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DA WAR ES NUR NOCH EINER

»Schmerz erinnert uns daran, dass wir leben,
aber die Liebe erinnert uns daran, warum wir leben.«

Trystan Owain Hughes

Höre meine Worte, Tony.« Jesus strich ihm wieder durchs Haar, wie er es bei einem Kind, einem Sohn tun würde. »Jeder Mensch ist ein ganzes Universum. Dein Vater und deine Mutter wirkten gemeinsam mit Gott daran mit, eine Seele zu erschaffen, die niemals aufhören wird zu existieren. Deine Eltern, als Mitschöpfer, sorgten für das Materielle, die Gene und noch mehr, auf einzigartige Weise kombiniert, um ein Meisterwerk zu erschaffen, nicht makellos, aber dennoch erstaunlich, und wir empfingen aus ihren Händen, was sie uns brachten. Wir fügten uns ihrem Timing und ihrer persönlichen Geschichte und gaben hinzu, was nur wir ihnen schenken konnten – Leben. Du wurdest empfangen, ein lebendiges Wunder, das ins Dasein explodierte, ein Universum innerhalb eines Multiversums, nicht isoliert und getrennt, sondern eingebunden und dafür geschaffen, in Gemeinschaft zu leben, denn sogar Gott ist Gemeinschaft.«

»Pah! Ein lebendiges Wunder?«, schniefte Tony, erschöpft von seinem Kampf gegen das Weinen. Er dachte, die Tränen seien versiegt, doch bei diesem Gedanken bildeten sich neue, liefen an seinem Gesicht herab und tropften ihm vom Kinn. »Das bin ich nicht.«

»Damit es ein ›Ich bin nicht‹ geben kann, muss es zuerst ein ›Ich bin‹ geben«, sagte Jesus aufmunternd. »Bild und äußerer Anschein verraten dir nur wenig. Das Innen ist größer als das Außen, wenn du Augen hast zu sehen.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich sehen will, wissen will«, murmelte Tony. »Es tut zu weh. Außerdem glaube ich sowieso nicht, dass irgendetwas von dem, was ich hier sehe, real ist, du eingeschlossen. Und dennoch schäme ich mich so. Ich will meine Blindheit zurück, mein Nichtsehen.«

»Der Schmerz ist real und wahr. Vertraue mir, Tony. Transformation ohne Arbeit und Schmerz, ohne Leiden, ohne ein Gefühl des Verlustes ist nur eine Illusion und keine echte Veränderung.«

»Ich hasse es«, entgegnete Tony, und ein weiterer, aber kurzer Krampf schüttelte seinen Körper. »Ich kann das nicht. Und Vertrauen? Dieses Wort hatte ich nicht in meinem Vokabular. Vertrauen ist nicht mein Ding.«

»Ist klar«, sagte Jesus und lachte leise in sich hinein. »Aber es ist mein Ding!«

Tony hatte sich noch nicht bewegt oder die Augen geöffnet. Sein Kopf ruhte auf der Brust dieses Mannes. Er fühlte sich dumm und verletzlich, wollte sich aber nicht bewegen.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, gestand er. »Darf ich dir sagen, wen ich jetzt gerade am meisten vermisse?« Tony öffnete die Augen und holte tief Luft. »Ich vermisse meine Mom.« Von irgendwo zauberte Jesus ein sauber gefaltetes rotes Taschentuch herbei, das Tony dankbar nahm. Er putzte sich die Nase.

»Tony, seit dem Tod deiner Mutter hast du keinem Menschen mehr vertraut. Doch du kannst das alles nicht allein schaffen, und auch nicht zu deinen eigenen Bedingungen. Du wurdest von einer Gemeinschaft erschaffen, um in Gemeinschaft zu existieren. Du bist nach dem Ebenbild eines Gottes erschaffen, der nie etwas anderes kannte als Gemeinschaft.«

»Gott ist eine Gemeinschaft?«

»Immer. Ich sagte bereits, dass ich niemals allein bin. Ich habe nie etwas auf mich allein gestellt getan. Beziehung ist der Kern meines Seins.«

»Diese Dinge habe ich nie begriffen.«

»Keine Sorge. Es geht und ging nie darum, sie zu begreifen, sondern sie zu erfahren.«

Tony holte wieder tief Luft. »Und was ist dann mit mir passiert? Wenn dieser Ort tatsächlich mein Selbst ist, wie konnte daraus so ein lebloses, trostloses Niemandsland werden?«

»Aus deinem Blickwinkel würdest du sagen, dass dir das Leben ›passiert‹ ist – große und kleine Verluste, die Anhäufung von Lügen und Verrat, die Eltern, die nicht da waren, als du sie brauchtest, das Versagen des Systems, deine Methoden, mit denen du dich zu schützen versuchtest, die dir zwar halfen zu überleben, dich aber daran hinderten, dich für die Dinge zu öffnen, die dein Herz heilen könnten.«

»Und aus deinem Blickwinkel?«

»Aus meinem Blickwinkel war es der Tod, kein Leben, eine Nichtrealität, für die du nicht geschaffen wurdest. Es war Nichtliebe, Nichtlicht, Unwahrheit, Unfreiheit … es war der Tod.«

»Also sterbe ich? Erlebe ich deshalb all das?«

»Sohn, du stirbst seit dem Tag deiner Empfängnis. Und obwohl der Tod monströs und böse ist, schreiben ihm die Menschen unverdient viel mehr Macht zu, als er wirklich besitzt, als würde ein Licht den Schatten des Todes überdimensional und schrecklich auf die Kulisse eurer Existenz werfen. Und jetzt habt ihr nicht nur Angst vor dem Tod, sondern sogar schon vor seinem Schatten.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Dieses Gespräch hat viele Ebenen, von denen die meisten nicht für heute bestimmt sind. Für heute mache dir klar, dass ein wichtiger Grund für deine Angst vor dem Tod deine verkümmerte, verengte Sicht des Lebens ist. Die wunderbare Größe des Lebens aber ist es, von der die Macht und die Gegenwart des Todes ständig absorbiert und aufgelöst werden. Du glaubst, der Tod wäre das Ende, ein Ereignis, wodurch alles aufhört, was dir etwas bedeutet. Daher wird er für dich zur großen Mauer und hindert dich unvermeidlich daran, Freude und Liebe zu erleben und dich für Beziehungen zu öffnen. Du betrachtest den Tod als das letzte Wort, die endgültige Trennung.

In Wahrheit«, fuhr er fort, »ist der Tod nur ein Schatten dieser Dinge. Was du den Tod nennst, bedeutet tatsächlich eine gewisse Form der Trennung, aber er ist bei Weitem nicht das, was du dir darunter vorstellst. Du hast dich ganz auf deine Angst vor dem letzten Atemzug fokussiert und deine Existenz dadurch definiert, statt die Allgegenwart des Todes um dich herum zu erkennen – in deinen Worten, deiner Berührung, deinen Entscheidungen, deinen Sorgen, deinem Unglauben, deinen Lügen, deinen Vorurteilen, deiner Unversöhnlichkeit, deinem Machtstreben, deiner Hinterlist und deiner Heimlichtuerei. Das ›Ereignis‹ des Todes ist nur ein kleines Element dieser Präsenz, aber du hast es völlig in den Mittelpunkt gerückt und noch nicht erkannt, dass du jeden Tag im Ozean des Todes schwimmst.

Dem Ereignis des Todes wohnt ein Versprechen inne, eine Taufe in diesem Ozean, die dich rettet, nicht ertränkt. Tony, du wurdest nicht für den Tod geschaffen, und überhaupt war der Tod für dieses Universum nicht vorgesehen. Die Menschen haben ihre Schöpferkraft in falsche Bahnen gelenkt und Nichtleben zum Bestandteil ihrer Erfahrungen gemacht, und aus Respekt für euch haben wir es deshalb in das größere Muster mit eingewoben. Und nun erfahrt ihr jeden Tag diese unterschwellige Spannung zwischen Leben und Tod, bis ihr durch das Ereignis des Todes erlöst werdet. Aber ihr wurdet dafür geschaffen, den Tod in Gemeinschaft zu durchleben, in Beziehung, nicht in einer ichbezogenen Isolation wie du in deinem kleinen Ort hier.«

»Und die vielen Pfade, die von hier ausgehen?«

»Tony, sie haben hier begonnen, an diesem wüsten Ort. Niemand kommt hierher. Alle sind fortgegangen.«

Für einen Moment erhob sich Schmerz wie ein heranpirschendes Raubtier, verschwand aber rasch wieder. Er entschied, sich dem Gedanken zu stellen, der ihm nun in den Sinn kam. »Ich habe sie weggeschickt, nicht wahr? Sie sind nicht einfach so gegangen.«

»Wenn du dich nicht bewusst dem Tod stellst, Tony, werden alle Menschen in deiner Welt entweder zu Katalysatoren des Schmerzes oder des Todes. Manchmal ist es leichter, sie irgendwo auf deinem Anwesen zu begraben, als sie wegzuschicken.«

»Also bleibt der Tod Sieger?« Tony wusste, wonach er eigentlich fragte, und wenn dieser Mann wirklich Jesus war, wie er behauptete, dann würde er es auch wissen.

»Manchmal scheint es so, nicht wahr? Aber nein, das Leben hat gesiegt! Das Leben siegt immer weiter. Ich bin der lebende Beweis.«

»Dann bist du nicht bloß eine Legende, ein Kindermärchen? Du bist wirklich von den Toten auferstanden?« Tony wollte ihn das sagen hören.

»Hah, man braucht sehr viel mehr Glauben, um zu denken, ich hätte es nicht getan. Dass ich grausam geschlagen, ans Folterkreuz gehängt, mir ein Speer durch die Seite ins Herz gebohrt, ich tot in ein Grab gelegt wurde und dass ich dann irgendwie wiederbelebt wurde, mich aus dem Leichentuch befreite, einen tonnenschweren Stein zur Seite rollte, die Elitewachen des Tempels bändigte und eine Bewegung begründete, die sich angeblich um die Wahrheit des Lebens und der Auferstehung dreht, aber in Wirklichkeit auf einer Lüge beruht? Ja, das glaubt sich viel leichter.«

Tony schaute diesen Mann an, dessen Worte von Humor und Triumph eingerahmt waren, während die Leinwand ein Porträt der Trauer zeigte.

»Es ist bloß eine Geschichte!«, rief Tony aus. »Eine Geschichte, damit wir uns besser fühlen oder um uns vorzumachen, das Leben hätte Sinn oder eine Bedeutung. Es ist eine moralische Fabel, die schwache Leute kranken Leuten erzählen.«

»Tony, ich bin von den Toten auferstanden. Wir haben die Illusion zerstört, der Tod hätte Macht. Papa-Gott hat mich mit der Macht des Geistes ins Leben zurückgeliebt und bewiesen, dass jede Ideologie der Trennung für alle Zeiten unzureichend ist.«

»Dir ist klar, dass ich kein Wort von alledem glaube?«, entgegnete Tony heftig. »Ich glaube auch immer noch nicht, dass du existierst. Sicher, da gab es diesen Juden, einen Rabbi namens Jesus, der eine Menge Gutes tat, und die Leute erfanden Geschichten über ihn, dass er angeblich Wunder vollbracht hätte und von den Toten auferstanden wäre, und sie gründeten eine Religion, aber er starb. Er starb wie alle anderen auch, und der Tod ist der Tod, und deshalb kannst du nicht existieren. Du bist nichts weiter als die Stimme meiner Mutter, die irgendwo durch mein Unterbewusstsein hallt.«

»Du hättest mich fast überzeugt«, sagte Jesus mit einem Anflug von Sarkasmus und lachte. »Das, was du gerade durchmachst, Tony, nennt man eine Glaubenskrise. Oft geschieht das im Moment eures physischen Todes, aber da es noch nie Formeln dafür gab, wie Beziehungen beschaffen sein sollen, und da du noch nicht tot bist, muss etwas Besonderes und Geheimnisvolles im Gange sein.«

Tony war überrascht. »Willst du damit sagen, du weißt nicht, warum ich hier bin?«

»Nein! Papa hat mich noch nicht eingeweiht.« Er beugte sich vor, als würde er Tony in ein Geheimnis einweihen. »Er weiß, dass ich Überraschungen liebe.«

»Langsam. Es heißt doch von dir, du wärst Gott?«

»Das heißt es nicht nur, sondern ich bin es tatsächlich!«

»Aber wie kann es dann sein, dass du nicht weißt, warum ich hier bin?«

»Wie ich schon sagte: Weil mein Vater es mir noch nicht verraten hat.«

»Aber, wenn du Gott bist, bist du dann nicht allwissend?«

»Stimmt.«

»Aber du hast doch gerade gesagt …«

»Tony«, unterbrach ihn Jesus, »du denkst nicht in Beziehungen. Du siehst alles durch die Brille einer isolierten Unabhängigkeit. Es gibt Antworten auf deine Fragen, die dich völlig verwirren und für dich derzeit überhaupt keinen Sinn ergeben würden, weil du nicht über ein Bezugssystem verfügst, in das sie hineinpassen.«

Tony nickte und wirkte so verwirrt, wie Jesus gesagt hatte.

»Ein Teil dieses Wunders von mir, dem ewigen Gott, der sich der Menschheit anschließt, besteht darin, dass ich kein Schauspieler war, der einfach der Besetzungsliste hinzugefügt wurde, sondern als ewige Realität ganz und gar Mensch wurde. Gleichzeitig habe ich nie aufgehört, ganz und gar Gott, der Schöpfer, zu sein. Heute so wie seit Anbeginn der Zeiten gilt, dass der gesamte Kosmos in mir existiert und dass ich alles zusammenhalte, es trage und behüte, auch jetzt in diesem Augenblick. Und das gilt für dich wie für jedes andere erschaffene Wesen oder Ding. Der Tod könnte das niemals sagen. Der Tod hält überhaupt nichts zusammen.«

Tony schüttelte den Kopf, versuchte zu verstehen und sträubte sich doch innerlich dagegen.

Jesus fuhr fort: »Also: Ja, ich könnte auf mein göttliches Wissen zurückgreifen, um zu wissen, aus welchem Grund du hier bist, aber ich existiere in einer Beziehung zu meinem Vater, und er hat es mir nicht gesagt, und ich vertraue darauf, dass er mich einweiht, wenn es für mich wichtig ist, darüber Bescheid zu wissen. Bis dahin werde ich in der realen Zeit, im realen Raum an deiner Seite gehen, in Glauben und Vertrauen, und sehen, welche Überraschungen Papa für uns auf Lager hat.«

»Ich kann dir überhaupt nicht folgen!« Tony hob die Hände und schüttelte den Kopf. »Ich bin so verwirrt.«

Jesus lachte leise. »Das war die einfachste Antwort, die ich im Moment für dich parat habe«, sagte er, »und die du vielleicht gerade noch begreifen kannst.«

»Na, vielen Dank!«, gab Tony zurück. »Wenn ich dich richtig verstehe, läuft es also darauf hinaus, dass du Gott bist, aber nicht weißt, warum ich hier bin.«

»Genau. Aber mein Vater und der Heilige Geist wissen es, und sobald das notwendig wird, werde ich es auch wissen.«

Immer noch kopfschüttelnd, stand Tony auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung. Wie konnte das eine Projektion seines Unterbewusstseins sein? Sie sprachen über Dinge, mit denen er sich nie zuvor beschäftigt hatte. Alles war so rätselhaft. Langsam drehten sie sich um und gingen weiter den Hügel hinauf.

»Damit ich das richtig verstehe«, fragte Tony, »es gibt den Vater, also deinen Dad, und du bist der Sohn?«

»Und dann ist da der Heilige Geist«, sagte Jesus.

»Und wer ist der Heilige Geist?«

»Gott.«

»Das ist etwas Christliches, stimmt’s? Du behauptest also, dass jeder, der an dich glaubt, an drei Götter glaubt? Dann sind Christen Polytheisten?«

»Es glauben auch viele andere Leute an mich, nicht nur Christen. ›Gläubig‹ zu sein ist eine Aktivität, keine Kategorie. Christen gibt es erst seit zweitausend Jahren. Aber was deine Frage angeht: Sind sie Polytheisten? Ganz und gar nicht.«

Jesus blieb stehen, wandte sich Tony zu und schaute ihn an.

»Hör gut zu, Tony, es gibt nur … einen Gott. Die Menschheit hat sich für die Unabhängigkeit entschieden. Die daraus resultierende Dunkelheit hat euch blind gemacht für die Einfachheit der Wahrheit. Also, eins nach dem anderen: ein Gott. Sosehr sie sich auch über die Details uneins sind, und natürlich sind diese Details und Meinungsunterschiede bedeutsam, herrscht doch zwischen den Juden mit ihren Sekten, den Christen aller Konfessionen und den Muslimen mit ihrer inneren Vielfalt diesbezüglich Einigkeit: Es gibt nur einen Gott, nicht zwei, nicht drei oder mehr. Nur einen.«

»Warte mal! Du hast gesagt …«, unterbrach Tony, aber Jesus hob die Hand, was ihn verstummen ließ.

»Als Erste und am besten haben die Juden es in ihrem Schma ausgedrückt: ›Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig!‹ Aber in den jüdischen Schriften ist von diesem ›einen‹ Gott als Vielheit die Rede. Lasst ›uns‹ Menschen machen nach ›unserem‹ Ebenbild. Das war nie als Widerspruch zu Gott als dem Einzigen gemeint, sondern als Erweiterung der Natur des Einen. Tief im jüdischen Verständnis verwurzelt war die Erkenntnis, dass der Eine zwar in seiner Essenz einzig, aber doch eine Vielheit von Personen ist, eine Gemeinschaft.«

»Aber …« Wieder brachte Jesus Tony zum Schweigen, indem er die Hand hob.

»Auch wenn das eine grobe Vereinfachung ist: Die von mir sehr geliebten Griechen, vor allem Platon und Aristoteles, brachten alle Welt dazu, über den Einen Gott nachzudenken. Aber das mit der Vielheit begriffen sie nicht, also entschieden sie sich für unteilbare Singularität jenseits allen Seins und jeder Beziehung, einen unbewegten Beweger, unpersönlich und unnahbar, aber immerhin gut, was immer das hieß.

Und dann erscheine ich auf der Bildfläche, in keiner Weise im Widerspruch zum Schma, sondern es erweiternd. Ich erklärte in größter Einfachheit und Klarheit: ›Der Vater und ich sind eins, und wir sind gut.‹ Das ist dem Wesen nach eine Beziehungserklärung. Und wie du sicher weißt, löste das alle Probleme. Endlich bekamen die Religiösen das mit ihren vielen Ideologien und Doktrinen auf die Reihe, und von da an hatte jeder Streit ein Ende, und alle lebten glücklich und in Frieden …«

Jesus schaute Tony an, der fragend die Augenbrauen hob.

»Das ist natürlich Sarkasmus pur, Tony.« Jesus grinste. Wieder wandten sie sich zum Gehen und stiegen weiter den Hügel hinauf.

»Also, weiter mit meiner Geschichte: In den ersten paar Jahrhunderten nach meiner Inkarnation gab es viele, zum Beispiel Irenäus und Athanasius, die begriffen hatten. Sie erkannten, dass Gottes ganzes Wesen beziehungsorientiert ist – drei unterscheidbare Personen, die sich so wunderbar nahestehen, dass wir eine Einheit bilden. ›Einssein‹, Tony, ist etwas anderes als ein isoliertes, unabhängiges ›Allein‹. Und der Unterschied ist die Beziehung, die Gemeinschaft: drei Personen, die unterscheidbar sind und doch untrennbar zusammengehören.«

Jesus schwieg einen Moment.

Tony schüttelte den Kopf, versuchte zu begreifen, was er gesagt hatte. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben vergleichbare Gespräche geführt zu haben. Er war fasziniert, wusste aber nicht, warum.

»Möchtest du wissen, was als Nächstes geschah? Warum die Dinge aus dem Ruder liefen?«

Tony nickte, und Jesus fuhr fort:

»Die Griechen, mit ihrer Liebe für die Isolation, beeinflussen Augustinus und später Thomas von Aquin, um nur zwei zu nennen, und so wird eine nicht beziehungsorientierte Christenheit geboren. Dann kommen die Reformer wie Luther und Calvin, die sich alle Mühe geben, die Griechen wieder aus dem Allerheiligsten hinauszubefördern. Doch sie liegen kaum im Grab, da werden die Griechen wiederbelebt und eingeladen, Religion zu lehren. Schlechte Ideen halten sich mit bemerkenswerter Zähigkeit, findest du nicht auch?«

»Das wird mir allmählich klar«, gab Tony zu. »Ich bin aber nicht sicher, ob ich jetzt mehr begreife als am Anfang deines Vortrags. Das ist alles faszinierend, sagt mir aber überhaupt nichts.«

»Ah, alles, was du wissen musst, ist das: Im Mittelpunkt allen Seins existiert ein wunderbarer Tanz hingebungsvoller, fürsorglicher Liebe – Einssein. Nichts ist tiefer, einfacher und reiner.«

»Das klingt schön. Wenn es wahr wäre …«

»Schau, wir sind da«, sagte Jesus. Der Weg tauchte in ein Wäldchen ein und wurde so schmal, dass sie hintereinandergehen mussten. Tony ging voran, dankbar, dass dieser Pfad sich nicht immer wieder teilte. Tony kam an den Rand einer Wiese und merkte plötzlich, dass er allein war. Am anderen Ende der Wiese ragte eine mächtige Steinmauer auf, die sich erstreckte, so weit das Auge reichte. Eine aus Erde aufgeschichtete Treppe führte hinauf zu einer unscheinbaren Lehmhütte, vielleicht gerade groß genug für zwei Zimmer. Aber von dort oben konnte man das ganze Tal überblicken. Tony konnte die Gestalt einer Frau erkennen, die auf einer Holzbank saß, den Rücken an die Hütte gelehnt, in der sie offenbar wohnte. Der Mann, der sich Jesus nannte, stand bereits oben bei ihr, die Hand auf ihre Schulter gelegt. Sie sprachen miteinander.

Als Tony die ungefähr hundert Stufen hinaufstieg, sah er, dass es eine ältere, runde Frau war. Ihr glänzend schwarzes Haar war zu zwei mit bunten Perlen geschmückten Zöpfen geflochten. Sie trug ein schlichtes Kleid, das in der Mitte durch einen Gürtel aus noch mehr Perlen zusammengehalten wurde. Um ihre Schultern lag eine mit Symbolen geschmückte Decke. Ihre Augen waren geschlossen, das Gesicht dem Himmel zugewandt. Sie war Indianerin, eine Angehörige der First Nations.

»Anthony«, begrüßte ihn Jesus, als Tony sich dem Paar näherte, »das ist Winyan Wanagi. Du kannst sie Kusi (kuen-schi) nennen, oder Großmutter, wenn dir das lieber ist. Es gibt ein paar Dinge, über die ihr euch unterhalten müsst. Sie weiß, warum du hier bist. Daher werde ich dich jetzt für eine Weile verlassen, obwohl ich niemals abwesend bin.« Im nächsten Augenblick war er vielleicht nicht verschwunden, aber doch unsichtbar.

»Danke, Anpo Wicapi«, sagte sie sanft.

»Setz dich!« Ohne die Augen zu öffnen, zeigte sie auf den Platz neben sich. Ihre Stimme war tief und wohlklingend. Er gehorchte. Sie saßen schweigend nebeneinander auf der Bank, sie mit geschlossenen Augen. Er ließ den Blick über das Land schweifen, das sich wie eine Decke unter ihnen ausbreitete. Von hier aus konnte er, in sicherlich mehreren Kilometern Entfernung, undeutlich die gegenüberliegende Seite der Festungsmauer sehen, und zu seiner Linken sah er, klar erkennbar, das baufällige Ranchhaus, in dem er aufgewacht war. Dieser einsame Ort sollte also sein eigenes Herz sein, falls er dem, was ihm gesagt worden war, Glauben schenken konnte. Es war nicht wirklich ein Zuhause, aber auch nicht wirklich eine Hölle. Letzteres fühlte sich momentan allerdings zutreffender an als Ersteres.

Ihr Schweigen kam ihm wie eine Ewigkeit vor, auch wenn tatsächlich wohl kaum mehr als eine Viertelstunde verstrich. Doch an Stille und Untätigkeit war Tony nicht gewöhnt. Er wartete und wurde dabei innerlich immer angespannter.

Er räusperte sich. »Möchten Sie …«

»Schschsch! Hab zu tun!«

Wieder wartete er so lange, bis er es nicht mehr aushalten konnte. »Aha, was tun Sie denn?«

»Ich gärtnere. Da ist so viel Unkraut.«

»Oh.« Er mochte nicht zugeben, dass diese Antwort für ihn überhaupt keinen Sinn ergab. »Und … was genau tue ich hier?«

»Für Unruhe sorgen. Sitz still. Atme ein, atme aus. Schweig.«

Also saß er einfach nur da und versuchte, äußerlich ruhig zu bleiben, während Bilder, Gefühle und Fragen in ihm anschwollen wie ein Fluss, der über die Ufer tritt. Gewohnheitsmäßig hob er die rechte Ferse, und sein Fuß tanzte auf und nieder. Er bemerkte diesen nervösen Versuch gar nicht, die innere Energie und Anspannung im Zaum zu halten.

Ohne die Augen zu öffnen und fast ohne sich zu bewegen, legte ihm die Frau ihre Hand auf das wippende Knie und brachte es zur Ruhe.

»Warum rennst du so schnell?« Gemessen an dem Körper, der sie hervorbrachte, klang ihre Stimme jung und weich.

»Das tue ich doch gar nicht«, erwiderte er. »Ich sitze einfach hier, wie Sie es mir gesagt haben.«

Sie nahm ihre Hand nicht weg, und er spürte, wie Wärme in sein Bein strömte. »Anthony, warum denkst du immer, Einladungen seien Erwartungen?«

Er musste unwillkürlich grinsen. Er wusste, dass er nicht zu antworten brauchte, dass sie seine Gedanken ohnehin schon kannte. Einladungen waren Erwartungen. Alle Menschen verfolgten ihre eigenen Ziele, manchmal eher offen, manchmal im Verborgenen, aber Erwartungen gab es immer. So sah es nun einmal aus auf der Welt. Oder konnte es noch einen anderen Weg geben?

»Also sitzen wir einfach nur hier herum.« Er erwartete nicht, dass sie darauf antworten würde.

»Nein, Anthony. Wir sitzen nicht einfach nur hier. Wir beten.«

»Beten? Zu wem beten Sie denn?«

»Ich bete nicht zu jemandem.« Ihre Augen waren immer noch geschlossen. »Ich bete mit jemandem.«

Er versuchte, sich zu gedulden, aber das Warten war so ungewohnt für ihn. »Mit wem denn?«, fragte er.

»Mit dir!« Ein Lächeln erschien auf ihrem faltigen Gesicht, das vom Licht des Nachmittags umschmeichelt wurde. »Ich bete mit dir.«

»Aber«, er schüttelte den Kopf, als könnte sie ihn durch ihre geschlossenen Augen sehen, »ich bete doch gar nicht.«

Sie lächelte wieder, sagte aber nichts.

Fast eine Stunde lang saßen sie dort. Er stellte sich vor, dass er seine Sorgen und Ängste in kleine imaginäre Boote warf, die er auf dem Bach davonschwimmen ließ, der nahe bei ihrer Hütte ins Tal rauschte. Diese Methode hatte er bei den Seminaren zur Aggressionsbewältigung erlernt, an denen er per Gerichtsbeschluss hatte teilnehmen müssen. Eines nach dem anderen schwammen die Boote davon, jedes mit seiner kleinen Fracht, und verschwanden außer Sicht, bis nichts mehr übrig war und er entspannt neben dieser Frau sitzen konnte und die klare Luft tief einatmete. Er konnte es sich nicht erklären, aber er fühlte sich erneut … in Sicherheit.

Letztlich war es wieder er, der das Schweigen brach. »Entschuldigung, ich weiß nicht mehr, wie man Ihren Namen ausspricht.«

Sie schenkte ihm ein strahlendes, zahnloses Lächeln, das in die beginnende Abenddämmerung hineinzuleuchten schien. »Ja, das Problem kenne ich. Großmutter … sprich es ›Großmutter‹ aus.«

Er lachte. »Okay, Großmama«, sagte er und tätschelte ihre Hand.

Zum ersten Mal öffnete sie die Augen, und wieder blickte er in diese unglaublichen Quellen des Lichts. Er sah Jesus, und doch war es anders. »Nicht Großmama«, berichtigte sie ihn. »Großmutter. Verstehst du?« Sie nickte dazu mit dem Kopf, und er erwiderte das Nicken unwillkürlich.

»Oh, ja, Großmutter«, stammelte er entschuldigend. »Ich glaube, ich verstehe den Unterschied nicht richtig.«

»Allerdings! Aber das verzeihe ich dir.«

»Wie bitte?« Er war überrascht. »Du … ich hoffe, es ist dir recht, dass ich dich duze?«

Sie lächelte und nickte.

»Du verzeihst mir etwas, das ich gar nicht verstehe?«

»Hör mal, mein Liebster.« Sie schwieg kurz, und Tony fühlte eine Woge von etwas zugleich Schmerzhaftem und Süßem, als sie dieses Kosewort benutzte. Er wurde von dieser Woge umspült, und Großmutter wartete, als wüsste sie, wann die Wirkung nachließ. Dann sagte sie: »Vor allem musst du anderen, aber unbedingt auch dir selbst, die Unwissenheit verzeihen, die so viel Schaden anrichtet. Menschen verletzen einander nicht nur absichtlich. Viel öfter geschieht es, weil sie es nicht besser wissen. Sie wissen nicht, wie sie anders sein können, besser.«

Tony wollte das Thema wechseln. Sie rührte an Gefühle, die er lieber ruhen lassen wollte. Es war auch so schon ein langer Tag gewesen.

»Wo wohnst du denn eigentlich?« Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand tatsächlich in einer solchen Hütte lebte. Es wirkte eher wie ein schlecht gebauter Schuppen für Gartengeräte.

»Ich wohne überall, wo ich bin«, kam die knappe Antwort.

»Nein, das habe ich nicht gemeint …«, fing er an, aber sie schnitt ihm das Wort ab.

»Ich weiß, was du meinst, Anthony, aber du weißt nicht, was du fragst.«

Tony wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Sprachlos zu sein war ungewohnt für jemanden, der sonst immer so schlagfertig gewesen war.

Glücklicherweise kam Großmutter ihm zu Hilfe. Sie stand auf und streckte sich. »So. Hast du etwas zu essen dabei?«

Obwohl er wusste, dass seine Taschen leer waren, kramte er darin, um sich zu vergewissern. »Nein, tut mir leid.«

»Das geht in Ordnung«, lächelte sie, »ich habe mehr als genug.« Leise in sich hineinlachend, ging sie gemächlich zum Eingang der Lehmhütte, durch deren Risse und Spalten ein warmer Lichtschein drang. Tony stand auf und ließ seinen Blick noch einmal schweifen, während der hereinbrechende Abend die Farben erst dämpfte und dann immer mehr auslöschte. Von hier oben sah er einige Lichter in der unmittelbaren Umgebung des baufälligen Ranchhauses. Zu seiner Überraschung sah er außerdem am unteren Ende des an einem großen Hang liegenden Landgutes eine Ansammlung hellerer Lichter. Er erinnerte sich nicht, dort andere Gebäude gesehen zu haben, aber er hatte ja auch nicht wirklich danach Ausschau gehalten.

Er reckte und streckte sich ein letztes Mal, um das lange Sitzen aus seinen Knochen zu vertreiben, bückte sich dann und warf einen Blick in die Hütte. Sie war innen größer, als es von außen den Anschein hatte. Aber das war möglicherweise eine Illusion, hervorgerufen durch die Art, wie Großmutter den vorhandenen Platz ausnutzte. Vor einer Wand brannte ein Feuer, und der aufsteigende Rauch verschwand durch ein ziemlich kompliziertes System von Abdeckungen, die vermutlich den Regen daran hinderten, das Feuer zu löschen, den Rauch aber entweichen ließen.

»Darf ich hereinkommen?«, fragte er.

»Natürlich, du bist hier immer willkommen!« Sie winkte ihn freundlich herein. Der Boden war mit Decken ausgelegt, und auf die Gefahr hin, irgendein Protokoll zu verletzen, setzte er sich und merkte überrascht, wie angenehm weich und flauschig diese Decken waren. Es schien sie nicht zu stören, und er machte es sich bequem. Dann schaute er zu, wie sie sich über etwas beugte, das wie ein Eintopf duftete und aussah, während daneben, auf einem Stein neben dem Feuer, ein Fladenbrot gebacken wurde. Alles wirkte schlicht und einladend und, er lächelte in sich hinein, ohne Erwartung.

Er beobachtete ihre rhythmischen Bewegungen zwischen Eintopf und Brot, die fast wie ein Tanz wirkten. »Darf ich dich etwas fragen?«

»Du möchtest wissen, warum ich hier in dieser Hütte lebe?«

Es zu leugnen hatte keinen Sinn. »Ja, das frage ich mich.«

»Etwas Besseres konntest du mir nicht geben.« Sie schaute nicht von ihrer Arbeit auf.

»Wie bitte? Ich? Aber ich hatte doch nichts damit zu tun. Ich könnte dir etwas viel Besseres bauen lassen, aber nicht das hier. Wie kannst du so etwas denken …?«

»Das ist in Ordnung, Anthony! Ich habe keine Erwartungen. Ich bin dankbar, dass in deinem Herzen wenigstens dieser kleine Platz für mich frei war. Ich reise immer mit leichtem Gepäck …« Sie lächelte, als verberge sie ein kleines Geheimnis. »… und ich fühle mich auch in den kleinsten Geschenken zu Hause. Es gibt nichts, weswegen du dich schlecht fühlen oder schämen müsstest. Ich bin durch und durch dankbar, und hier zu sein ist eine Freude!«

»Das heißt … weil das hier ich bin, also meine Welt, habe ich nur so wenig Platz für dich gelassen? Und für Jesus hatte ich viel mehr Platz übrig, aber es ist trotzdem nur ein baufälliges Ranchhaus …?« Er fühlte plötzlich Traurigkeit in sich aufsteigen und wusste nicht, warum.

»Auch für ihn ist es eine Freude, hier zu sein. Er hat die Einladung liebend gerne angenommen.«

»Einladung? Ich erinnere mich nicht, ihn je eingeladen zu haben, und dich ebenso wenig. Ich weiß ja nicht einmal, wer ihr wirklich seid.«

Jetzt drehte sie sich zu ihm um und leckte den Löffel ab, mit dem sie den Eintopf umgerührt hatte. »Es war nicht deine Einladung, Anthony. Hättest allein du darüber zu entscheiden gehabt, hätten wir wohl nie Gelegenheit erhalten, hier zu wohnen.«

Wieder einmal verwirrt, fragte Tony zögernd: »Aber wenn ich euch nicht eingeladen habe, wer dann?«

»Der Vater. Papa-Gott.«

»Der Vater von Jesus … du meinst Gott, den Vater?« Tony war überrascht und fassungslos. »Warum sollte er euch hierher einladen?«

»Nun, trotz allem, was du über ihn glaubst oder nicht glaubst, und, nebenbei bemerkt, nichts, was du über ihn glaubst, ist wahr … liebt Papa-Gott dich mit unerschöpflicher Fürsorge. Darum sind wir hier. Wir teilen seine Zuneigung für dich.« Mit diesen Worten füllte sie eine Schale mit Eintopf und reichte sie ihm, zusammen mit einem sauberen Tuch, das er als Serviette nehmen konnte.

Jetzt war er wütend! Das also war der Haken, die verborgene Absicht, der Grund, warum all das gefährlich und eine Lüge war. Wer immer diese Frau war, und obwohl er sich zu ihr ebenso hingezogen fühlte wie zu Jesus, sie hatte seine fundamentale Weltanschauung aufgedeckt, den wahren Herzschmerz, der, wie er wusste, im Bauch seines Leidens nagte. Wenn es einen Gott gab, dann musste dieser Gott ein Monster sein, ein Betrüger, der mit den Herzen der Menschen ein boshaftes Spiel spielte, der Experimente durchführte, um zu sehen, wie viel Leid Menschen ertragen konnten, der mit ihren Sehnsüchten spielte, nur um dann, wenn sie ein wenig Vertrauen fassten, alles zu zerstören, was ihnen kostbar war. Überrascht angesichts seines hochkochenden Zorns, versuchte er, sich zu beruhigen, indem er von ihrem Eintopf probierte. Es funktionierte. Die Aromen linderten seine Wut und halfen ihm, sich zu entspannen.

»Wow!«, rief er aus.

»Wow – ja, das ist eines meiner Lieblingswörter«, sagte sie und kicherte leise. »Ist mir eine Freude, dir Gutes zu tun, Anthony.«

Er schaute sie an. Sie füllte sich nun selbst Suppe in eine Schale, stand dabei mit dem Rücken zu ihm. Das Feuer tauchte ihre Gegenwart in ein besonderes Licht und schien ein unsichtbares Parfüm zu entzünden, das dem ganzen Raum etwas Liturgisches verlieh. Es ergab überhaupt keinen Sinn, dass Jesus und diese Frau zu jenem Gott in Beziehung stehen sollten, von dem sie so unverständlich positiv sprachen. Falls ihr Tonys innere Anspannung aufgefallen war, ließ sie es sich nicht anmerken.

»Und dieser Vater-Gott? Lebt er hier … in meiner Welt?«, fragte er, und in seinen Worten lag eine spröde Schärfe. Er dachte an die Ansammlung von Lichtern am unteren Ende des Anwesens.

»Nein, nicht als ein Habitat. Anthony, du hast nie Platz für ihn geschaffen, jedenfalls nicht innerhalb dieser Mauern. Zwar ist er niemals abwesend, aber er wartet draußen im Wald auf dich. Er zwingt niemandem eine Beziehung auf. Das verbietet ihm die Hochachtung, die er für euch empfindet.« Ihr Benehmen war sanft wie eine Feder. Ihm wäre es lieber gewesen, Enttäuschung aus ihrer Stimme herauszuhören. Damit konnte er umgehen. Aber Herzensgüte empfand er als glatt und wenig greifbar. So schnell, wie sein Zorn erwacht war, hatte er ihn wieder begraben. Er aß etwas Eintopf und wechselte das Thema.

»Schmeckt wirklich toll! Da sind Gewürze drin, die ich nicht erkenne.«

Sie lächelte über das Kompliment. »Habe ich aus Resten gekocht. Ein geheimes Familienrezept. Darf ich leider nicht verraten.« Sie reichte ihm Fladenbrot, das er eintunkte und probierte. Es schmeckte ebenfalls unvergleichlich gut.

»Also, wenn du ein Restaurant aufmachst, könntest du richtig Kohle verdienen.«

»Ach, Anthony – Geschäftsmann durch und durch. Haben Freude und Wohlbefinden nur dann einen Wert, wenn du Profit daraus schlägst? Es geht doch nichts darüber, einen Fluss aufzustauen und ihn in einen Sumpf zu verwandeln, nicht wahr?«

Er erkannte, wie grob seine Worte geklungen hatten, und er fing an, sich zu entschuldigen. Sie hob die Hand. »Anthony, nicht. Ich habe nur eine Beobachtung mitgeteilt, nicht bewertet, was du gesagt hast. Ich erwarte von dir nicht, dass du dich änderst. Ich kenne dich, aber ich weiß auch, wie du geschmiedet und geformt wurdest, und ich habe die Absicht, das aus der Tiefe, aus dem Vergessen, zurück ins Licht zu rufen.«

Wieder fühlte er sich unbehaglich, als hätte sie ihn nackt ausgezogen.

»Oh, danke, Großmutter.« Wieder wechselte er rasch das Thema, in der Hoffnung, ein sichereres zu finden. »Um aufs Essen zurückzukommen: Ist es in meinem Zustand, du weißt ja, Koma und so, überhaupt notwendig, zu essen?«

Ihre Antwort kam rasch und direkt. »Nein! Du wirst im Krankenhaus künstlich ernährt. Aber das ist nicht meine Vorstellung von einer guten Mahlzeit.«

Großmutter stellte ihre Schale ab und beugte sich auf ihrem Hocker vor. »Hör gut zu, Anthony. Du stirbst.«

»Na ja, Jesus hat gesagt, dass wir alle …«

»Nein, Anthony, das meine ich nicht. Du liegst in einem Zimmer in der Uni-Klinik und näherst dich dem Ereignis deines körperlichen Todes. Du stirbst.«

Er versuchte, diese Botschaft zu verdauen. »Deshalb bin ich also hier? Weil ich sterbe? Müssen alle Menschen da hindurch, durch diese … diese Einmischung? Was versucht ihr denn? Meine Seele zu retten?« Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten und er wütend wurde. »Wenn ihr Typen Gott seid, warum tut ihr dann nichts? Warum heilt ihr mich nicht einfach? Warum schickt ihr nicht irgendeinen Pfarrer oder etwas Ähnliches dort in die Klinik, der für mich betet, sodass ich nicht sterbe?«

»Anthony …«, begann sie, aber er war bereits aufgestanden.

»Ich sterbe, und du sitzt hier herum und tust nichts. Mag sein, dass nicht viel mit mir los ist, und offensichtlich habe ich mein Leben gründlich verpfuscht, aber bin ich denn völlig wertlos für euch? Zähle ich nicht doch irgendwie? Wenn es keinen anderen Grund gibt, dann vielleicht wenigstens den, dass meine Mutter mich geliebt hat. Und sie war sehr religiös, genügt das nicht? Warum bin ich hier?« Seine Stimme wurde laut. Er spürte, wie ihm die Nerven durchgingen. Verzweifelt rang er um Beherrschung. »Warum habt ihr mich hierhergebracht? Um mir zu demonstrieren, was für ein wertloses Stück Scheiße ich bin?«

Er bückte sich unter dem Eingang der Hütte hindurch und lief hinaus in den frühen Abend. Mit geballten Fäusten ging er am Rand der Treppe auf und ab, kaum sichtbar im flackernden Lichtschein des Feuers, der durch den Eingang nach draußen fiel. Im nächsten Moment kam er wieder zurück in die Hütte, diesmal mit einer klaren Absicht.

Großmutter hatte sich nicht bewegt. Sie beobachtete ihn einfach mit diesen unvergleichlichen Augen. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit spürte er, wie in ihm ein Damm brach. Mit aller Kraft kämpfte er dagegen an, doch er schaffte es nicht. Er wusste, er hätte weglaufen sollen, aber er stand stocksteif, und seine Gefühle brachen aus ihm heraus. Er verlor die Beherrschung. Plötzlich schrie er und wedelte mit den Armen, gefangen zwischen Wut und Hoffnungslosigkeit.

»Was genau wollt ihr denn von mir? Dass ich meine Sünden beichte? Dass ich Jesus in mein Leben einlade? Ist es dafür nicht ein bisschen spät? Wie es aussieht, hat er ja schon einen Weg mitten hinein in mein verpfuschtes Leben gefunden! Erkennt ihr gar nicht, wie sehr ich mich für mich selbst schäme? Sehr ihr das nicht? Ich hasse mich! Was soll ich denn denken? Was soll ich tun? Versteht ihr nicht? Ich hatte gehofft …«, seine Stimme erstarb, und eine Erkenntnis brach regelrecht über ihn herein, deren Verwegenheit bewirkte, dass er auf die Knie fiel. Er vergrub sein Gesicht in den Händen, als neue Tränen hervorströmten. »Versteht ihr nicht? Ich hatte gehofft …« Und dann sprach er es aus, formulierte den Glauben, der sein ganzes Leben beherrscht hatte, so tief verwurzelt, dass er sich dessen selbst jetzt noch, als er es aussprach, nicht völlig bewusst war: »Ich hatte gehofft … der Tod wäre das Ende.« Er schluchzte und brachte die Worte kaum heraus. »Wie kann ich sonst dem entrinnen, was ich getan habe? Wie kann ich mir selbst entkommen? Wenn es wahr ist, was du sagst, dann gibt es keine Hoffnung für mich.«