauf, Bill einen Schlag auf den Hinterkopf zu versetzen, und wandte sich Tony zu, wobei er den Eindruck zu erwecken versuchte, derjenige zu sein, der das Sagen hatte.

»Na gut … Gerry«, fragte Tony, »was tut ihr beiden hier?«

»Nun, Sir«, er rollte mit den Augen, als sei es eigentlich unter seiner Würde, eine solche Frage zu beantworten, »Wir … sind die Bewacher der Mauern. Jawohl, das sind wir!« Er sagte es mit gewichtiger Miene und wischte sich etwas Unsichtbares vom Jackenaufschlag.

»Ja«, schaltete Bill sich ein, »genau das sind wir … ja, Sir, Bewacher der Mauern. Mauerwächter. Zuständig für alle Mauern hier, jawohl. Und wir sind sehr fähige Bewacher und Bewahrer, oh ja, stets eifrig bei der Sache, und wir sind darin wirklich gut, wir sind …« Seine Stimme brach ab, als suche er vergeblich nach einem guten Abschluss für den Satz.

»Und wir sind Gärtner«, ergänzte Gerry. »Wir kümmern uns darum, Unkraut zu jäten.«

»Ihr jätet das Unkraut? Aber ich sehe hier überall Unkraut.«

»Nein, Sir, völlig unmöglich … verzeihen Sie, aber wir sind gut in dem, was wir tun – sehr, sehr gut … die Mauern bewachen und Unkraut jäten.« Während Gerry sprach, blickte er umher und entdeckte etwas. Seine Miene hellte sich auf. »Sehen Sie das, Sir, dort drüben?« Er zeigte mit einem fleischigen kleinen Finger auf eine Stelle ein paar Schritte seitlich des Weges, unter einem Felsvorsprung. Er ging dorthin, riss etwas aus und hielt es zufrieden hoch. Es war eine schöne wilde Rose, die schon allein durch seine Berührung dahinwelkte.

»Das ist eine Blume!«, rief Tony.

Gerry betrachtete sie gründlich. »Nein, ist es nicht! Es ist Unkraut. Sehen Sie? Sie hat eine farbige Blüte, also ist es Unkraut. Und es hat all diese fiesen, stechenden … hm …«

»Dornen«, schlug Bill vor.

»Ja, genau! Dornen. Warum sollte eine Blume Dornen haben? Das ist ein Unkraut! Und wir reißen es aus und verbrennen es, damit es sich nicht ausbreitet. Das ist es, was wir tun, und wir sind gut in dem, was wir tun, jawohl – sehr, sehr gut!«

Tony war empört. »Das ist mein Land, und ich erlaube es euch nicht länger, Blumen auszureißen und zu verbrennen … Unkraut, sogar Unkraut mit Dornen daran. Habt ihr verstanden?«

Die beiden sahen aus, als hätte man sie beim Stehlen aus der Keksdose ertappt. »Sind Sie sicher?«, fragte Großtuer. »Was ist, wenn dieses Unkraut mit seinen störenden Farben und Dornen das ganze Land überwuchert?«

»Ja, ich bin mir sicher! Kein Unkraut jäten mehr. Verstanden?«

»Na gut, Sir, wenn Sie es unbedingt wollen«, grummelte Beller. »Aber ich werde das auf keinen Fall den anderen sagen!«

»Andere?«, fragte Tony. »Wie viele von euch gibt es denn?«

»Hunderte!«, antwortete Bill sofort. Er schaute Gerry an, wohl um dessen Erlaubnis oder Einverständnis abzuwarten, da Gerry aber nicht reagierte, fuhr er fort: »Na gut: Tausende, es gibt Tausende von uns.« Er überlegte. »Ehrlich gesagt, es gibt Millionen von uns, die Unkraut jäten und die Mauern bewachen, denn das ist es, was wir tun … Millionen Mauerwächter und Unkrautjäter.«

»Nun, ich würde sie gerne treffen«, sagte Tony.

»Das geht nicht«, antwortete Gerry mit einem kriecherischen, künstlichen Lächeln.

»Warum nicht?«

»Weil … weil …« Bill suchte nach einer befriedigenden Antwort. »Weil wir alle unsichtbar sind, deshalb. Unsichtbar! Millionen unsichtbarer, Unkraut jätender Mauerwächter.«

»Aber euch beide sehe ich doch«, widersprach Tony.

»Oh, das«, sagte Bill. »Da ließ man uns keine Wahl. Wenn sie uns einen Auftrag erteilen, ist es besser, man tut, was sie sagen, sonst …«

Gerry versetzte Bill einen weiteren Schlag auf den Hinterkopf und präsentierte Tony sein aufgesetztes Grinsen.

»Und wer sind ›sie‹?«, fragte Tony streng.

»Nun«, erwiderte Gerry, »in jeder erfolgreichen Organisation gibt es eine Befehlskette zur Etablierung und Aufrechterhaltung der Ordnung. Diese …« Er schaute Bill an, als wäre das eine Art Trainingsaufgabe.

»… Wohltäter«, ergänzte Bill.

»Genau«, nickte Gerry, »diese Wohltäter haben uns gebeten, die Aufgabe zu erfüllen, mit der wir von unserer Organisation betraut wurden, und zwar …« Wieder schaute er seinen Partner an, der eifrig nickte, als sei er dabei, einen Prüfungsschein zu erwerben.

»… pflicht- und verantwortungsbewusst«, sagte Bill.

»Genau«, nickte Gerry, »pflicht- und verantwortungsbewusst zu Ihnen zu gehen und Ihnen klarzumachen, wie wichtig es ist, dass Sie sich von uns fernhalten – zu Ihrem eigenen Besten, versteht sich.«

»Mich von euch fernhalten? Ich verlange, eure Wohltäter zu sprechen!«

»Oh, das ist unmöglich«, stammelte Bill und schüttelte heftig den Kopf.

»Und warum nicht?«

»Weil Sie … explodieren würden, darum. Sie würden in Millionen winziger Stückchen zerplatzen. Winzige Knochensplitter und Fleischfetzen und anderes widerliches Zeug, das in Millionen Richtungen davonspritzen würde … gar nicht hübsch, oder vielleicht ein bisschen hübsch, auf eine ziemlich eklige Weise.« Bill schien sich richtig in Fahrt zu reden, während Gerry wissend nickte, mit geradezu reumütigem Blick und aufgeregt zitternder Unterlippe.

»Ich werde explodieren?«, rief Tony. »Glaubt ihr ernsthaft, dass ich euch diesen Unsinn abkaufe? Ich denke, es ist höchste Zeit, dass ihr mir eure wirklichen Namen sagt.«

Der Kleine schaute zu dem weniger Kleinen auf. »Nur ein Großtuer würde unsere Namen laut herausposaunen!«

Angewidert gab der andere zurück: »Genau das hast du gerade getan, du Idiot! Du lernst es nie, stimmt’s?« Er wandte sich Tony zu und fuhr in hochmütigem Ton fort: »Jetzt wissen Sie es also: Ich bin Großtuer.« Er deutete eine Verbeugung an, die aber nicht höflich, sondern arrogant wirkte. »Und dieser Schwachkopf hier« – er deutete mit dem Kopf auf seinen kleinen, untersetzten Begleiter – »ist Beller. Früher trug er den Namen Täuscher, aber er wurde kürzlich degradiert und« – er beugte sich vor, als würde er Tony in ein Geheimnis einweihen – »inzwischen ist Ihnen sicher klar, warum.«

»Ihr heißt Beller und Großtuer?«, wiederholte Tony ungläubig. »Das ist das Blödsinnigste, was ich je gehört habe! Wo habt ihr nur diese albernen Namen her?«

»Na, von Ihnen natürlich«, platzte Beller heraus, wofür er sich eine weitere Kopfnuss einfing.

»Sei still, du Tölpel!«, knurrte Großtuer. »Warum kannst du nicht die Klappe halten! Ego wird dich zu Mittag verspeisen, und dann ist Schluss mit …«

»Ruhig!«, befahl Tony. Überraschenderweise verstummten sie tatsächlich und wandten sich ihm zu. Man merkte ihnen an, dass sie hinter ihrem aufgesetzten, eingebildeten Getue anfingen, sich zu fürchten. Sie vermieden den direkten Augenkontakt mit ihm, blickten zu Boden oder schauten einander an. »Beller, was meinst du damit, dass ich euch diese Namen gegeben habe?«

Beller trat jetzt nervös von einem Bein aufs andere. Ein innerer Druck schien sich bei ihm aufzubauen. Schließlich konnte er nicht länger an sich halten. »Dann erkennen Sie uns gar nicht?«

»Warum sollte ich? Zwei so lächerliche Figuren wie euch.«

»Aber wir haben diese Namen von Ihnen oder, besser gesagt, wir wurden nach Ihren Verhaltensweisen benannt! Wir gehören zu Ihnen. Sehen Sie: Wir sind Ihr Beller und Ihr Großtuer.«

»Das ist wahr«, sagte Großmutter, die ganz plötzlich neben Tony aufgetaucht war. »Sie sind hier, weil du ihnen eine Stimme und einen Platz in deiner Seele gegeben hast. Du hast geglaubt, dass du sie brauchst, um Erfolg haben zu können.«

Die beiden schienen Großmutter weder zu sehen noch zu hören, aber sie wurden jetzt noch nervöser als zuvor.

»Illegale Landbesetzer«, sagte Tony und gab damit gegenüber Großmutter zu, dass er allmählich begriff.

»Landbesetzer?«, kreischte Großtuer. »Wir sind keine Landbesetzer. Wir leben hier. Wir haben ein Recht, hier zu sein!«

»Das ist mein Land, mein Besitz«, sagte Tony mit Nachdruck. »Und ich werde nicht …«

»Was?«, schrie Beller und versuchte, größer und gefährlicher auszusehen. »Wer hat behauptet, das hier wäre Ihr Besitz? Jetzt habe ich aber genug von Ihrem anmaßenden Benehmen! Ich hätte große Lust, Ihnen …«

»Wozu genau hättest du Lust?«, fragte Tony drohend.

»Nun … ach, vergessen Sie es. Ich habe nur laut nachgedacht …« Beller schien nun, wo er auf Widerstand traf, noch kleiner zu werden.

»Und ich denke Folgendes: Ihr beide seid wie Mundgeruch. Ihr verschwendet meine Zeit. Ihr seid bloß Trugbilder, die ich erfunden habe, weil ich glaubte, um jeden Preis Erfolg haben zu müssen.«

Großtuer blickte auf und sagte: »Aber es hat doch funktioniert, oder etwa nicht? Immerhin waren Sie erfolgreich. Ich meine, wir haben gewonnen, Sie und wir. Sie sind uns etwas schuldig!«, winselte er und duckte sich unter Tonys Blick.

»Ich schulde euch etwas?«, fragte Tony, und die Erkenntnis bestürzte ihn. »Was habe ich denn schon durch euch gewonnen? Wieso hatte ich Großtuerei und Gebell nötig, um erfolgreich zu sein? Wenn ihr existiert, weil ich glaubte, euch zu brauchen, war ich ein größerer Dummkopf als ihr beide zusammen. Ich hätte nicht euch gebraucht, ich hätte Ehrlichkeit gebraucht, Anständigkeit und …«

»Unkraut!«, schlug Großtuer vor.

»Was?«

»Unkraut. Ehrlichkeit und Anständigkeit sind Unkraut, mit bunten Farben und Dornen, gefährliches Zeug.«

»Du solltest jetzt auch die anderen kennenlernen«, ermutigte Großmutter ihn, die weiterhin an seiner Seite stand.

»Ich verlange, dass ihr mich zu den anderen bringt«, wies Tony die beiden an. »Und tischt mir keinen Unsinn mehr auf – dass ich explodieren werde oder dergleichen.«

»Eine kleine Bitte«, schleimte der weniger Kleine, dem die Arroganz fast völlig vergangen war, »würden Sie Ego bitte sagen, dass Sie uns gezwungen haben, Sie zu ihm zu führen, dass wir keine Wahl hatten?«

»Ego? Das ist euer Wohltäter?« Er wartete, bis sie nickten. »Das Ego ist also euer Chef?«

»Oh ja«, gab Beller zu. »Ego ist stärker als wir. Ego sagt uns, was wir zu tun haben. Ego wird gar nicht glücklich sein, wenn wir Sie zu ihm bringen. Er wird das sofort dem großen Boss melden … upps!« Er verzog das Gesicht in Erwartung einer Kopfnuss, aber Großtuer hatte sich in wachsame Resignation zurückgezogen.

»Und wer ist dieser große Boss?«, fragte Tony.

Ein schlaues Grinsen huschte über Bellers Gesicht. »Na, Sie natürlich. Anthony Spencer, der bedauernswerte Eigentümer dieses blamablen Grundstücks. Sie sind hier der große Boss. Und man muss sich vor Ihnen in Acht nehmen, jawohl. Herzlos und hinterhältig ist er, der feine Herr Spencer!«

Tony wusste nicht, ob er die Beleidigung durch diese Kreatur persönlich nehmen sollte oder nicht. Er hatte genug von diesem Gespräch und wies sie mit einem Wink an, in die Richtung vorauszugehen, aus der sie gekommen waren. Mit Großmutter an seiner Seite folgte er ihnen.

Der Weg führte bergab und wurde zusehends steiniger und ungepflegter. Umgestürzte Bäume und Felsblöcke, die wie wahllos von der Hand eines Riesen hingestreut wirkten, erschwerten das Vorwärtskommen. Sie kamen an eine Abzweigung, und Tony schaute den Weg hinunter, an dem die beiden vorbeigegangen waren. Dort in der Ferne stand ein einzelnes Gebäude. Es war massig, fensterlos und hob sich kaum von der Felswand ab, in die es eingebettet zu sein schien.

»He, was ist das?« Er zeigte in die Richtung.

»Oh, Mr. Spencer, von diesem Ort sollten Sie sich besser fernhalten«, erklärte Großtuer und ging weiter. »Es ist schon schlimm genug, dass wir Sie zum Chef bringen sollen.«

»Sagt mir einfach, was das für ein Gebäude ist«, verlangte Tony.

»Ein Tempel«, sagte Beller über die Schulter, und dann lachte er meckernd. »Das müssten Sie doch selbst am besten wissen. Immerhin haben Sie ihn gebaut. Sie praktizieren dort Ihre Religion.«

»Das genügt«, knurrte Großtuer, der jetzt eiliger weiterging.

»Wie seltsam … ein Tempel?«, wunderte sich Tony. Was immer es war, er würde sich später damit befassen. Rasch holte er auf und ging wieder dicht hinter dem kurzbeinigen Duo. Der Geruch, der ihm zuvor schon unangenehm in die Nase gestiegen war, intensivierte sich zu einem bestialischen Gestank nach faulen Eiern. Tony atmete durch den Mund, um den in ihm aufsteigenden Brechreiz zu unterdrücken. Mit jedem Schritt nahm nicht nur der Gestank zu, sondern auch sein Gefühl der Isolation und Trostlosigkeit wuchs immer mehr. Er war dankbar für Großmutters Anwesenheit. Schweigend ging sie neben ihm und schien völlig unbeeindruckt von den seltsamen Ereignissen.

Sie kamen um eine Wegbiegung, und Tony blieb verblüfft stehen. Keine fünfzig Meter voraus stand eine dicht gedrängte Ansammlung von Gebäuden unterschiedlicher Qualität und mit Dimensionen, die der Architekt offenbar völlig falsch berechnet hatte. Ein paar hundert Meter hinter diesem unansehnlichen Gebäudekomplex ragte der mächtige äußere Festungswall in die Höhe und markierte den Rand seiner Ländereien, den er bislang nur aus der Ferne gesehen hatte. Als er das Innere der Mauer zum ersten Mal betreten hatte, hatte er der Ausführung der Bollwerke kaum Aufmerksamkeit geschenkt, aber nun betrachtete er sie genauer. Offenbar waren sie aus gigantischen Steinblöcken erbaut, die man mit großer Sorgfalt und Präzision aufeinandergeschichtet hatte. Dieser undurchdringliche Wall ragte mindestens hundert Meter oder noch mehr in die Höhe. Tony vermochte es nicht zu sagen, denn die Mauer verschwand in einer niedrigen Wolkendecke.

Aus einem Gebäude tauchte ein großer, dünner Mann auf. Er sah sonderbar aus. Etwas stimmte nicht mit ihm. Sein Körper schien falsch proportioniert zu sein, und Tony hätte ihn am liebsten von der Seite betrachtet, um ihn besser erkennen zu können. Sein Kopf war viel zu groß für den Körper, seine Augen zu klein und sein Mund zu breit. Eine dicke Schicht Make-up bedeckte sein Gesicht wie eine fleischfarbene Paste.

»Mr. Spencer, wie schön, dass Sie mich in meiner bescheidenen Behausung aufsuchen. Ich bin für immer Ihr Diener.« Er lächelte unterwürfig. Seine Stimme klang dekadent und glatt wie Schokoladensirup. Während er sprach, verrutschte sein Make-up, löste sich aber nicht völlig von seinem Gesicht. Es bildeten sich kleine Risse und Löcher, und darunter kamen hässliche dunkle Beulen zum Vorschein. Tony spürte eine Welle der Arroganz, die geradezu übelkeiterregend war. Er hatte das Gefühl, einem vollkommenen Egozentriker gegenüberzustehen.

»Du musst Ego sein«, sagte Tony.

»Sie kennen meinen Namen? Nun denn: Ego zu Ihren Diensten.« Er verneigte sich tief. »Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen.« Dem Duo, das Tony hierher eskortiert hatte, warf er einen Blick kaum verhohlener Verachtung zu. »Euch zwei werde ich später belohnen«, knurrte er.

Die beiden duckten sich, schienen noch mehr zusammenzuschrumpfen. In Gegenwart ihres Herrn blieb nicht viel Großtuerei und Gebell übrig. Bei den Gebäuden versammelte sich eine kleine Schar merkwürdig aussehender Kreaturen und beobachtete ihn.

»Warum existierst du?«, fragte Tony.

»Nun, um Ihnen dabei zu helfen, richtige Entscheidungen zu treffen«, antwortete Ego. Etwas Schlaues, Verschlagenes blitzte in seinem ramponierten Gesicht auf. »Ich erinnere Sie daran, wie bedeutend Sie sind, wie unentbehrlich Sie für den Erfolg jener sind, die von Ihnen abhängen, und wie sehr diese Nutznießer in Ihrer Schuld stehen. Ich helfe Ihnen dabei, keine Beleidigung zu vergessen und keinen Fehler zu verzeihen, den andere zu Ihrem Schaden begangen haben. Meine Aufgabe ist es, Ihnen immer wieder ins Ohr zu flüstern, dass allein Sie derjenige sind, der in der Welt etwas zählt. Mr. Spencer, Sie sind ein sehr bedeutender Mann, und alle lieben, bewundern und respektieren Sie.«

»Das ist nicht wahr!«, entgegnete Tony heftig. »Und ich verdiene überhaupt keinen Respekt, keine Bewunderung.«

»Oh, Mr. Spencer, es schmerzt mich, Sie einen solchen Unsinn reden zu hören! Sie verdienen all das und noch viel mehr. Bedenken Sie doch, was Sie alles für diese Leute getan haben. Da ist es doch wohl das Mindeste, dass sie dankbar anerkennen, was Sie für sie leisten und geleistet haben. Das sind sie Ihnen einfach schuldig. Das ist nun wirklich nicht zu viel verlangt. Ein bisschen Anerkennung, weiter nichts. Ihre Angestellten würden auf der Straße stehen ohne Sie. Ihre Partner wären ohne Ihre überlegenen Fähigkeiten ganz schnell aus dem Geschäft. Und trotzdem reden sie hinter Ihrem Rücken über Sie und spinnen Intrigen, um Sie zu entmachten. Diese Leute verstehen Sie nicht. Sie haben keinen Sinn für Ihre großen Gaben. Es schmerzt mich, wenn ich nur daran denken muss!« Er legte die Hand auf seine riesige Stirn, als wäre er tödlich verletzt. Es sah bemitleidenswert und traurig aus.

Tony hatte diese Gedanken immer nur im Stillen gehegt, sie nie einem anderen Menschen anvertraut. Sie waren so beschaffen, dass sie einen sich selbst erhaltenden Kreislauf des Grolls und der Verbitterung in Gang setzten, der, wie Tony nun klar wurde, viele seiner Handlungen motiviert hatte. Die Konfrontation mit seinem eigenen beschädigten Ego war hässlich und schmerzhaft. »So will ich nicht mehr sein!«

»Mr. Spencer, genau das ist ein perfektes Beispiel dafür, was für ein großer Mann Sie sind! Was für ein ehrliches, wahrhaftiges Bekenntnis! Gut gemacht! Gott muss sehr zufrieden sein, in Ihnen einen so bescheidenen, reumütigen Gefolgsmann zu haben, jemanden, der bereit ist, jeglicher Selbstsucht zu entsagen und einen neuen Weg zu beschreiten. Ich fühle mich geehrt, Ihr Freund zu sein, Sie meinen Bruder nennen zu dürfen.«

»Du bist nicht mein Bruder!«, rief Tony schroff. Er suchte nach Worten. Hatte Ego nicht recht? Wollte Gott nicht, dass Tony sich änderte? Bereute? Aber in Egos Worten schwang etwas Hässliches, Falsches mit, als sollten Tonys alte egoistische Motive lediglich durch eine neue Version ersetzt werden, die leuchtender und hübscher, aber noch selbstgerechter war. Unterschwellig blieben seine Motive so selbstsüchtig wie zuvor, immer noch ging es darum, sich durch Leistung und Härte persönliche Vorteile zu verschaffen.

»Ich weiß, was du bist«, sagte Tony. »Du bist eine hässlichere und vielleicht sogar ehrlichere Form meiner selbst!«

»Mr. Spencer, wie immer haben Sie recht. Sie müssen selbstlos werden, die anderen Menschen und ihre Bedürfnisse an die Stelle Ihrer eigenen Bedürfnisse und Wünsche setzen. Selbstlose Liebe, das ist das höchste und schönste Opfer, eines, das Gott ganz besonders zu schätzen weiß. Mr. Spencer, Sie müssen das Selbst kreuzigen, es abtöten und Gott auf den Thron Ihres Lebens setzen. Damit Er wachsen kann«, er deutete mit einem dürren Finger zum Himmel hinauf, »müssen Sie schrumpfen.«

»Nun, das klingt richtig, würde ich sagen?« Zweifel umwölkten Tonys Denken, und sein Herz war unruhig. Er schaute Großmutter an, die seinen Blick erwiderte, aber stoisch und stumm blieb. Zuneigung lag in ihrem Blick, und das Versprechen, ihn niemals im Stich zu lassen, aber ihre Haltung signalisierte, dass dies sein Kampf war, in den sie sich nicht einmischen würde. Tony fing an, sich über Großmutters Passivität zu ärgern. Wie konnte sie einfach dastehen und nichts tun? Er war doch wohl kaum darauf vorbereitet, mit dieser Situation allein fertigzuwerden!

»Natürlich haben Sie recht, Mr. Spencer, wie stets. Nehmen Sie sich Jesus zum Vorbild. Er opferte sein Selbst, und damit hat er uns alle freigekauft. Er wurde nichts, damit Sie alles werden können, Mr. Spencer. Verstehen Sie? Das ist es, was er sich wünscht. Er möchte, dass Sie wie er werden: frei.« Ego schrie dieses Wort hinaus, und es hallte von den Mauern wider. Er tanzte im Kreis, hob und senkte dazu langsam die Arme und verkündete in einer Art Singsang: »Frei! Frei, zu wählen. Frei, zu lieben und zu leben und leben zu lassen, frei, nach Glück zu streben, frei, zu tun, was immer Sie möchten, weil Sie frei sind!«

»Stopp!«, brüllte Tony.

Ego erstarrte. Er stand auf einem Bein, die Arme in die Hüften gestemmt.

»Das hatte ich doch bereits. Ich habe getan, was ich wollte, und das war überhaupt keine Freiheit.« Wut packte Tony. »Alles, was ich mit meiner ›Freiheit‹ angefangen habe, war, Menschen zu verletzen und Mauern um mein Herz zu bauen, bis ich überhaupt nichts mehr fühlen konnte. Ist es das, was du mit Freiheit meinst?«

»Nun«, sagte Ego, senkte die Arme und stellte beide Füße wieder fest auf den Boden, »Freiheit hat eben ihren Preis.« Er dehnte das letzte Wort, ließ es von den Mauern der Gebäude widerhallen. »Schauen Sie sich die Menschheitsgeschichte an, Mr. Spencer. Es mussten immer schon Leute sterben, damit andere frei sein konnten. Bei keinem Staat auf Ihrem Planeten ging die Gründung ohne Blutvergießen ab. Wenn Krieg notwendig und gerechtfertigt ist, wird Frieden zur Sünde. Wenn das auf das Regieren eines Staates zutrifft, muss es auch für Sie als Individuum wahr sein.«

Tony wusste nicht genau, warum, aber er fand Egos Logik krank und verdreht.

Ego bemerkte sein Zögern und fuhr rasch fort: »Schauen Sie sich Jesus an, Mr. Spencer. Er hat für Ihre Freiheit alles gegeben! Er opferte sein Leben, um Sie zu befreien. Dieser Mann ging zu Gott und flehte.« Wieder wurde Ego theatralisch, schaute zum Himmel empor und schloss die Augen, als würde er inbrünstig beten: »Lieber Gott, ergieße all deinen Zorn, den du angesichts dieser missratenen, bösartigen Schöpfung verspürst, angesichts der unzähligen verabscheuungswürdigen Taten der verdorbenen Menschheit, ergieße all diese heilige Wut, verschieße den Pfeil, der gerechterweise ihre Herzen durchbohren sollte, stattdessen auf mich. Lass mich deine Grausamkeit ertragen, deine gerechte Strafe für ihre Bosheit. Verbrenne nicht sie mit deinem ewigen Feuer, sondern mich. Lass dein Richtschwert, das bereits über ihren Köpfen schwebt, an ihrer Stelle auf mich niedersausen.« Ego neigte sein Haupt, als würde das Schwert des Richters es ihm gleich vom Rumpf trennen.

Seine Worte verhallten in der Ferne. Stille breitete sich aus.

»Dann sag mir«, fragte Tony mit kräftiger, aber sanfter Stimme, »hat es funktioniert?«

Ego zuckte regelrecht zusammen. Die Frage traf ihn unerwartet. »Wie meinen Sie das?«

»Ich meine: Hat es funktioniert? Hat Jesus erfolgreich den Zorn Gottes auf sich genommen? Hat es funktioniert?«

»Natürlich hat es funktioniert! Das wissen wir doch. Schließlich geht es hier um Jesus.« Ego schien sich seiner Sache nicht völlig sicher.

Tony hakte nach. »Gott hat also seinen gesamten Zorn auf Jesus gelenkt, statt auf die Menschen, und damit war sein Zorn für alle Zeiten gestillt? Ist es das, was du mir sagen willst?«

»Genau … nun ja, nicht genau. Aber das ist wirklich eine ausgezeichnete Frage, Mr. Spencer, ganz ausgezeichnet. Sie können stolz darauf sein, eine so geniale Frage ersonnen zu haben.«

Ego wusste nicht weiter, und Tony durchschaute ihn. »Also?«

Ego trat unruhig von einem Bein aufs andere. »Mr. Spencer, Sie müssen das so sehen, und, glauben Sie mir, ich verrate es Ihnen nur, weil Sie ein so außergewöhnlicher Mensch sind. Es ist sehr vertraulich, gehört in die Kategorie der Annahmen, die man besser nicht laut ausspricht, aber es kann unser kleines gemeinsames Geheimnis werden. Sehen Sie, die Wahrheit ist, dass mit Gott nur schwer auszukommen ist. Seine Schöpfung« – er zeigte auf Tony – »hat seine Gebote sträflich missachtet. Dadurch ist der Zorn Gottes nun ein ständiges Merkmal von Gottes Charakter. Dieser Zorn ist wie ein ewiges Feuer, ein notwendiges Übel, wenn man so will. Und er verzehrt alle, die nicht bereit sind, Jesus nachzufolgen. Sind Sie bereit, Jesus zu folgen?« Er hob eine Augenbraue, die schroff aus seinem dick mit Make-up beschmierten Gesicht ragte. Zustimmung heischend starrte er Tony an. »Nun, wie dem auch sei. Sie sollten niemals vergessen, dass die einzige Konstante im Wesen Gottes sein gerechter Zorn ist, den er bereits mit aller Macht auf Jesus gelenkt hat. Wenn Sie also dem Zorn Gottes entgehen möchten, dann müssen Sie wie Jesus werden, sich Gott unterwerfen und wie Jesus leben: heilig und rein. Seid vollkommen, wie ich vollkommen bin … so steht es in der Bibel.«

Tony blickte auf die ausgedörrte, trostlose Erde zu seinen Füßen. »Dann besteht also keine Hoffnung für einen wie mich. Das ist es, was du mir sagen willst. Ich habe nicht das Zeug dazu, wie Jesus zu leben, heilig und rein.«

»Nein, nein, das ist nicht wahr, Mr. Spencer. Es gibt immer Hoffnung, besonders für jemanden, der sich so hart bemüht wie Sie, der so außergewöhnlich ist wie Sie. Es gibt nur leider keine Gewissheit, das ist alles.«

»Dann behauptest du also, dass unsere Beziehung zu Gott bloßes Wunschdenken ist. Nichts, worauf man wirklich bauen kann, nur eine Möglichkeit?«

»Bitte, achten Sie das Wunschdenken nicht gering. Fast alles in Ihrer Welt wurde durch Wunschdenken erschaffen, Mr. Spencer. Verkaufen Sie sich nicht unter Wert. Ihr Wunschdenken, Ihr Sehnen und Hoffen macht Sie sehr gottähnlich.«

»Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt«, sagte Tony herausfordernd. Es war eine Bibelzeile, an die er sich erinnerte.

Ego schaute theatralisch zu Boden. »Das ist so unglaublich traurig, nicht wahr?« Er schüttelte den Kopf.

»Traurig?«, widersprach Tony. »Das ist nicht traurig. Wenn es wahr ist, dann ist es das Schönste, was ich je gehört habe! Es bedeutet, dass Gott uns liebt, die wir in dieser Welt leben. Gott liebt mich!« Diese Erkenntnis weckte in ihm eine große Wut gegen Ego. »Weißt du was? Mir ist es egal, was du willst. Du und deine Gehilfen, ihr alle seid Lügner, und eure Lügen sind dämonisch …«

»Nicht!«, kreischte Ego. Er gewann aber schnell die Beherrschung wieder und setzte ein breites Lächeln auf. »Mr. Spencer, dieses Wort verwenden wir hier nicht. Das ist völlig veraltete Mythologie. Wir sind nicht diese … diese hässlichen, abscheulichen und elenden Kreaturen! Wir wurden geschickt, um zu helfen. Wir sind geistige Boten Gottes, Führer hin zu Licht und Gnade, und es ist unsere Aufgabe, Ihnen den Weg zur Wahrheit zu ebnen.«

»Eine Bande von Lügnern, das seid ihr! Welches Recht habt ihr, hier zu sein? Ich will auf der Stelle wissen, wer euch die Erlaubnis erteilt, euch hier aufzuhalten?«

»Sie!«, rief eine dröhnende Stimme aus dem Inneren eines Hauses, des größten in der Siedlung. Langsam öffnete sich die Tür, und ein riesiger Mann kam heraus. Beißender Müllgestank strömte aus dem Haus. Tony stand wie betäubt da. Sein Gegenüber war … er selbst, allerdings viel größer. Der Mann ragte vor ihm in die Höhe, war wohl an die drei Meter groß. Aber ansonsten war es, als würde Tony in den Spiegel schauen. Doch als Tony genauer hinsah, zeigte sich, dass kleine Details nicht stimmten. Die Hände und Ohren des Riesen waren etwas zu groß, seine Augen etwas zu klein, und zudem saßen sie schief im Gesicht. Der Mund war zu breit, und das Grinsen saß ebenfalls schief. Der Mann strahlte Autorität und Selbstvertrauen aus.

»Sosho!«, raunte Großmutter dem Riesen zu. Sie stand dicht neben Tonys Schulter. »Wakipajan!« Ihrem Ton nach zu urteilen, handelte es sich bei diesen Worten nicht um Komplimente. Tony war dankbar für ihre Anwesenheit. Er hatte das Gefühl, dass sie ihm den Rücken stärkte, und das war gut, denn er fand den Riesen ziemlich einschüchternd.

»Und wer bist du?«, verlangte Tony zu wissen.

»Na, hören Sie mal, Mr. Spencer«, lachte er und verschränkte die Arme vor seiner mächtigen Brust. »Ganz sicher kennen Sie mich. Ich bin Ihr überlegenes Selbst, alles, was Sie gerne sein wollten. Mit der Hilfe einiger Ihrer Wohltäter haben Sie sich selbst dazu ermächtigt, mich zu erschaffen. Sie selbst haben mich ernährt und gekleidet, und mit der Zeit bin ich stärker und mächtiger geworden, als selbst Sie es sich vorgestellt hatten, und so bin ich es nun, der Sie erschafft. Ich wurde in den tiefsten Tiefen Ihrer Bedürfnisse geboren, zuerst waren Sie mein Schöpfer, und ich stand in Ihrer Schuld, aber ich war fleißig und habe diese Schuld schon längst und überreichlich beglichen. Ich brauche Sie nicht länger, um existieren zu können. Ich bin stärker als Sie!«

»Dann verschwinde! Wenn du mich nicht mehr brauchst, dann pack deine Sachen und verschwinde … und nimm dein Gesindel mit.«

Das amüsierte den großen Tony. »Oh, das geht leider nicht, Mr. Spencer. Das ist mein Territorium, mein Lebenswerk. Mag sein, dass Sie das Fundament gesetzt haben, aber wir haben darauf aufgebaut. Schon vor langer Zeit haben Sie uns das Recht gewährt, hier zu sein. Im Austausch gegen Sicherheit und Gewissheit haben Sie mir Ihr Geburtsrecht verkauft. Heute brauchen Sie uns.«

»Sicherheit und Gewissheit?«, erwiderte Tony. »Soll das ein schlechter Witz sein? Beides hatte ich nie.«

»Ach, Mr. Spencer, das ist nicht der Punkt«, sagte der andere, und seine Stimme klang nun fast hypnotisch und monoton. »Es ging nie um reale Sicherheit und Gewissheit, sondern nur darum, dass Sie glaubten, Sie hätten Sicherheit und Gewissheit erlangt. Sie verfügen über die großartige Fähigkeit, aus Leiden und Träumen, Hoffnung und Verzweiflung die Realität zu erschaffen und in Ihrem Inneren den Gott wachzurufen, der Sie sind. Wir haben Sie einfach nur geführt, Ihnen zugeflüstert, was Sie hören mussten, um Ihr Potenzial zu erkennen und eine Imagination zu erschaffen, von der aus Sie Ihre Welt managen konnten. Nur wegen mir waren Sie in der Lage, in dieser grausamen und herzlosen Welt zu überleben.«

»Aber …«, begann Tony.

Der größere Tony machte einen Schritt auf den kleineren zu. »Anthony«, nun ging er zum Du über, »du wärst sonst längst tot. Ich habe dir dein elendes Leben gerettet. Als du deine Existenz auslöschen wolltest, war ich es, der mit meinen Worten neue Lebensgeister in dir weckte. Du gehörst mir! Ohne mich kannst du nichts tun.«

Tony spürte, wie er den sicheren Halt verlor, als stünde er schwankend am Rand einer unsichtbaren Klippe. Er drehte sich zu Großmutter um, doch er konnte nur noch schwach ihre Umrisse erkennen. Sie verblasste und verschwand. Es war, als würde ein Vorhang zugezogen, und alles, was ihm in den letzten Tagen so klar und greifbar erschienen war, verlor seine Klarheit und Farbe. Ein dunkler, giftiger Dampf stieg aus dem Boden auf, erhob sich rings um ihn wie die Fäden, von denen eine Marionette gelenkt wird. Er konnte nicht mehr klar sehen und denken. Eine tödliche Verzweiflung verschlang die zarten Teile seines Herzens, die gerade erst neu erwacht waren, und saugte sie in den Brunnen tiefer Einsamkeit, der immer schon sein Herz verdunkelt hatte. Großmutter verschwand. Er war allein und blind.

Dann fühlte er den Atem auf seinem Gesicht, der ihn mit betörender Süße küsste. Der Duft verdrängte den beißenden Gestank. Und dann hörte er das Flüstern: »Du bist vollkommen allein, Tony, und du verdienst es nicht anders. Es wäre besser, du wärst nie geboren worden.«

Das stimmte, dachte er, er war allein und verdiente es nicht anders. Jeden Menschen, der ihm Liebe schenken wollte, hatte er weggestoßen. Und nun war er nicht viel mehr als eine wandelnde Leiche. Dieses Eingeständnis durchzuckte ihn und brachte seine letzten Wälle zum Einsturz. Eisige Finger der Furcht krallten sich in seine Brust, drangen ihm ins Fleisch und griffen nach seinem Herzen, um es zu zermalmen. Er erstarrte, erstarrte von innen heraus zu Stein, und es gab nichts, was er dagegen tun konnte.

Und dann hörte er, von fern zunächst, aber rasch näher kommend, ein kleines Mädchen lachen und singen. Er konnte sich nicht bewegen und kaum atmen. In dieser tintenschwarzen Dunkelheit würde das Mädchen ihn niemals finden. Sie würde gar nicht wissen, dass er hier war. »Gott«, betete er, »bitte hilf ihr, mich zu finden.«

Weit weg sah er Licht flackern und eine schwache Bewegung. Das Licht kam näher und auch der Gesang, und dann stand sie direkt vor ihm. Sie war vielleicht sechs Jahre alt und hatte rabenschwarzes Haar, das mit einem Kranz aus winzigen weißen Blumen über ihrem glatten olivbraunen Gesicht nach hinten gebunden war. Sie hatte faszinierende braune Augen und lächelte strahlend.

Er war also nicht allein. Sie konnte ihn sehen. Die Erleichterung darüber bewirkte, dass der Druck in seiner Brust nachließ, und er atmete etwas tiefer. Ich kann nicht sprechen, dachte er.

Wieder lächelte sie übers ganze Gesicht. »Das weiß ich, Mr. Tony«, lachte sie, »… aber manchmal ist der Gedanke alles, was zählt.«

Nun musste er selbst lächeln. »Wo bin ich?«, dachte er.

»Wir, Mr. Tony, wo sind wir? Wir, Mr. Tony, wir sind nicht allein.« Und sie wirbelte in ihrem blau und grün geblümten Kleid herum, als wäre sie auf einer Bühne. Dann verbeugte sie sich tief und anmutig. Sie strahlte Unschuld und Wärme aus, und er spürte, wie der eisige Druck, der auf ihm lastete, ganz allmählich nachließ. Wäre es ihm möglich gewesen, laut aufzulachen, er hätte es getan.

Wir also … ja, wo sind wir?, wiederholte er in Gedanken die Frage.

Sie beachtete ihn nicht. »Wer bist du, Mr. Tony?«, wollte sie von ihm wissen und neigte kindlich fragend den Kopf.

Ein hoffnungsloser Versager, dachte er. Sofort brach die Verzweiflung wieder über ihn herein und schnürte ihm die Brust zu.

»Bist du das wirklich, Mr. Tony? Bist du ein hoffnungsloser Versager?«

Eine Abfolge von Bildern flimmerte durch seinen Geist, die alle seine Selbstanklage zu stützen schienen, das Urteil bestätigten.

»Oh, Mr. Tony!«, rief sie aus, ganz ohne Vorwurf, »du bist so viel mehr als das!« Es war eine Beobachtung, kein Werturteil.

Aber falls ich wirklich mehr bin als ein hoffnungsloser Versager, überlegte er, wer bin ich dann?

Das kleine Mädchen fing an, um ihn herumzuhüpfen, sodass er es manchmal sehen konnte, manchmal nicht. Es berührte mit den Fingern der einen Hand die Finger der anderen Hand, als würde es zählen. Mit einer Singsangstimme verkündete es: »Mr. Tony, du bist außerdem ein mächtiger Krieger, du bist nicht allein, du bist jemand, der lernt, du bist ein ganzes Universum voller Wunder, du bist Großmutters geliebter Junge, du bist von Papa Gott adoptiert, du bist nicht mächtig genug, um das zu ändern, du bist ein wunderbares Durcheinander, du bist eine Melodie …« Und mit jedem dieser Sätze lösten sich die eisigen Klammern um sein Herz immer mehr, und er konnte wieder tiefer und freier atmen. Gedanken stiegen in ihm auf, die jede Aussage des Mädchens in Zweifel zogen und leugneten, aber während er sich immer mehr beruhigte, entschied er einfach, sich den Tanz des Mädchens anzuschauen und seinem Gesang zu lauschen.

Was konnte sie schon wissen? Sie war doch nur ein kleines Mädchen. Und doch ging eine große Kraft von ihren Worten aus, das spürte er ganz deutlich. Sie brachten etwas in seiner froststarren Mitte zum Klingen. Die Gegenwart des Mädchens war wie der nahende Frühling, der wärmendes Tauwetter brachte und Neues hervorsprießen ließ. Nun stand sie dicht vor ihm, beugte sich vor und küsste ihn sanft auf die Wange.

Endlich fand er seine Stimme wieder. »Wie heißt du?«, flüsterte er schwach.

Sie strahlte. »Hoffnung! Mein Name ist Hoffnung.«

Nun brachen seine letzten Wälle endgültig zusammen. Seine Tränen flossen und tropften auf die Erde. Hoffnung streckte die Hand aus und hob sein Kinn hoch, bis er tief in ihre unglaublich schönen Augen schaute. »Kämpfe gegen ihn, Mr. Tony«, flüsterte sie. »Du kämpfst nicht allein.«

»Kämpfen? Gegen wen?«

»Gegen deine leeren Imaginationen, die sich dagegen wehren, den Charakter Gottes zu erkennen. Kämpfe gegen sie an.«

»Wie?«

»Werde wütend und sage die Wahrheit!«

»Ich dachte, wütend zu werden wäre falsch.«

»Falsch? Ich werde ständig wütend, wegen allem, was falsch ist.«

»Wer bist du?«, fragte er schließlich.

»Ich bin der Eine, der dich rückhaltlos liebt.« Sie lächelte und trat einen Schritt zurück. »Mr. Tony, wenn es um dich herum dunkel wird, zünde nicht deine eigenen Feuer an, umgib dich nicht mit einer Glut, die du selbst entfacht hast. Dunkelheit kann den Charakter Gottes nicht verändern.«

»Ich dachte, Großmutter hätte mich verlassen … mitten in der Schlacht.«

»Nein, sie verlässt dich nie. Deine Imagination bewirkte, dass du Großmutter nicht mehr sehen konntest. Du hast deine eigenen Feuer angezündet.«

»Aber wie kommt man denn ohne diese eigenen Feuer aus?«

»Durch Vertrauen, Mr. Tony. Vertrauen. Vertraue, ganz gleich, was dein Verstand, deine Gefühle oder deine Imagination dir sagen.«

»Es fällt mir sehr schwer, zu vertrauen.«

»Das wissen wir. Vertraue darauf, dass du nicht allein bist, dass du allen Grund zur Hoffnung hast.« Sie lächelte und küsste ihn wieder auf die Wange. »Mr. Tony, vertraue einfach darauf, was deine Mutter dir gesagt hat. Kannst du das?«

»Ich will mein Bestes versuchen«, willigte Tony ein.

»Es genügt schon, wenn du es dir zumindest ein klein wenig wünschst, Mr. Tony. Jesus ist sehr gut darin, zu vertrauen. Er wird das, was bei dir an Vertrauen noch fehlt, hinzufügen. Wie die meisten Dinge, die von Dauer sind, muss auch Vertrauen allmählich aufgebaut werden.«

»Wie kommt es, dass du so viel weißt?«, fragte Tony.

Sie lächelte schelmisch. »Ich bin älter, als du denkst.« Ein drittes Mal tanzte sie federleicht um ihn herum und beugte sich vor, um ihn auf seine andere Wange zu küssen. »Denke daran, Mr. Tony: Talitha kumi.« Sie legte ihre Stirn gegen seine, atmete tief und flüsterte: »Geh jetzt … und sei wütend.«

Und er fühlte die Wut kommen wie ein Erdbeben. Das Beben wurde zu einem lauten Gebrüll, und sein Zorn riss ein Loch in die Dunkelheit und zerstreute sie wie einen Schwarm getöteter Krähen. Tony war auf die Knie geworfen worden, doch nun rappelte er sich wieder auf. Großmutter stand noch dort, wo er sie zuletzt gesehen hatte, reglos, bis auf ein Lächeln, das ihre Mundwinkel umspielte.

»Du bist ein Lügner!«, brüllte Tony und zeigte mit dem Finger auf das grotesk ins Riesenhafte verzerrte Abbild seiner selbst. »Ich brauche dich nicht mehr, und ich widerrufe alle Rechte, die ich dir je eingeräumt habe, und zwar hier und jetzt!«

Zum ersten Mal schien das Selbstvertrauen des anderen, größeren Tony Risse zu bekommen. Er taumelte und machte einen Schritt rückwärts. »Das kannst du gar nicht!«, erwiderte er. »Ich bin stärker als du.«

»Das mag stimmen«, sagte Tony, »aber du wirst trotzdem verschwinden. Du kannst meinetwegen anderswo stark sein, aber das hier ist mein Land, das ist mein Zuhause, mein Herz, und ich will dich hier nicht mehr sehen.«

»Ich weigere mich!« Der andere stampfte unerbittlich mit dem Fuß auf. »Du hast gar nicht die Macht, mich zum Gehen zu bewegen.«

»Ich …« Er zögerte, doch dann wagte er den Sprung vorwärts. »Ich stehe hier nicht allein.«

»Du!«, schrie der andere und drohte ihm mit der Faust, »du warst immer allein … völlig allein. Ich sehe hier jedenfalls niemanden. Wer würde auch an deiner Seite stehen wollen? Du bist allein und verdienst es, von allen im Stich gelassen zu werden. Ich bin alles, was du hast!«

»Lügner!«, schrie Tony zornig. »Mein ganzes Leben lang hast du mir diese Lügen erzählt, und nichts als Schmerz und Leid ist dadurch entstanden. Ich bin fertig mit dir!«

»Du bist allein«, zischte der andere. »Wer würde sich dazu herablassen, einem wie dir beizustehen?«

»Jesus!« Es überraschte Tony, sich das sagen zu hören. »Jesus!« Er wiederholte es und fügte hinzu: »Und der Heilige Geist und Jesus’ Vater.«

»Sein Vater?« Verächtlich spie der plumpe Riese die Worte aus. »Du hasst Jesus’ Vater! Er hat deine Eltern getötet. Er hat deine Mutter zermalmt.« Er machte einen Schritt auf Tony zu und sagte schadenfroh: »Er hat deinen einzigen Sohn ermordet, ihn unter schrecklichen Schmerzen sterben lassen. Er hat jedes deiner Gebete ignoriert. Wie kannst du einem so bösartigen Wesen vertrauen, das deinen unschuldigen Sohn ebenso getötet hat wie seinen eigenen?«

»Ich vertraue ihm nicht!«, schrie Tony und spürte, dass es die Wahrheit war.

Ein triumphierender Ausdruck erschien auf dem Gesicht des Monsters.

Tony senkte den Blick und schaute zu Großmutter hinüber, die aufrecht wie eine Statue dastand. »Ich kenne ihn nicht gut genug, um ihm zu vertrauen, aber Jesus vertraut seinem Vater, und das genügt mir.«

Der falsche Tony, groß und furchterregend, fing an zu schrumpfen, bis seine Kleider lose um seinen in sich zusammengefallenen Körper schlotterten. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst, eine bloße Karikatur.

Tony überkam ein Gefühl des Friedens, wie in Gegenwart des kleinen Mädchens. »Hören alle diese anderen Mauerwächter auf dein Kommando?«, fragte er den erbarmungswürdig geschrumpften Mann.

Für einen Moment schien es, als wollte der einstige Riese zu einem neuen Wortgefecht ansetzen, doch dann fügte er sich achselzuckend.

»Gut!«, erklärte Tony. »Ich will, dass du von hier verschwindest und alle deine verlogenen Gefolgsleute mitnimmst.« Die Schar seltsam aussehender Kreaturen hatte sich während der Auseinandersetzung zu dem Duo gesellt, von dem er hergebracht worden war. Die meisten starrten hasserfüllt und voller Verachtung die Jammergestalt an, in die ihr Anführer sich verwandelt hatte. Er hatte seine Macht und Autorität eingebüßt, und damit auch jeder Einzelne von ihnen. Sogar Beller und Großtuer waren nur noch schwächliche Schatten ihrer selbst und darüber sichtbar unglücklich.

Der bunte Haufen schlich auf den nächstgelegenen Riss in der Steinfassade der Außenmauer zu, eine Ansammlung murrender und nörgelnder Querulanten, die sich gegenseitig nicht ertragen konnten. Während Tony mit Großmutter weiterging, sah er, wie jede der Gestalten hinten am Rücken durch Fäden aus dunklem Licht mit den anderen verbunden und an sie gekettet war. Auf dem kurzen Marsch kam es immer wieder vor, dass einer einem anderen mit dem Ellbogen einen Stoß versetzte, sodass er stolperte, sehr zur Erheiterung der restlichen Gruppe.

Tony sah, dass der gewundene Pfad, auf dem sie gingen, zwischen einem Gewirr von Felsbrocken auf den dunklen Wald draußen jenseits der Festungsmauern zuführte. »Wohin gehen sie?«, flüsterte Tony Großmutter zu.

»Mach dir deswegen keine Gedanken, Tony. Sie werden eskortiert.«

»Eskortiert?« Tony war überrascht. »Aber ich sehe niemanden.«

»Dass du etwas nicht siehst, bedeutet noch lange nicht, dass es nicht da ist«, erwiderte Großmutter sichtlich amüsiert.

»Eins zu null für dich!«, sagte Tony und musste seinerseits grinsen.

Die beiden blieben stehen und sahen von der Einsturzstelle in dem gewaltigen Mauerwerk aus zu, wie die kleinlaut wirkende Schar jenseits davon im immergrünen Dickicht des Waldes verschwand, in das der Pfad sie hineinführte.

Großmutter legte Tony die Hand auf die Schulter. »Du hast heute gut gekämpft, Sohn. Doch auch wenn diese Schar besiegt ist, solltest du auf der Hut sein vor den Echos ihrer Stimmen, die immer noch von den Mauern deines Geistes und deines Herzens widerhallen. Sie werden dich heimsuchen, wenn du es zulässt.«

Ihre Berührung stärkte ihn, verlieh ihm Zuversicht, und er verstand ihre Warnung. »Warum sind denn die Mauern immer noch da? Wenn die Mauerwächter verschwunden sind, müssten dann nicht auch die Mauern verschwinden? Warum reißt du sie nicht einfach nieder?«

Sie drehten sich um und gingen zu der unansehnlichen und nun verlassen daliegenden Siedlung zurück.

»Weil du selbst diese Fassaden gebaut hast«, sagte Großmutter. »Ohne deine aktive Mitwirkung werden wir sie nicht abreißen. Werden solche Mauern übereilt umgestoßen, könnten sie auf jene herabstürzen, die du liebst. Freiheit kann als neue Rechtfertigung dienen, anderen mit Geringschätzung zu begegnen und mitleidlos gegenüber ihren Schwächen und ihrer Gebundenheit zu sein. Rosen haben Dornen.«

»Ich verstehe nicht. Warum haben Rosen Dornen?«

»Damit du sie behutsam und sanft behandelst.«

Er verstand. »Aber eines Tages werden sie einstürzen, diese Mauern?«

»Natürlich. Eines Tages. Aber die Schöpfung wurde nicht an einem Tag verwirklicht, Anthony. Auch solche Mauern werden nicht über Nacht gebaut. Sie zu bauen dauerte seine Zeit, und es wird Zeit brauchen, sie wieder zu beseitigen. Die gute Neuigkeit ist aber, dass es dir ohne die Hilfe all dieser ›Freunde‹, die du jetzt von deinem Grund und Boden vertrieben hast, viel schwererfallen wird, die Fassaden aufrechtzuerhalten.«

»Ich?« Tony war überrascht. »Warum sollte ich sie behalten wollen?«

»Du hast diese Mauern gebaut, um dich zu schützen oder um dir einbilden zu können, du wärst sicher. Sie dienten dir als Ersatz für dein fehlendes Vertrauen. Du lernst jetzt allmählich, dass es ein beschwerlicher Weg ist, Vertrauen zu entwickeln.«

»Also habe ich diese Mauern gebraucht?«

»Wenn du glaubst, dass du selbst die einzige Person bist, der du vertrauen kannst, dann ja, dann brauchst du diese Mauern. Selbstschutzmaßnahmen, die dazu dienen sollen, das Böse auszusperren, sperren es oft gerade nicht aus, sondern mauern es in dir ein. Das, was anfangs ein Schutz zu sein schien, kann dich langfristig vernichten.«

»Aber brauche ich wirklich keine Mauern? Haben sie nicht auch ihr Gutes?«

Plötzlich trat jemand von hinten an ihn heran und umarmte ihn. »Du brauchst Grenzen«, sagte Jesus’ Stimme, »aber keine Mauern. Mauern trennen, während Grenzen Respekt und Achtung ausdrücken.« Tony fühlte, wie er sich in diese zärtliche Umarmung fallen ließ. Unerwartet brach er in Tränen aus.

»Sogar in unserer materiellen Schöpfung«, fuhr Jesus fort, »sind die schönsten Orte durch Grenzziehungen markiert. Denke an die Grenzen zwischen Ozean und Küste, zwischen Bergen und Ebenen, zwischen Talaue und Fluss. Wir werden dich lehren, dich gemeinsam mit uns an den Grenzen zu erfreuen, während du lernst, deinen Schutz und deine Sicherheit uns anzuvertrauen. Eines Tages wirst du keine Mauern mehr brauchen.«

Tony spürte, wie weitere seiner inneren Mauern einstürzten. Sie verschwanden nicht, aber er fühlte eine innere Gewissheit, dass er voll und ganz akzeptiert wurde, mit all seinen Fehlern und Verlusten, seiner Konditionierung und seinem Stolz. War das Liebe? Fühlte es sich so an, geliebt zu werden?

Großmutter sprach. »Okay, Weint-Viel, es wartet Arbeit auf dich, und wieder wird es Zeit, dass du dich auf den Weg machst.«

Jesus zog ein blutrotes Taschentuch für Tonys Nase und Tränen hervor und wischte ihm das Gesicht sauber.

Sie gelangten wieder in die verlassene Siedlung jener, die ihn getäuscht und belogen hatten. Tony interessierte sich dafür, wie sie errichtet worden war, und berührte eines der Häuser mit der Hand. Auf den ersten Blick wirkte es solide und dauerhaft, aber schon eine leichte Berührung genügte, um es in sich zusammenfallen zu lassen, sodass nur ein Haufen Schutt und Staub übrig blieb.

»Nichts als Fassaden«, sagte er laut zu sich selbst. »Lügen mit ganz wenig Substanz.«

Großmutter lächelte strahlend. »Es ist gut, die Veränderungen in deiner Stimme zu hören.«

»Was meinst du damit?«

»Wenn in der Seele eines Menschen eine Heilung geschieht«, sagte Großmutter, »verändert sich seine Stimme, was für alle deutlich wahrnehmbar ist, die Ohren haben, um zu hören.«

Und Jesus sagte: »Tony, ich habe etwas für dich. Du wirst es schon bald gut gebrauchen können.« Er hielt ihm einen großen Schlüsselbund hin, Dutzende von Schlüsseln in unterschiedlichen Größen und Formen.

»Was ist das?«, fragte er.

»Na, Schlüssel natürlich«, raunzte Großmutter.

Tony grinste. »Ja, das sehe ich. Aber wozu sind sie gut?«

»Um Schlösser aufzuschließen«, murmelte sie.

Er wusste, dass ihr dieses Ratespiel großen Spaß bereitete. »Welche Schlösser?«

»Türschlösser.«

»Welche Türen?«

»Alle Arten von Türen. Viele Schlüssel, viele Türen.«

»Ich gebe auf«, lachte Tony und wandte sich wieder Jesus zu. »Was soll ich damit tun?«

»Wähle einfach einen Schlüssel aus. Der, den du auswählst, wird zu einem späteren Zeitpunkt wichtig werden.«

Tony zögerte. »Ich soll einen Schlüssel auswählen? Was ist, wenn ich mich für den falschen entscheide?«

»Der, den du auswählst, wird der richtige sein, Tony«, ermutigte ihn Jesus.

»Aber …« Tony fühlte sich überfordert. »Warum wählst du nicht für mich? Du bist göttlich, du wirst es doch bestimmt besser wissen als ich.«

Jesus lächelte, und seine Lachfältchen ließen das Leuchten in seinen Augen noch intensiver wirken. »Deine aktive Mitwirkung ist gefragt, Tony. Du bist keine Marionette.«

»Also … vertraut ihr darauf, dass ich richtig entscheide?«

»Absolut!« Beide nickten.

Tony nahm sich Zeit, alle Schlüssel sorgfältig zu betrachten, ehe er sich schließlich für einen Skelettschlüssel entschied. Er sah älter aus, schien aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen, als gehörte er zu einer alten Eichentür in einer mittelalterlichen Burg in Europa.

»Eine gute Wahl«, sagte Großmutter anerkennend. Aus einer Tasche zog sie eine Schnur aus blauem Licht und befestigte den Schlüssel daran. Dann hängte sie ihn Tony um den Hals und verbarg ihn unter seinem Hemd. Sie schaute Tony tief in die Augen und sagte nur: »Los!«