4
ZUHAUSE IST, WO DAS HERZ IST
»Wie jeder Mensch sehne ich mich
danach,
dort zu Hause zu sein,
wo ich mich gerade befinde.«
Maya Angelou
Sonnenlicht?
Wieder schien die Sonne, aber diesmal war es anders, gedämpfter und weicher. Tony setzte sich mit einem Ruck auf. Wo war er? Alle Eindrücke standen ihm frisch und lebendig vor Augen: der Tunnel, die Pfade mit ihren Myriaden Verzweigungen, das Tor, der Ire Jack, der andere Mann.
Der andere Mann? Das war das Letzte, woran er sich erinnerte. Träumte er immer noch? Befand er sich in einem Traum innerhalb eines Traumes? Er hatte geschlafen oder geträumt, er hätte geschlafen. Die Sonne schien durch Vorhänge, und es war hell genug für ihn, um zu sehen, dass er in einem behelfsmäßig ausgestatteten Schlafzimmer aufgewacht war. Eine dünne Matratze lag auf einem altersschwachen Sprungfederrahmen. Die Decke, unter der er geschlafen hatte, war ziemlich verschlissen und verblichen, aber sauber.
Tony zog die Vorhänge zurück und sah draußen die gleiche Landschaft sich ausbreiten, die er von dem Tor aus hinter der Schanzmauer gesehen hatte. Wann war das gewesen? Am vorigen Abend, gestern oder niemals? In der Ferne ragten Mauern auf, und innerhalb dieser Schutzwälle lagen terrassierte Freiflächen, eine Art Landgut. Hier und da standen Bäume, manchmal zu kleinen Wäldchen gruppiert, manchmal einzeln. Ein paar Gebäude gab es hier und da. Die meisten standen für sich allein und waren wenig bemerkenswert.
Es klopfte an der Tür. Dreimaliges Klopfen. Tony stützte sich an der Wand ab und bereitete sich innerlich auf einen erneuten plötzlichen Wechsel zwischen drinnen und draußen vor.
»Herein?« Es kam ihm mehr als Frage denn Einladung über die Lippen, aber das schien keine Rolle zu spielen.
»Würdest du die Tür für mich öffnen?«, ertönte draußen eine vage vertraute Stimme. »Ich habe keine Hand frei.«
»Oh, natürlich, Entschuldigung.« Tony zog die Tür nach innen auf.
Da stand der Fremde mit den durchdringenden braunen Augen, und plötzlich erinnerte sich Tony: »Du bist in Sicherheit.« Das hatte der Mann gesagt. Es war eine große Erleichterung gewesen, aber nun fand Tony es erstaunlich und verwirrend.
»Darf ich hereinkommen?« Der Mann lächelte. Er schien ungefähr in Tonys Alter zu sein und trug ein Tablett mit Kaffee und süßem Gebäck. Die bronzefarbene Haut des Mannes, der mit Jeans und einem Holzfällerhemd bekleidet war, wirkte wettergegerbt.
Tony bemerkte plötzlich, dass er selbst ein blau-weißes OP-Hemd trug, und zwar, wie er an einem kühlen Luftzug bemerkte, hinten offen. Er fand das verstörend und seltsam unpassend. Er fühlte sich nackt und raffte das Hemd mit einer Hand zusammen, um die Öffnung so gut wie möglich zu schließen. »Natürlich. Entschuldigung.« Er trat einen Schritt zur Seite und hielt dem Mann die Tür auf, sodass er das Zimmer betreten konnte.
»Ich habe ein paar deiner Lieblingsleckereien mitgebracht. Kaffee von Barista, einen McMinnville Cream und einen Mango Tango von Vodoo Donuts und einen wirklich himmlischen Jelly von Heavenly Donuts. Besser kann man einen Tag nicht beginnen.«
»Oh, danke!« Tony nahm sich eine große Tasse dampfende Vanille-Latte, deren perfekt schaumige Oberfläche mit einer zarten Schokoladenfeder dekoriert war. Er trank von dem heißen Getränk und ließ sich die Aromen auf der Zunge zergehen, ehe er es herunterschluckte. Dann setzte er sich vorsichtig auf die Kante des alten Federbetts. »Du … trinkst keinen Kaffee?«
»Nee, bin Teetrinker und hatte heute Morgen schon genug davon.« Der Mann zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu Tony. »Ich nehme an, du hast mehr als nur ein paar Fragen, Junge, also schieß los, und ich werde versuchen, so zu antworten, dass du es verstehst.«
»Träume ich?«
Der Mann lehnte sich im Stuhl zurück und lächelte. »Da stellst du eine ziemlich verwickelte erste Frage, und ich fürchte, die Antwort wird dich nicht befriedigen. Träumst du gegenwärtig? Ja und nein. Ich will versuchen, die Frage zu beantworten, die du meinst, und nicht nur die, die du gestellt hast. Anthony, du liegst in der Universitätsklinik von Portland im Koma und gleichzeitig bist du hier.«
»Moment! Ich liege im Koma?«
»So sieht’s aus. Ich bin hier und kann bestätigen, dass ich das gesagt habe.«
»Ich liege im Koma?«, wiederholte Tony ungläubig. Er lehnte sich zurück und trank einen Schluck von seinem wohltuend heißen Getränk.
»Und das hier?« Er deutete mit einem Kopfnicken auf seinen Kaffee.
»Das ist Kaffee.«
»Ich weiß, dass es Kaffee ist, aber ist er, nun ja, real? Wie kann ich im Koma liegen und Latte trinken?«
»Das gehört zu den Dingen, die du nicht verstehen würdest, wenn ich versuchen würde, sie dir zu erklären.«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass ich im Koma liege«, sagte Tony.
Der Mann stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Weißt du was? Ich muss ein paar Dinge erledigen. Du findest mich gleich dort draußen. Warum überlegst du dir nicht in Ruhe deine Fragen und kommst dann zu mir? Deine Sachen hängen im Kleiderschrank dort drüben. Deine Wanderschuhe findest du auch dort. Wenn du so weit bist, komm einfach nach draußen.«
»Okay.« Mehr brachte Tony nicht heraus. Er blickte nicht auf, während der andere das Zimmer verließ. Auf sehr sonderbare Weise leuchtete ihm ein, was der Mann zu ihm gesagt hatte. Wenn er im Koma lag, dann handelte es sich bei all diesen Erlebnissen lediglich um Vorgänge in seinem tiefen Unterbewusstsein. Er würde sich später an nichts erinnern. Nichts von dem, was hier geschah, war real oder wahr. Bei diesem Gedanken fiel ihm Jack ein, der Ire. Unwillkürlich musste er grinsen. Er verspürte sogar Erleichterung. Wenigstens war er nicht tot.
Er trank seinen Latte. Das Getränk schmeckte eindeutig real, aber vermutlich gab es im Gehirn Auslöser, die in anderen Teilen des Gehirns Erinnerungen stimulierten, aus denen dann eine Pseudorealität erschaffen wurde, zum Beispiel Kaffee zu trinken oder das, was er nun tat: in seinen Mango Tango zu beißen. Wow, dachte er, könnte man diese Illusion in Tüten packen, wäre das ein Riesengeschäft! Keine Kalorien, keine Nebenwirkungen von Kaffee oder Zucker und kein Herstellungsaufwand.
Er schüttelte angesichts der schieren Verrücktheit dieser Erfahrung den Kopf – falls die Sache sich überhaupt so kategorisieren ließ. Ist ein Ereignis, das in Wirklichkeit gar nicht stattfindet und an das man sich hinterher nicht erinnern kann, überhaupt eine Erfahrung?
Nach dem letzten Bissen Donut bekam Tony das Gefühl, dass es Zeit war, sich dem zu stellen, was ihn auf der anderen Seite der Tür erwartete. Auch wenn er der Meinung war, sich später an nichts davon erinnern zu können, ließ sich doch nicht leugnen, dass er sich jetzt nun einmal hier befand. Er hatte also nichts zu verlieren, wenn er das Spiel mitspielte. Rasch zog er sich an, dankbar, dass seine Fantasie ihm warmes Wasser lieferte, mit dem er sich das Gesicht waschen konnte. Er atmete tief durch und verließ das Schlafzimmer.
Er stellte fest, dass er aus dem Seitenflügel eines großzügigen, im Stil einer Ranch erbauten Hauses herausgetreten war, das schon bessere Tage gesehen hatte. Traurig und einigermaßen gepflegt, befand es sich weit unter dem Standard, an den Tony sich inzwischen gewöhnt hatte. Das Haus war eindeutig nicht prunkvoll oder protzig. Sein Zimmer ging hinaus auf eine breite, umlaufende Terrasse, die Tony viel zu renovierungsbedürftig erschien, als dass er sich hier hätte wohlfühlen können. Der Fremde lehnte am Geländer und kaute auf einem Grashalm.
Tony gesellte sich zu ihm und ließ seinen Blick über das Anwesen schweifen. Dieser Ort war eine sonderbare Mixtur. Manche Teile wirkten halbwegs gepflegt, andere Bereiche hingegen unordentlich und vernachlässigt. Hinter einem schadhaften Zaun lag etwas, das einmal ein Garten gewesen sein musste, doch jetzt von Dornengestrüpp und Unkraut überwuchert war. Jenseits davon befand sich eine Wiese mit verwilderten Obstbäumen, die offenbar schon lange keine Früchte mehr trugen. Insgesamt wirkte das Land missbraucht und ausgelaugt. Zum Glück hatten wilde Bergblumen einige der schlimmsten Narben besiedelt, als wollten sie den Verlust lindern oder im Angesicht des Todes Trost spenden.
Wenn all das, wie er vermutete, eine Manifestation seines Gehirns war, das versuchte, sich neu zurechtzufinden, indem es gespeicherte Gedanken und Bilder miteinander verknüpfte, dann war es erklärlich, dass er sich an diesem Ort, zu seiner Überraschung, durchaus wohlfühlte. Etwas hier sprach ihn an, gefiel ihm. Dieser Mann hatte von Sicherheit gesprochen. Dieses Wort hätte Tony selbst nicht unbedingt gebraucht.
»Was ist das für ein Ort?«, fragte er.
»Das ist eine Wohnstätte «, antwortete der Mann, den Blick in die Ferne gerichtet.
»Eine Wohnstätte? Was genau für eine Wohnstätte soll das denn sein?«
»Ein Platz zum Leben, ein Zuhause.« Der Mann sagte es, als ob er diesen Ort wirklich gern mochte.
»Ein Zuhause? Das hat Jack auch behauptet. Allerdings meinte er, das wäre es ›nicht genau‹. Er meinte auch, dass es ›nicht genau‹ die Hölle wäre, was immer er damit sagen wollte.«
Der Mann lächelte. »Du kennst Jack nicht. Der kann außergewöhnlich gut mit Worten umgehen.«
»Ich habe nicht alles verstanden, was er sagte, aber eines habe ich ansatzweise begriffen, glaube ich – den Unterschied zwischen real und wahr.«
»Hmmm«, brummte der Mann und schwieg, als wollte er Tonys Denkprozess nicht unterbrechen. Für eine Weile standen sie nebeneinander und betrachteten den Ort jeder auf seine Weise, der eine mitfühlend, der andere voller Unbehagen und etwas erschrocken.
»Diese Wohnstätte, von dem du sprichst – meinst du damit nur dieses alte, heruntergekommene Haus oder das ganze Anwesen?«
»Es umfasst auch alles, was du gestern gesehen hast, und mehr. Alles, was sich innerhalb dieser Mauern befindet, und alles, was außerhalb davon liegt. Aber hier«, er deutete mit der Hand an der Festungsmauer entlang, »ist das Zentrum, das Herz der Wohnstätte. Was hier geschieht, verändert alles.«
»Und wem gehört es?«
»Niemandem. Dieser Ort war niemals dafür vorgesehen, ›Besitz‹ zu sein.« Er sprach das Wort ›Besitz‹ aus, als sei es verabscheuungswürdig und gehöre nicht in seinen Mund. »Er war dazu bestimmt, frei, offen, unbegrenzt zu sein … nicht dazu, besessen zu werden.«
Ein paar Augenblicke herrschte Stille, während Tony nach der richtigen Formulierung für seine nächste Frage suchte. »Und wer ›gehört‹ hierhin?«
Ein Lächeln umspielte die Mundwinkel des Mannes, ehe er antwortete. »Ich gehöre hierhin.«
»Du lebst hier?«, fragte Tony, ohne nachzudenken. Natürlich lebte dieser Mann hier. Er war eine komplexe Projektion von Tonys eigenem Unterbewusstsein, und irgendwie interagierte Tony mit dieser Projektion. Außerdem hätte doch wohl kaum jemand hier draußen leben wollen, allein, in dieser Einöde, auf einem so verwahrlosten Anwesen.
»Allerdings lebe ich hier.«
»Allein?«
»Keine Ahnung. Ich habe noch nie allein gelebt.«
Das weckte Tonys Neugierde. »Wie meinst du das? Hier ist doch sonst weit und breit niemand. Ooh, du meinst Jack? Gibt es hier noch andere wie ihn? Kann ich sie bald einmal kennenlernen?«
»Niemand ist so wie Jack. Was die anderen betrifft: ja, aber alles zu seiner Zeit. Es besteht kein Grund zur Eile.« Ein Schweigen folgte, dessen Länge Tony unangenehm wurde. Er kramte nach Erinnerungen, die ihm helfen würden, diesen Ort irgendwie einzuordnen, aber es wollte ihm nichts einfallen – kein Bild, keine Idee, nichts, was einen Bezug zu früheren Erfahrungen hätte herstellen können. All das, was er hier sah und erlebte, sollte lediglich eine Projektion seines von Medikamenten umnebelten, im Koma vor sich hin dämmernden Gehirns sein? Darauf konnte er sich einfach keinen Reim machen.
»Und wie lange lebst du schon hier?«
»Etwas über vierzig Jahre«, antwortete der Mann. »Manche würden sagen: ein ganzes Leben. Was aber in Wirklichkeit nicht viel mehr ist als ein Wimpernschlag.«
Tony schüttelte den Kopf und erwiderte in unaufrichtigem Tonfall und mit einem Anflug von Überlegenheit: »Willst mich wohl auf den Arm nehmen, was?« Wenn das stimmte, dann war dieser Mann verrückt. Nur ein Verrückter konnte es vierzig Jahre in einer solchen Ödnis aushalten. Tony war sicher, dass er selbst hier schon nach vierzig Stunden durchdrehen würde.
Möglichst unauffällig betrachtete Tony den Fremden von der Seite, der das nicht bemerkte, oder es kümmerte ihn nicht. Tony fing an, ihn zu mögen. Er schien zu jener seltenen Sorte Mensch zu gehören, die sich in ihrer eigenen Haut wirklich wohlfühlten und auch mit ihrer Umwelt ihren Frieden gemacht hatten. Dieser Mann schien, im Gegensatz zu den meisten Leuten, die Tony kannte, völlig frei von Hintergedanken zu sein und ihn nicht übervorteilen zu wollen. Er strahlte ›Zufriedenheit‹ aus. Ja, das war wohl das passende Wort. Nur, dass niemand, der halbwegs bei Trost war, hier in dieser Einsamkeit hätte zufrieden sein können! Für Tony bedeutete Zufriedenheit Langeweile. Vielleicht war dieser Bursche einfach ein Ignorant, ein ungebildeter Hinterwäldler, der es nicht besser wusste. Aber er war da, das ließ sich nicht leugnen, als unerwartetes Element einer Projektion von Tonys Unterbewusstsein. Seine Anwesenheit musste eine Bedeutung haben.
»Würdest du mir dann freundlicherweise verraten, wer du bist?«
Jetzt drehte der Mann den Kopf, und diese unglaublich durchdringenden Augen schauten Tony an. »Tony, ich bin der, von dem deine Mutter gesagt hat, dass er dich niemals verlassen würde.«
Es dauerte einen Moment, bis diese Antwort durchsickerte, dann wich Tony einen Schritt zurück. »Jesus? Du? Du bist der Jesus?«
Der Mann sagte nichts, sondern erwiderte nur Tonys Blick, bis dieser zu Boden schaute, um sich zu konzentrieren. Und plötzlich begriff er. Natürlich war das Jesus! Wen denn sonst hätte sein Unterbewusstsein in diesem komatösen Zustand heraufbeschwören sollen, wenn nicht Jesus, den Archetyp unter den Archetypen, ein Vorstellungsbild, das in die tiefsten Tiefen des neuronalen Netzwerks eingegraben war? Und hier stand er also vor ihm, dieser Jesus! Eine neurologische Projektion, die keine echte Existenz und keine reale Substanz besaß.
Er schaute auf, und genau in diesem Moment versetzte der Fremde ihm mit der flachen Hand eine Ohrfeige, die fest genug war, um wehzutun, ohne Schäden zu hinterlassen. Tony war völlig verblüfft, und sofort wurde er wütend.
»Nur um dir zu zeigen, wie lebhaft deine Fantasie ist.« Der Mann lachte, seine Augen immer noch gütig und sanft. »Ist es nicht erstaunlich, was für kräftige Backpfeifen eine Projektion austeilen kann, die keine echte Existenz und keine reale Substanz besitzt?«
In Gegenwart anderer Leute hätte Tony sich gedemütigt gefühlt und wäre zornig geworden. Aber er war mehr verblüfft und erstaunt als alles andere. »Perfekt!«, verkündete er, nachdem er seine Gedanken wieder beisammen hatte. »Das ist der Beweis, dass du nur eine Projektion bist! Der echte Jesus würde niemals jemanden ohrfeigen!«
»Und woher bist du dir da so sicher? Kennst du ihn etwa persönlich?« Die Jesus-Person grinste und hatte sichtlich ihren Spaß. »Vergiss nicht, Tony, du hast dir selbst eingeredet, ich wäre ein Jesus, der von einem unter Drogen stehenden Unterbewusstsein erzeugt wird. Du selbst hast dieses Dilemma geschaffen. Entweder bin ich der, der ich zu sein behaupte, oder du glaubst tief drinnen an einen Jesus, der imstande ist, einen Menschen ins Gesicht zu schlagen. Nun, welche Variante ist die richtige?«
Da stand dieser Jesus und schaute mit verschränkten Armen zu, wie Tony versuchte, die Frage logisch in den Griff zu bekommen. Schließlich hob er den Kopf und antwortete: »Dann ist es wohl so, dass ich tatsächlich glaube, Jesus wäre dazu fähig, mich ins Gesicht zu schlagen.«
»Hah! Gut für dich! Tote Menschen bluten wirklich!« Jesus lachte und legte den Arm um Tonys Schulter. »Immerhin versuchst du, deinen Theorien treu zu bleiben, selbst wenn sie unwahr sind und trotz all der Schwierigkeiten, die du dir dadurch einhandelst. Eine mühsame Art zu leben, aber verständlich.«
Tony zuckte die Achseln und stimmte in das Lachen ein, obwohl er diese Bemerkung über blutende tote Menschen rätselhaft fand. Als würden sie beide ihr Ziel kennen, gingen sie gemeinsam die Stufen hinunter und stiegen dann einen Hügel hinauf, steuerten auf ein Wäldchen in der Ferne zu. Dieses kleine Waldstück befand sich offenbar am höchsten Punkt der eingefriedeten Ländereien, dicht an der grauen Mauer und nahe bei, aber oberhalb der Stelle, wo Tony am Tag zuvor Jack getroffen hatte. Von dieser erhöhten Stelle konnte man vermutlich das gesamte ummauerte Land überblicken und vielleicht sogar einen Blick auf das Tal jenseits der Mauer werfen. Unterwegs stellte Tony weitere Fragen. Der Geschäftsmann in ihm wunderte sich.
»Nach gut vierzig Jahren sieht dieser Ort ganz schön heruntergekommen aus. Mehr hast du in der ganzen Zeit nicht zustande gebracht?«
Statt über den deutlich hörbaren Vorwurf hinwegzugehen, griff die Jesus-Person ihn auf. »Ja, da hast du wohl recht. Ich bin nicht besonders gut in diesen Dingen. Dieser Ort ist nur ein Schatten dessen, was er zu Beginn war. Es gab eine Zeit, da war er ein wilder und prachtvoller Garten, offen, wunderschön und frei.«
»Ich wollte nicht unhöflich erscheinen …«, begann Tony entschuldigend, aber Jesus winkte lächelnd ab. »Es sieht nur nicht sehr nach einem Garten aus«, meinte Tony, bemüht freundlich.
»Stimmt, das Werk ist unvollendet.« Jesus seufzte, und es klang resigniert und entschlossen zugleich.
»Für mich sieht es wie ein aussichtsloser Kampf aus«, fügte Tony hinzu und versuchte, nicht zu negativ zu klingen. Er konnte einfach nicht anders. Es war seine feste Angewohnheit, in Gesprächen einen Weg zu finden, die eigene Überlegenheit zu demonstrieren.
»Es mag einige Zeit dauern, aber ich verliere niemals«, kam die ruhige, gelassene Antwort.
»Ich will ja nicht unhöflich sein, aber meinst du nicht, dass dieses Projekt schon viel zu lange dauert? Du könntest eine Menge tun, um dieses Land zu roden, es zu bepflanzen, zu düngen, etwas daraus zu machen. Ich glaube, es hat Potenzial. Ein paar Profis mit den richtigen Maschinen könnten hier in kurzer Zeit Ordnung schaffen. Wie wäre es mit ein paar Planierraupen? Mir sind ein paar Stellen aufgefallen, wo die Mauern schadhaft sind und ausgebessert werden müssen. Du könntest einen Agraringenieur und einen Architekten anheuern. In ungefähr sechs Monaten ließe sich das Anwesen auf Vordermann bringen. Und natürlich solltest du dein altes Haus abreißen und ein komplett neues bauen lassen.«
»Tony, das hier ist ein lebendiges Land, kein Bauplatz. Es ist real und atmet. Es ist kein künstliches Gebilde, das mit roher Gewalt aus dem Boden gestampft werden kann. Wenn man der Technik gegenüber Beziehungen und natürlichen Prozessen den Vorzug gibt, wenn man versucht, Erkenntnis und Reife verfrüht zu erzwingen«, er deutete mit den Armen auf das gesamte ummauerte Land, »wird man zu dem, was du hier siehst.«
Nach kurzem Schweigen fuhr Jesus fort: »Wir sind nur in der Lage, uns mit der Geschwindigkeit und in die Richtung zu bewegen, die das Land uns erlaubt. Man muss das Land ehren und darauf lauschen, was es denkt und fühlt. Dann müssen wir uns aus Respekt ganz seiner Vorstellung davon fügen, was ›real‹ ist, und es dennoch uneingeschränkt lieben, koste es, was es wolle. Nicht auf diese Weise für das Land zu leben hieße, sich auf die Seite der Aggressoren zu stellen, der Vergewaltiger und Ausbeuter, und dann wäre jede Hoffnung auf Heilung verloren.«
Tony fand das Gesagte verwirrend. »Du sprichst in Metaphern, und ich kann dir, ehrlich gesagt, nicht so ganz folgen. Du sprichst über dieses Land wie über eine Person, die du kennst und liebst. Dabei besteht es doch nur aus Erde und Stein, Blumen, Unkraut, Wasser und anderen Materialien.«
»Und genau deshalb« – Jesus berührte Tonys Schulter und drückte sie sanft – »kannst du nicht verstehen, was ich sage. Ich habe keine einzige Metapher benutzt, während du das viele Male getan hast. Weil du damit fortfährst, deine Metaphern zu bewohnen und an sie zu glauben, kannst du die Wahrheit nicht sehen.«
Tony blieb stehen, breitete die Arme aus, als wollte er das ganze riesige Anwesen umfassen, und erklärte energisch: »Aber es ist nur Erdboden! Dreck! Keine lebende Person!«
»Ach, Tony, du hast doch selbst gesagt … Staub zu Staub. Erde.«
Das war die fehlende Verbindung! Die Idee kam wie ein Schock, und ihre Konsequenzen waren schwindelerregend. Er wagte wieder den Blick in diese Augen und fand die Worte. Er fürchtete sich vor dem, was er nun andeutete. »Willst du mir etwa erzählen, dieses alles, nicht nur das innerhalb der Mauern, sondern auch alles, was außerhalb von ihnen existiert, wäre ein lebendiges Wesen?«
Jesus hielt unerschütterlich seinem Blick stand. »Ich erzähle dir noch viel mehr, Tony. Ich sage dir: Dieses lebendige Wesen … bist du!«
»Nein, das kann nicht sein!« Tony spürte eine unsichtbare Faust, die ihm in den Magen gerammt wurde. Er wandte sich ab, taumelte ein paar Schritte und schaute sich um. Von einem Moment zum anderen hatte sich seine Sicht verändert. Seine Augen hatten sich geöffnet, aber jetzt wehrte er sich verzweifelt gegen das, was er sah. Er hatte aus der Position eines Unbeteiligten, der sich überlegen fühlte, sein Urteil über diesen Ort gefällt. Er hatte es zu einem verlorenen, abgewirtschafteten Niemandsland erklärt, das sich nicht zu bewahren lohnte. Das war seine Einschätzung. Er würde alles, was lebendig war, planieren lassen und es dann durch Beton und Stahl ersetzen.
Tony sank auf die Knie und bedeckte seine Augen mit den Händen, als wollte er neue Lügen heraufbeschwören, um die Leere zu verbergen, die durch die Abwesenheit der alten Lügen hervorgerufen wurde – oder sich einer neuen Selbsttäuschung hingeben, die Zuflucht, Schutz und Trost versprach. Aber wenn man erst einmal »sieht«, kann man sich nicht mehr »blind« stellen. Die Aufrichtigkeit zwang ihn, sich die Hände vom Gesicht zu reißen. Die Klarheit wollte sich Gehör verschaffen. Er sah wieder hin, sah diesmal wirklich gründlich hin. Er entdeckte nichts, was er bewunderte oder wofür er Zuneigung verspürte. Dieser Ort war eine ausgelaugte Einöde, ein trauriger Schandfleck in einer ansonsten vermutlich ansprechenden Welt. Wenn das hier wirklich er selbst war, sein eigenes Herz, dann war er bestenfalls eine niederschmetternde Enttäuschung. Und schlimmstenfalls hasste er alles, was ihn ausmachte.
Zu weinen war eine Schwäche, die er verachtete, etwas, dem er schon als Junge abgeschworen hatte. Aber jetzt konnte er es nicht zurückhalten. Das Weinen wurde zu einem Schluchzen. Ein Damm brach, über Jahre aufgestaut, und Tony fühlte sich völlig hilflos seinen Tränen ausgeliefert. Er konnte nicht sagen, ob seine Emotionen ihn beben und zittern ließen oder ob die Erde buchstäblich unter ihm erzitterte.
»Es kann nicht wahr sein! Das kann einfach nicht sein!«, schrie er und wagte nicht, diesen Mann anzusehen, der von sich behauptete, Jesus zu sein. »Ich will nicht, dass es wahr ist!« Tony bettelte: »Bitte, sag mir, dass es nicht wahr ist! Ist das alles, was ich bin? Ein krankes, erbärmliches Ödland von einem Menschen? Das soll mein Leben sein? Bin ich so einsam und abstoßend? Bitte, sag mir, dass das nicht wahr ist!«
Wellen des Selbstmitleids und des Selbsthasses schüttelten ihn, bis er das Gefühl bekam, das Gewebe seiner Seele würde zerreißen. Eine Schockwelle schleuderte ihn zu Boden. Jesus kniete sich neben ihn und hielt ihn fest, ließ Tony geborgen in seinen Armen weinen. Jesus war stark genug, unerträglichen Schmerz und Verlust durch seine sanfte, gütige Umarmung zu lindern. Die Gegenwart dieses Mannes schien das Einzige zu sein, was Tony retten konnte.
Tony hatte das Gefühl, dass der emotionale Hurrikan ihm das Bewusstsein aus der Verankerung riss. Alles, was er für real und richtig gehalten hatte, wurde zu Staub und Asche. Aber dann, wie ein Lichtblitz, offenbarte sich ihm das genaue Gegenteil: was, wenn er in Wahrheit gerade dabei war, sein Bewusstsein, sein Herz, seine Seele zu finden? Er schloss die Augen ganz fest und schluchzte. Er wollte sie niemals wieder öffnen, nie wieder seine Schande anschauen, das, wozu er geworden war.
Dieser Jesus, Projektion oder nicht, verstand, und er barg Tonys tränenüberströmtes Gesicht an seiner Schulter. Trockenes Schluchzen schüttelte Tony, doch Jesus hielt ihn die ganze Zeit in den Armen und ließ nicht los. Das Schluchzen ließ nach, und als Tony sich schließlich beruhigt hatte, fing der Mann zu sprechen an.