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VERSCHLOSSENE TÜREN

»Man muss nie verzweifeln, wenn einem etwas verloren geht, ein Mensch oder eine Freude oder ein Glück; es kommt alles noch herrlicher wieder. Was abfallen muss, fällt ab; was zu uns gehört, bleibt uns, denn es geht alles nach Gesetzen vor sich, die größer als unsere Einsicht sind und mit denen wir nur scheinbar im Widerspruch stehen.«

Rainer Maria Rilke

Ihre Mutter wird sich sehr freuen, Sie zu sehen«, sagte die ehrenamtliche Mitarbeiterin im Pflegeheim lächelnd und führte Maggie und Clarence durch einen Flur zu einem Zimmer.

Normalerweise hätte eine solche Bemerkung Clarence irritiert, aber nicht an diesem Abend. Angespannte Erwartung drückte ihm auf den Magen, und je realer ihr Vorhaben wurde, desto wahrscheinlicher schien ihm die Enttäuschung. Er war unsicher, wie er damit fertigwerden würde, wenn der Versuch fehlschlug. »Lieber Gott«, betete er im Stillen, »deine Wege sind geheimnisvoll. Hier ist eine perfekte Gelegenheit für ein Wunder. Danke, dass du mir beistehst, danke, dass du mir Maggie und, das gilt heute Abend ganz besonders, Tony geschickt hast.«

»Clarence, du hast mir nie von deinem Vater erzählt«, sagte Maggie mit gedämpfter Stimme.

»War ein guter Mann, mein Vater. Ist vor zehn Jahren gestorben. Ich hätte mir keinen besseren Vater wünschen können, aber meine Mutter war die treibende Kraft in unserer Welt. Sein Tod damals war nicht so hart wie dieser … Zustand, in dem sie jetzt ist. Er ist wirklich fort, aber sie ist in so einer Art Zwischenwelt gefangen, und wir können sie nicht erreichen.«

Tony hatte mitgehört. Er musste lächeln, als er Clarence von der »Zwischenwelt« sprechen hörte. Fast hätte er sich in das Gespräch eingemischt, aber er besann sich eines Besseren und hielt den Mund. Das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.

Sie betraten ein sanft beleuchtetes Zimmer, in dem eine elegante, in Rot und Schwarz gekleidete ältere Farbige saß. Sie war eine attraktive Frau mit hohen Wangenknochen und funkelnden Augen, die gar nicht zu ihrer geistigen Abwesenheit zu passen schienen.

Nachdem die Helferin sie mit Clarence’ Mutter allein gelassen hatte, küsste Maggie Clarence auf die Lippen, lange und zärtlich. Wenn sie schon nur einen Kuss hatten, dann sollte er sich wenigstens lohnen! Tony glitt in einen Ort hinüber, wo er sich schon einmal für kurze Zeit befunden hatte. Geordnet ging es hier zu, und geräumig. Nun schaute er in Maggies Augen, ganz nah und sehr persönlich.

»Okay, okay, das genügt!«, rief er. Sie lächelten beide, und ihre Lippen lösten sich voneinander.

Clarence ging zu seiner Mutter. »Hallo, Mama, hier ist Clarence, dein Sohn.«

»Entschuldigung.« Sie schaute weg, ohne eine Spur des Erkennens im Gesicht. »Wer sind Sie?«

»Clarence, dein Sohn.« Er beugte sich über sie und küsste sie auf die Stirn. Sie lächelte, und zum zweiten Mal wechselte Tony in ein anderes Bewusstsein hinüber.

Dieser Ort war anders als alle anderen, die er bislang gesehen hatte. Das Licht war seltsam gedämpft, alles schien weit weg und wie mit Raureif überzogen. Er schaute nun in Clarence’ Gesicht, das hoffnungsvolle Erwartung zeigte.

»Mrs. Walker?« Seine Stimme hallte von unsichtbaren Wänden wider, als sei er in einem Metallzylinder eingeschlossen. »Mrs. Walker?« Er versuchte es erneut, aber da war nichts, nur der Nachhall seiner eigenen Stimme. Durch Mrs. Walkers Augen konnte Tony sehen, dass Clarence sich zu Maggie gesetzt hatte und sie zusammen warteten. Er hatte sich die Botschaft sorgfältig eingeprägt, die er Clarence’ Mutter überbringen sollte. Aber es schien niemand zu Hause zu sein, der sie in Empfang nehmen konnte.

Plötzlich fragte er sich, wie er eigentlich hier wieder herauskommen sollte? Darüber hatte er sich gar keine Gedanken gemacht, und nun geriet er in Panik. War er am Ende hier gefangen? Und für wie lange? Bis Mrs. Walker starb? Oder würde seine Seele zu seinem Körper in die OHSU zurückkehren, wenn dieser aufhörte zu kämpfen und starb? Beide Möglichkeiten schienen wenig erfreulich. Ein Gefühl von Klaustrophobie befiel ihn. Vielleicht konnte er zurückkehren, wenn Clarence sie erneut küsste. Er war sich nicht sicher, und diese Ungewissheit bereitete ihm immer größeres Unbehagen.

Aber es war richtig, hier zu sein. Das fühlte er deutlich. Clarence’ Wunsch zu erfüllen fühlte sich weiterhin wie eine gute Entscheidung an. Dieser Gedanke bewirkte, dass er sich beruhigte. Wann hatte er zum letzten Mal etwas für einen anderen Menschen getan, ohne Bedingung, frei von Hintergedanken? Er erinnerte sich nicht. Möglicherweise saß er nun tatsächlich in der Falle, aber er akzeptierte es mit einem Gefühl der Befriedigung.

Dann fiel ihm die hüpfende Drehung ein, die Großmutter ihm gezeigt hatte. Er probierte es aus. Nachdem er sich herumgedreht hatte, schaute er auf eine dunkle Wand. Seine Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit anzupassen, aber dann konnte er im Dämmerlicht Türen erkennen. Er ging auf die erste zu, und sie ließ sich ohne Schwierigkeiten öffnen. Dahinter war es so hell, dass er wegschauen musste, bis seine Augen sich wieder justiert hatten. Er sah, dass er am Rand eines reifen Weizenfeldes stand. Es erstreckte sich, so weit das Auge reichte, und die Halme tanzten im Rhythmus einer sanften Brise. Es war ein wunderschöner, einladender Anblick, aber Tony schloss die Tür, sodass ihn wieder die tintenschwarze Dunkelheit umfing.

Plötzlich hörte er jemanden leise summen. Er drehte den Kopf hin und her, um die Quelle des Geräusches auszumachen. Langsam tastete er sich in die Richtung vor, aus der es zu kommen schien. Er drehte sich um, und im weichen Licht konnte er draußen vor Mrs. Walkers Augen Maggie und Clarence sitzen sehen, die sich bei der Hand hielten und abwarteten, was geschah.

Die Stimme erklang eindeutig hinter der dritten Tür. Der Riegelmechanismus war ihm aus seinem eigenen Herzen vertraut. Ihn auch hier anzutreffen machte Tony lächeln. Die Tür schwang auf, und er betrat einen großen, weiten Raum. Entlang der mit Mahagoni und Kirschholz getäfelten Wände standen hohe Regale voller Bücher. Die freien Bereiche dazwischen waren mit Erinnerungsstücken übersät, mit Fotos und Kunstgegenständen. Das vergnügte Summen war nun nicht mehr weit entfernt. Tony ging um eine weit in den Raum hineinragende Regalwand herum und blieb stehen. Da war sie, die Frau, die er gesehen hatte, nur viel jünger und sehr lebendig und aktiv.

»Anthony?«, fragte sie. Ihr Lächeln erhellte die Weite des Zimmers.

»Mrs. Walker?«, sagte er verblüfft.

»Amelia, bitte.« Sie lachte. »Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir, junger Mann. Ich habe Sie schon erwartet.«

Er folgte ihrer Bitte. Sie reichte ihm eine große Tasse dampfenden schwarzen Kaffee, die er dankbar annahm.

»Woher wussten Sie denn, dass ich kommen würde?«

»Ich bin nicht allein hier, Anthony. Ich habe viel Gesellschaft. Alles ist vorübergehend und doch ziemlich dauerhaft. Es ist schwer zu erklären, wie die Dinge ineinander verwoben sind.« Ihre Stimme war rein und sanft. Wenn sie sprach, klang es fast wie eine Melodie. »Der Körper möchte so lange wie möglich an seinen Bindungen festhalten. Meiner ist, wie es scheint, ziemlich zäh, genau wie meine Persönlichkeit. Zäh, dieses Wort gefällt mir. Es klingt besser als stur oder dickköpfig, nicht wahr?«

Sie lachten beide. Ihr Gespräch verlief locker und geradeheraus.

»Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, aber sind Sie in der Lage, diesen Raum hier zu verlassen?«

»Im Moment nicht. Die Tür, durch die Sie hereingekommen sind, hat sich hinter Ihnen geschlossen, und ich bin nicht in der Lage, sie zu öffnen. Aber es geht mir gut hier drinnen. Alles, was ich während meiner Wartezeit brauchen könnte, steht mir zur Verfügung. Das alles, was Sie hier sehen« – sie ließ den Arm schweifen – »sind meine Erinnerungen. Ich bin dabei, sie zu katalogisieren und zu ordnen, für die Zeit des Sprechens. Nichts geht verloren, wissen Sie.«

»Nichts?«

»Nun, manche Dinge bleiben außerhalb des Fokus unseres Bewusstseins, aber nichts geht wirklich verloren. Haben Sie je einen Sonnenuntergang angeschaut und dabei gespürt, dass dieser Augenblick eine Tiefe hat, die keine Kamera einfangen kann, die Sie sich aber unauslöschlich ins Gedächtnis einprägen möchten? Wissen Sie, wovon ich spreche?«

»Aber natürlich.« Tony nickte. »Es ist so schön, dass es schmerzt – die momentane Freude und dann das Gefühl des Verlustes, wenn es vorbei ist.«

»Und genau das ist das Wunder: Nichts geht verloren. Die Ewigkeit wird darin bestehen, die Erinnerung auszusprechen und zu feiern, und die Erinnerung wird eine lebendige Erfahrung sein. Mit Worten« – sie lächelte – »lässt sich das nur unvollkommen beschreiben.«

Einige Minuten verbrachten sie schweigend zusammen. Tony bekam das Gefühl, er hätte hier zufrieden sitzen bleiben können, bis es Zeit für etwas anderes war, was immer das sein mochte. Amelia beugte sich vor und berührte seine Hand.

»Danke, Anthony, dass Sie eine alte Dame besuchen kommen. Wo bin ich? Wissen Sie das?«

»In einem Pflegeheim, das einen sehr netten Eindruck macht. Ihre Familie scheut keine Kosten, wie es scheint. Ich weiß nicht, ob Ihnen das klar ist, aber ich bin mit Clarence gekommen, Ihrem Sohn.«

»Wirklich?« Sie sprang auf. »Mein Clarence ist hier? Glauben Sie, dass ich ihn sehen könnte?«

»Amelia, ich bin mir nicht sicher. Ich weiß nicht einmal, wie ich selbst hier herauskommen soll. Nicht dass ich es besonders eilig hätte. Clarence bat mich, Ihnen zu sagen …«

»Dann wollen wir es versuchen. Kommen Sie.« Aufgeregt nahm sie seine Hand und zog ihn hinter sich her zu der Tür, durch die er gekommen war. Es handelte sich um eine alte, schwere Eichentür. Wie Amelia gesagt hatte, gab es keine Türklinke oder dergleichen. Das massive Holz bildete eine unüberwindlich scheinende Barriere. Nur oben in Kopfhöhe befand sich ein kleines Schlüsselloch. Schwach sichtbar, waren große Gestalten in das Holz geschnitzt.

»Cherubim.« Amelia beantwortete die Frage, die sich gerade erst in seinem Bewusstsein formte. »Wunderbare Geschöpfe sind das. Sie spenden Trost, und sie lieben es, Türen und Wege und Portale zu bewachen.«

Da dämmerte es Tony plötzlich. Natürlich! Er zog den Schlüssel unter seinem Hemd hervor, den er von dem Schlüsselbund hatte auswählen dürfen. Konnte das möglich sein? Zögernd, mit angehaltenem Atem, steckte er ihn in das Schlüsselloch. Er passte. Tony drehte ihn herum. Ein blaues, pulsierendes Leuchten floss durch die Schnur, an der Tony ihn um den Hals trug. Die Tür schwang auf, und das Licht aus dem Raum mit Amelias Erinnerungen strömte hinaus in den Raum hinter ihren Augen. Dann verschwand der Schlüssel, und Amelia und Tony standen mit offenen Mündern da.

»Danke, Jesus!«, flüsterte Amelia. Sie ging schnell an Tony vorbei in den Raum hinein. Ihr Clarence und eine Frau, die sie nicht kannte, waren durch das Fenster deutlich zu sehen.

»Mama?« Clarence schaute in Amelias Augen. »Mama, hast du etwas gesagt?«

»Amelia, Ihre Augen sind die Fenster Ihrer Seele«, flüsterte Tony. »Vielleicht können sie Sie hören, wenn Sie etwas sagen.«

Amelia stellte sich dicht hinter die durchsichtige Barriere. Ihre Gefühle waren offenkundig. »Clarence?«, fragte sie.

»Mama? Bist du das? Ich kann dich hören. Weißt du, wer ich bin?«

»Natürlich weiß ich das. Du bist mein süßer Junge, der längst groß und erwachsen ist. Schau dich an! Du bist ein wirklich attraktiver Mann.«

Plötzlich drückte Clarence sie an sich. Tony wusste nicht, wie und warum es funktionierte, aber jedenfalls gelang es. Es war, als wäre Clarence hier drinnen bei ihnen beiden und doch nicht. Wenn sie innen lächelte, lächelte sie auch außen. Wenn sie auf der Innenseite ihre Arme ausbreitete, lag Clarence draußen in ihren Armen. Irgendwie geschah es, dass sie geistig völlig präsent und bei ihm war. Clarence schluchzte, die Monate leidvollen Verlustes brachen sich Bahn. Tony schaute Maggie an, der Tränen übers Gesicht liefen.

»Mama, ich habe dich so vermisst! Es tut mir so leid, dass wir dich hier unterbringen mussten, aber niemand von uns konnte sich so um dich kümmern, wie es notwendig gewesen wäre. Und ich hatte noch nicht einmal die Möglichkeit, mich von dir zu verabschieden …«

»Sei ganz ruhig und unbesorgt, mein Kind, mein Baby.« Amelia setzte sich hin – eine kleine, zarte Frau, die ihren erwachsenen Sohn liebevoll in den Armen hielt und ihm über den Kopf strich.

Tony weinte. Erinnerungen an alles, was er nach dem Tod seiner Mutter so schrecklich vermisst hatte, überfluteten ihn. Aber es war ein guter Schmerz, ein richtiges Sehnen, eine echte Verbundenheit, und er ließ es geschehen, dass dieses warme, starke Gefühl ihn trug.

»Mein Baby«, flüsterte sie. »Ich kann nicht lange bleiben. Dieser Moment ist ein Geschenk Gottes, eine unerwartete Kostbarkeit, ein Vorgeschmack auf etwas, das du dir nicht vorstellen kannst. Sag mir rasch, wie es allen in der Familie geht! Bring mich auf den neuesten Stand.«

Das tat er – erzählte seiner Mutter von den Babys, die geboren worden waren, beruflichen Veränderungen, den jüngsten Plänen ihrer Kinder und Enkelkinder, den Ereignissen des Alltags, die trivial erscheinen und doch ewiges Gewicht haben. Lachen und Tränen waren nur einen Atemzug voneinander entfernt. Dann stellte Clarence seiner Mutter Maggie vor, und die beiden schlossen auf Anhieb Freundschaft.

Tony war überwältigt von der Heiligkeit des Alltäglichen, den Lichtfunken, von denen die einfachen Routinen und Aufgaben des Gewöhnlichen umgeben waren. Nichts war mehr gewöhnlich.

Eine Stunde verging, und Amelia wusste, dass die Zeit des Abschieds nahte. »Clarence?«

»Ja, Mama?«

»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«

»Aber selbstverständlich, Mama. Was kann ich für dich tun?«

»Wenn du mich wieder besuchen kommst, würdest du dann deine Gitarre mitbringen und mir etwas darauf vorspielen?«

Clarence war überrascht. »Mama, ich habe seit Jahren nicht mehr Gitarre gespielt, aber wenn es dir Freude macht, will ich es gerne tun.«

Amelia lächelte. »Es würde mir große Freude machen. Ich vermisse es sehr, dich spielen zu hören. Manchmal, wenn ich sonst gar nichts hören kann, höre ich Musik, und das tröstet mich.«

»Dann, Mama, werde ich liebend gern für dich spielen. Wahrscheinlich wird das auch mir guttun.«

»Ganz sicher wird es das«, sagte sie voraus. »Denke immer daran: Wo auch immer ich gerade in meiner inneren Welt herumwandere, ich kann dich in deiner Musik hören.«

Sie sagte Clarence, dass es Zeit wäre, sich zu verabschieden. Er nickte, und ihre letzte Umarmung war lang und voller Zuneigung. Drinnen streckte Amelia Tony die Hand entgegen, der hinter ihr stand. Er ergriff sie, und Amelia drückte seine Hand ganz fest. Sie wandte sich von dem Fenster ab und flüsterte leise: »Anthony, ich kann Ihnen gar nicht genug danken! Das ist eines der größten Geschenke, das mir jemals ein Mensch gemacht hat.«

»Ich habe es wirklich gern getan, Amelia, aber in Wahrheit war es Gottes Idee. Es ist mir eine Ehre, dass ich dabei mitwirken durfte.«

Amelia drehte sich noch einmal um und sagte: »Maggie, komm zu mir, meine Liebe.« Sie nahm Maggies Hände in ihre und sagte sanft: »Maggie, du lässt mein Mutterherz höher schlagen. Ich will gar nichts prophezeien.« Sie lachte leise und froh. »Aber du verdienst nur das Beste.«

Maggie neigte den Kopf. »Danke, Mrs. Wal…«

»Mama, meine Liebe, nenne mich einfach Mama.«

»Danke … Mama.« Im nächsten Moment beugte sich Amelia vor und küsste sie auf den Kopf. Wieder glitt Tony davon.

Die Autofahrt zu ihrem nächsten Ziel verlief größtenteils schweigend. Alle hingen ihren eigenen Gedanken nach. Tony dirigierte sie hinunter zum Fluss und in das Parkhaus, in dem sich der seit langer Zeit nicht mehr benutzte Hausmeisterraum befand. Er sagte ihnen, wo sie den Wagen abstellen sollten. Dann wies er sie an, die Akkus und SIM-Karten aus ihren Handys zu nehmen.

»Clever«, brummte Clarence.

»Clarence, Tony sagt, dass wir Handschuhe anziehen sollen.«

»Wird gemacht.« Clarence zog zwei Paar aus seiner Jackentasche. »Tony, ich habe nur zwei Paar. Fass also nichts an!«

Maggie kicherte. »Tony sagt, du sollst dich nicht so aufspielen. Ein guter Polizist macht noch keinen guten Einbrecher. Und außerdem wären seine Fingerabdrücke hier sowieso überall.«

Die beiden überbrückten die fünfzehn Meter zu ihrem Ziel und achteten sorgfältig darauf, genau dort herzugehen, wo Tony es ihnen sagte.

»Hier stinkt es aber.« Maggie äußerte das Offenkundige, als sie die Tür zu dem kleinen Lagerraum öffnete. Sie tastete sich an der Wand entlang und schaltete das Licht ein. Eine mattgelbe Glühbirne warf nur spärliches Licht auf den mit Gerümpel gefüllten Raum. »Das soll dein Hightech-Geheimversteck sein? Ich hätte mehr von dir erwartet, Tony.«

Er ignorierte sie, und dann bemerkte er, dass sie ihre Handtasche dabeihatte. »Du hast tatsächlich deine Handtasche mitgenommen?«

»Eine Frau geht nirgendwohin ohne ihre Tasche. Was ist, wenn wir hier drinnen eingeschlossen werden? Ich habe eine Überlebensausrüstung für eine Woche in meiner Handtasche.«

»Na, dann will ich nichts gesagt haben. Geh dort drüben in die Ecke. Siehst du den verrosteten Schaltkasten an der Wand? Ja, genau. Öffne ihn, dann siehst du eine Tastatur.« Er wartete, bis Maggie bereit war.

»Jetzt gib diese Ziffern ein: 9, 8, 5, 3, 5, 5 … gut. Und jetzt drückst du gleichzeitig die Enter-Taste und die Ein/Aus-Taste für sechs Sekunden.«

Maggie befolgte seine Anweisungen. Sechs Sekunden dauern länger, wenn man auf etwas warten muss. Fast hätte sie zu früh losgelassen, doch dann ertönte ein Surren und Klicken. Die gegenüberliegende Wand glitt zur Seite, und dahinter kam eine Brandschutztür aus schimmerndem Stahl zum Vorschein.

»Wow!«, sagte Maggie. »Das ist schon eher so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Dam, dam, dah, dah, dam, dam, dah, dah!« Sie scattete die ersten Takte der Titelmelodie von Mission Impossible.

Tony verdrehte die Augen, schüttelte den Kopf und sagte: »Lies nun die Zahlen vor, die du von Loree bekommen hast. Lass Clarence sie in die Tastatur des elektronischen Schlosses eingeben.«

»8, 8, 1, 2, 12, 6 … Clarence, Tony sagt, du sollst jetzt die Enter-Taste drücken und sie so lange gedrückt halten, bis ein Piepen ertönt. Gut! Drücke jetzt die Ziffern 1 und 3 gleichzeitig so lange, bis wieder ein Piepen ertönt. Perfekt!«

Mit dem zweiten Piepton ertönte ein metallisches Klacken. »Es hat alles funktioniert!« Tony seufzte erleichtert. »Ihr könnt jetzt hineingehen.«

Als sich die Stahltür öffnete, schaltete sich das Licht ein und gab den Blick auf die verborgenen Räume frei. Maggie sah ein modernes, schön gestaltetes Apartment, komplett ausgestattet mit Schlafzimmer, Badezimmer, einer kleinen Küche und einem großen Arbeitsbereich. Das Einzige, was fehlte, waren Fenster, aber dafür waren die Wände geschmackvoll mit Kunstwerken dekoriert. Ein großes Regal voller Bücher und Aktenordner beanspruchte eine Wand vollständig, und in der Ecke stand ein schwerer Eichenschreibtisch mit großem Computermonitor. Hinter ihnen schloss sich die Tür automatisch, und sie hörten, wie draußen die tarnende Wand wieder an ihren Platz glitt. Tony wusste, dass ein Timer die Glühbirne abschalten würde, die im Hausmeisterraum brannte.

Clarence pfiff durch die Zähne. »Wow! Wirklich beachtlich!«

»Oh ja«, stöhnte Tony. »Ist schon verrückt, was so eine Paranoia alles hervorbringen kann.«

»Du liest gerne, was?« Maggie betrachtete die Bücher im Regal. »Bist Stephen-King-Fan, hm?«

»Stimmt. Frühling, Sommer, Herbst und Tod ist eine Erstausgabe. In meiner Stadtwohnung habe ich noch mehr King-Erstausgaben, aber das ist mein Lieblingsbuch.«

»Mal sehen …« Maggie ließ den Blick schweifen. »Du hast ein paar Orson Scott Cards, dann dieses Buch von Emma Donahue, das ich immer schon lesen wollte, und … Jodi Picoult? So was liest du?«

»Normalerweise nicht. Jemand hat es im Flugzeug liegen lassen, und ich habe es mitgenommen.«

»Wow! Du hast ja auch eine Menge Klassiker! Das ist schon eher mein Stil, zusammen mit Lewis, Williams und MacDonald, und Krimis für die Entspannung.«

»Die meisten dieser alten Bücher habe ich nicht gelesen, jedenfalls nicht in letzter Zeit«, gab Tony zu. »Sie sind eigentlich eher Investitionen, als dass es sich um ein echtes persönliches literarisches Interesse handelt. Ab und zu kaufe ich eines dieser Bücher bei Powell’s. Wusstest du, dass sie extra eine Abteilung für unglaublich seltene Bücher haben?«

»Ich unterbreche euch zwei ja nur ungern«, meldete sich Clarence zu Wort. »Nimm’s mir nicht übel, Tony, aber mir ist es hier drin irgendwie unheimlich. Lasst uns erledigen, wozu wir hergekommen sind, und dann so schnell wie möglich verschwinden.«

Tony war einverstanden und dirigierte sie zu der Ecke gegenüber des Schreibtisches. Dort war ein mit dem traditionellen Drehrad ausgestatteter Tresor in den Boden eingelassen. Maggie benötigte einige Versuche mit der Zahlenkombination 9, 18, 10, 4 und 12 und den richtigen Drehungen im und entgegen dem Uhrzeigersinn, bis eine eingebaute Hydraulik endlich die Tresortür nach oben aufschwingen ließ. In dem Safe lagen mehrere Stapel Dokumente und Bargeld, außerdem einige kleine Schachteln in unterschiedlichen Größen.

Maggie zog einen schwarzen Müllsack aus ihrer Manteltasche.

»Was soll ich mitnehmen?«, fragte sie. »Das Bargeld?«

Tony lachte. »Leider nicht. Die Seriennummern aller Scheine sind anderswo registriert. Eine zusätzliche Absicherung, falls hier jemand herumgeschnüffelt hätte.«

»Wow! Du bist paranoid, aber ich bin trotzdem beeindruckt.«

»Danke für das Kompliment. Sag Clarence, dass er hierbei besser nicht zuschauen soll. Dann muss er im Fall des Falles hinterher auch nichts abstreiten. Und sag ihm, dass er nicht das Wasser in der Küche oder im Badezimmer benutzen soll, denn das wird elektronisch registriert.« Maggie gab es weiter, und Clarence entfernte sich gehorsam von dem Safe und schaute sich andere Bereiche des Geheimverstecks an.

»Okay, Maggie, siehst du den Dokumentenstapel rechts? Ja, der. Den müssen wir durchsuchen.«

Sie nahm ihn aus dem Safe und legte ihn vor sich auf den Boden. Maggie las das oberste Dokument. »Dein Letzter Wille? Ist das dieser Katzenquatsch?«

»Ja. Wie ich schon sagte, war das nicht gerade eine meiner Sternstunden. Nimm dieses Dokument und leg es in den Müllsack.« Innerlich atmete er erleichtert auf. Das unangenehme Gefühl in seinem Magen ließ nach, als die Spannung schwand.

»Okay, nimm nun die obersten circa zehn Dokumente von dem Stapel und leg sie rechts neben dir auf den Boden.«

»Sind das alles Versionen deines Testaments?«, fragte Maggie verwirrt.

»Ähm, ja. Was soll ich sagen? Ich war ein ziemlich wankelmütiger Bursche. Habe meine Meinung oft geändert, je nach Laune.«

»Gut, dass ich dich damals noch nicht kannte«, sagte Maggie. »Wir wären wohl kaum Freunde geworden.«

»Da hast du leider recht, und das wäre wirklich sehr, sehr schade gewesen, Maggie.«

Für einen Moment war Maggie sprachlos. Dann sagte sie sanft: »Wonach soll ich denn suchen?«

»Du musst nach gar nichts suchen. Blättere einfach die Dokumente durch, bis ich Stopp sage.«

Langsam gingen sie ein weiteres Dutzend dieser Testamente durch. Jedes gelesene legte Maggie auf den Erledigt-Stapel rechts von ihr.

»Stopp!«, rief Tony. Offenbar war er endlich auf das gestoßen, wonach er gesucht hatte. »Das könnte es sein. Maggie, dreh deinen Kopf nicht weg, aber schaue selbst woanders hin, während ich den Text lese.«

Sie kämpfte heftig gegen die Versuchung, anzuschauen, was Tony durch ihre Augen las. »Hör mal, ich habe ein Neugier-Gen«, stöhnte sie. »Weißt du, was du mir da zumutest?«

»Okay. Nimm das Foto, das links von den Dokumenten im Safe liegt, und schau es dir an«, schlug er vor. »Vielleicht wird dich das ablenken.«

Sie betrachtete das alte Foto, das in einer Schutzhülle steckte. »Hey, Tony, das kenne ich.«

»Was?« Er war geschockt. »Das ist unmöglich!«

»Doch. Jake hat es mir vor ein paar Tagen gezeigt. Aber sein Abzug ist in einem viel schlechteren Zustand, zerknittert und gefaltet. Aber es ist die gleiche Aufnahme. Das seid ihr, du und er und eure Eltern, stimmt’s?«

»Ja.« Dass Jake einen Abzug dieses Fotos besaß, verblüffte ihn.

»Jake sagte, dass es sein einziges Bild von euren Eltern ist. Er hat es immer in einem Schuh aufbewahrt, damit es ihm nicht gestohlen wird. Er sagte, dass es einer der letzten glücklichen Tage eurer Familie war … entschuldige, Tony, ich wollte nicht …«

Mühsam fand er seine Stimme wieder und sagte sanft: »Ist okay, Maggie. Diese Welt ist immer noch voller Überraschungen.« Dann kam ihm ein Gedanke. »Maggie, hat Jake dir zufällig erzählt, worüber wir auf diesem Foto lachen? Ich kann mich einfach nicht erinnern.«

»Ha!« Sie lachte. »Klar hat er das. Ihr habt gelacht, weil …« Sie hielt inne. »Weißt du was, Tony? Ich finde, Jake sollte dir das selbst erzählen. Das wird bestimmt ein ganz besonderer Moment für euch beide.«

»Maggie!«, bettelte Tony. »Tu mir das nicht an. Bitte, erzähl es mir.«

»Habt ihr zwei jetzt lange genug herumgetrödelt?«, ertönte Clarence’ Stimme aus dem Nebenzimmer. »Wird Zeit, dass wir hier abhauen!«

»Zurück an die Arbeit, Tony!«, flüsterte Maggie. »Was soll ich tun?«

»Gott sei Dank habe ich gefunden, wonach ich suchte, und es ist notariell beglaubigt und dergleichen. Da hatte ich wohl gerade einen besonders lichten Moment. Lege dieses beglaubigte Testament oben auf den Stapel und lege ihn dann wieder an seinen Platz im Safe. Perfekt! Nun wirf den Stapel dort rechts in den Müllsack. Clarence soll den Sack von seinem Freund schreddern lassen.«

Maggie befolgte seine Anweisungen. Gerade als sie den Verriegelungsknopf des Tresors drücken wollte, sagte Tony: »Warte! Da sind noch ein paar Dinge, die ich mitnehmen möchte. Schau bei den Papieren dort vorne. Dieses weiße Kuvert da, nimm es mit. Und oben auf dem Stapel liegt ein an Angela adressierter Brief. Ah, du hast ihn gefunden. Prima.«

»Angela?«, fragte Maggie.

»Es gab diese Momente, da habe ich für sie alles aufgeschrieben, was ich ihr nie sagen konnte. Du weißt schon, sie um Verzeihung bitten und all das. Aber diese Briefe habe ich nie abgeschickt. Das hier ist der letzte, den ich schrieb. Wenn das mit mir … nicht gut ausgeht, möchte ich, dass du ihn ihr gibst. Versprochen?«

Sie zögerte, ehe sie antwortete. »Ja, Tony, ich verspreche es.« Rasch fügte sie hinzu: »Aber es wird alles gut ausgehen, und dann kannst du ihr all das selbst sagen.«

»Ich … hoffe.« Tony versagte für einen Moment die Stimme.

»War es das? Sind wir endlich fertig hier?«, fragte Clarence ärgerlich.

Tony traf eine schnelle Entscheidung. »Nein! Da ist noch etwas. Siehst du die kleine blaue Schachtel? Nimm die auch mit. Aber öffne sie bitte nicht. Es ist etwas sehr Persönliches darin. Niemand wird erfahren, dass ich es hier aufbewahrt habe, aber zurücklassen mag ich es auch nicht.«

»Geht klar, Tony.« Maggie steckte die beiden Briefe und die Schachtel in ihre Handtasche.

»Das war’s«, sagte sie zu Clarence und reichte ihm den Müllsack.

Er signalisierte durch ein Kopfnicken, dass er wusste, was damit geschehen sollte. Dann half er ihr, den Tresor korrekt zu verschließen.

»Um das Licht müsst ihr euch nicht kümmern«, sagte Tony. »Es sind Bewegungsmelder installiert, die es automatisch abschalten.«

Beim Verlassen der geheimen Räume achteten sie sorgfältig darauf, alles so zu hinterlassen, wie sie es vorgefunden hatten.

Als sie wieder im Auto saßen, brach Maggie das Schweigen. »Was jetzt, Tony?«

»Jetzt«, antwortete er fest entschlossen, »fahren wir ins Krankenhaus, um dort eine göttliche Heilung vorzunehmen.«