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IN DER ZWISCHENZEIT

»Das, was wir für lästige Unterbrechungen halten, ist das wahre Leben.«

C. S. Lewis

Tony erwachte mit einem Ruck, sich etwas angeschlagen fühlend und unsicher, wo er sich befand. Er stolperte aus dem Bett, zog den Vorhang zurück und erkannte zu seiner Überraschung, dass er wieder in dem Zimmer auf der heruntergekommenen Ranch gelandet war, wo offenbar Jesus wohnte. Aber diesmal war das Zimmer größer und besser ausgestattet. Sein Bett bestand aus massivem, gut verarbeitetem Holz, was eine beträchtliche Verbesserung gegenüber der alten Sprungfedermatratze darstellte, auf der er hier beim ersten Mal aufgewacht war. Statt des alten, knarrenden Dielenbodens gab es jetzt solides Parkett, und wenigstens eines der Fenster war zugfrei und mit Doppelverglasung ausgestattet.

Es klopfte an der Tür – dreimal, wie zuvor, doch als er öffnete, stand dort nicht Jesus, wie er erwartet hatte, sondern es war Jack, der ein Tablett mit Frühstück und Kaffee trug und vergnügt lächelte.

»Oh, hallo, Jack-aus-Irland!«, rief Tony aus. »Nach unserer ersten kurzen Begegnung habe ich mich schon gefragt, ob ich Sie je wiedersehen würde.«

»Es ist eine Freude und ein Geschenk, Sie wiederzusehen, Anthony.« Tony machte Platz, um ihn mit seiner Fracht ins Zimmer zu lassen. Er stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch und goss eine schwarze, duftende Flüssigkeit in eine sehr große Tasse. Er drehte sich um und reichte sie Tony.

»Schwarzer Kaffee, wenn ich mich richtig erinnere. Ich für meinen Teil bevorzuge Tee. Da kann die Tasse gar nicht groß genug sein.«

Tony nickte dankbar und trank einen Schluck. Der Kaffee war gut und glitt durch die Kehle wie Seide.

»Zu meiner Freude kann ich Ihnen mitteilen«, redete Jack weiter, während er den Warmhaltedeckel von einem Teller mit Spiegelei, gedünstetem Gemüse und einem dick mit Butter bestrichenen Scone nahm, »dass es Ihnen und mir bestimmt ist, viel Zeit miteinander zu verbringen, und zwar sozusagen genau zur rechten Zeit.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt fragen sollte, wie das ablaufen wird«, murmelte Tony, während er den ersten Bissen Frühstück genoss.

»Kein Problem«, seufzte Jack, zog einen Sessel heran und ließ sich hineinsinken. »Dieser Augenblick enthält sowieso alle Augenblicke. Es gibt also keinen Grund, irgendwo anders sein zu wollen als hier und jetzt.«

»Wie auch immer.« Tony fügte sich. Inzwischen ging er viel entspannter damit um, dass er so vieles nicht verstand, was ihm in dieser Zwischenwelt gesagt wurde. »Jack, ich möchte Sie etwas fragen, wenn ich darf.« Er wedelte mit der Gabel spiralförmig in Richtung seines Gegenübers, um seiner Frage Nachdruck zu verleihen. »Ist dieser Ort, wo wir beide uns gerade befinden, das Jenseits, ich meine, das Leben nach dem Tod?«

»Oh, um Himmels willen nein!« Jack schüttelte den Kopf. »Das hier ist eher das Innenleben. Doch selbstverständlich existiert es nicht losgelöst von dem, was Sie als das Jenseits betrachten, was aber, wie Sie richtig bemerkten, unbedingt auch Leben ist.«

Tonys Gabel schwebte bewegungslos in der Luft, während er sich bemühte, dem Gesagten zu folgen.

»Gegenwärtig stecken Sie sozusagen fest zwischen dem Leben davor und dem Leben danach, und die Brücke dazwischen ist das Innenleben, das Leben Ihrer Seele.«

»Und wo leben Sie, Jack?«

»Nun, ich lebe dort, wo ich gerade bin, aber mein Wohnort ist das Jenseits, das Leben danach. Mein guter Junge, hier bei Ihnen, in Ihrer Zwischenzeit, bin ich nur zu Besuch.«

Tony kaute sein Essen, schmeckte es aber kaum, weil die Gedanken in seinem Kopf wild durcheinanderwirbelten. »Und das Jenseits, also das Leben danach – wie ist es dort?«

»Na, wenn das keine Frage ist!« Jack lehnte sich im Sessel zurück, zog geistesabwesend an seiner immer noch glimmenden Pfeife, die er aus der Brusttasche gezogen hatte. Dann steckte er die Pfeife in ihr Nest zurück und erwiderte Tonys Blick. Während er sprach, ließ er den Rauch zwischen seinen Lippen hervorströmen.

»Sie fragen mich etwas, das man eigentlich nur durch Erfahrung wissen kann. Welche Worte würden schon genügen, die Gefühle der ersten Liebe zu beschreiben, oder einen unerwarteten Sonnenuntergang, den Duft von Jasmin, Gardenie oder Flieder, den Moment, wenn eine Mutter zum ersten Mal ihr Baby in den Armen hält, ein Musikstück von transzendentalem Zauber, wie es ist, auf dem Gipfel eines Berges zu stehen, den Sie zum ersten Mal bezwungen haben, oder frischen Honig zu kosten … während der ganzen Menschheitsgeschichte haben wir nach Worten gesucht, die das, was wir wissen, mit dem verknüpfen, wonach wir uns sehnen, doch was bringt es uns? Kurze Blicke durch ein trübes Glas, hinter dem wir nur rätselhafte Umrisse erkennen können.«

Er ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. »Hier, ich möchte es Ihnen an einem Beispiel zeigen.« Jack ging zu der Kommode am Fenster, auf der unter anderem ein Blumentopf stand, in dem eine verblüffend farbenfrohe Tulpe blühte. Er holte die Pflanze und setzte sich wieder in seinen Sessel. Er zog die Pflanze aus dem Topf und entfernte sorgfältig alle Erde, bis schließlich die Zwiebel und der Stiel freigelegt waren. Er tat das sehr behutsam, wollte offenbar der Pflanze keinen Schaden zufügen.

»Das ist eine Papageientulpe«, erklärte er. »Sie wurde in Ihrem eigenen Garten gezogen. Beachten Sie«, er beugte sich näher zu Tony heran, »ihre außergewöhnlichen Blütenblätter. Sie sind fast wie Vogelfedern geformt, mit ausgefransten Rändern und einer großen Farbenvielfalt: Gold, Apricot und Blauviolett. Sehen Sie! Hier gibt es sogar kleine Schluchten aus Grün, die zwischen den Gelbtönen hindurchlaufen. Prachtvoll!

Und nun, Tony, schauen Sie sich die Tulpenzwiebel an, von der diese herrliche Blüte produziert wurde. Sie sieht aus wie ein altes Stück Holz oder ein Dreckklumpen, etwas, das man wegwerfen würde, wenn man es nicht besser wüsste. Diese Zwiebel ist wirklich kein schöner Anblick, nichts, was unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, ganz und gar gewöhnlich. Diese Wurzel, Tony« – Jack sprach lebhaft, während er die Blume vorsichtig wieder in den Topf pflanzte, die Zwiebel sorgfältig mit Erde bedeckte – »diese Wurzel ist das Leben davor. Es ist alles, was Sie kennen und erleben, und doch ist es aufgeladen mit der Ahnung von etwas anderem, etwas Größerem. Und in allem, was Sie im Leben davor kennen und erleben, finden Sie Hinweise auf die spätere Blume: in Musik und Kunst und Geschichten und Familienleben und Lachen und Entdeckungen und Fortschritt und Arbeit und Gegenwart. Aber wenn Sie nur die Wurzel gesehen haben, können Sie sich dann das Wunder der Blume auch nur annähernd vorstellen? Tony, es wird für Sie der Moment kommen, wo Sie endlich die Blume sehen, und in diesem Moment wird die Wurzel, ausnahmslos alles an ihr, Ihnen perfekt und absolut sinnerfüllt erscheinen. Dieser Moment ist das Jenseits, das Leben danach.«

Tony saß da und starrte die wunderschön einfache und doch komplexe Blume an, fassungslos. Die Gegenwart von etwas geradezu schmerzhaft Heiligem wurde ihm bewusst. Wieder einmal fragte er sich, wo er all die Jahre gewesen war? So weit er sich erinnern konnte, hatte er nie wirklich gelebt. Aber mit diesem Gedanken kamen andere, kleine Erinnerungen an das Mysterium, das doch immer wieder zwischen Stress und Hektik des Berufsalltags in sein Leben eingedrungen war: kleine Stückchen Licht und Liebe, Momente des Staunens und der Freude, die leise in ihm flüsterten, wenn es ihm gut ging, und um Aufmerksamkeit schrien, wenn er litt. Er war nie jemand gewesen, der sich die Zeit nahm, zuzuhören, aufmerksam hinzuschauen, tief durchzuatmen, zu staunen … und dafür hatte er einen hohen Preis bezahlt, da war er sich nun sicher. In diesem Moment fühlte er sich wie ein völliger Versager, und seine innere Wüste fand sichtbaren Ausdruck in dem geschädigten, ausgelaugten Land draußen vor dem Fenster.

»Tony, Sie sind eine Wurzel«, unterbrach Jack seine Gedankenspirale. »Und nur Gott weiß, was für eine Blume daraus werden wird. Hören Sie auf, sich dafür zu geißeln, dass Sie eine Wurzel sind. Ohne die Wurzel kann es niemals eine Blume geben. Die Blume ist Ausdruck dessen, was Ihnen so minderwertig und unbedeutend vorkommt.«

»Es ist die Melodie!«, rief Tony aus. Endlich verstand er, ein klein wenig zumindest.

Jack lächelte und nickte. »Da haben Sie völlig recht. Es ist die Melodie.«

»Werde ich Sie kennen, Jack? Werde ich Sie im Jenseits kennen, im Leben danach?« Tony hoffte es plötzlich.

»Durch und durch werden Sie mich kennen! Es wird ein Blumen-Erkennen sein, das eine Wurzel, die eine andere Wurzel anschaut, nicht begreifen kann.«

Tony glaubte zu verstehen, wartete aber auf weitere Erklärungen, und Jack war so freundlich, sie ihm zu geben:

»Anthony, das, was Sie jetzt von mir sehen, ist eine Mischung aus Erinnerungen und Imagination. Es ist das, von dem Ihr Verstand glaubt, dass ich für Sie so aussehen sollte. Sie sind eine Wurzel, die eine Wurzel betrachtet.«

»Und wenn wir uns im Jenseits begegnen?«

»Nun, vielleicht wird das in Ihren Ohren wie Selbstverherrlichung klingen, aber es trifft auf jeden zu, den Sie im Jenseits treffen. Wenn Sie mich aus dem Daseinszustand heraus, in dem Sie sich momentan befinden, sehen würden, wie ich wirklich bin, würden Sie sich höchstwahrscheinlich auf den Boden werfen und mich anbeten. Die Wurzel würde die Blume sehen, und das könnte sie nicht verkraften.«

»Wow!«, rief Tony aus, von der Antwort überrascht. »Sie haben recht, das klingt wirklich ganz schön eingebildet.«

»Im Jenseits bin ich alles, wofür ich geschaffen wurde, viel menschlicher, als es mir auf Erden jemals gelang, und durchdrungen von allem, was Gott ist. Bisher haben Sie kaum eine Note einer Symphonie gehört, eine Farbe eines Sonnenuntergangs gesehen, einen Tropfen eines Wasserfalls gehört. Sie sind in Ihrem Leben verwurzelt und greifen wie nach einem Strohhalm nach allem, was Ihnen ein Gefühl von Transzendenz bringt, und dabei gehen Sie sogar so weit, andere Wurzeln in imaginäre Blumen zu verwandeln.«

Tony stand auf und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Jack«, gestand er, »mein Leben, das ich für erfolgreich gehalten habe, ist in Wahrheit ein heilloses Durcheinander, und doch wollen Sie mir erzählen, dass unter alledem eine unvorstellbare Schönheit verborgen liegt? Sie behaupten ernsthaft, dass ich wichtig bin? Dass ich, obwohl ich diese hässliche, gewöhnlich aussehende Wurzel bin, dazu geschaffen wurde, eine einzigartige und außergewöhnliche Blume zu werden? Das ist es doch, was Sie mir sagen wollen … richtig?«

Jack nickte. Er zog erneut die Pfeife aus der Tasche, um einen Zug zu nehmen.

»Und ich nehme an«, fuhr Tony fort, »dass dies auf alle Menschen zutrifft, die jemals geboren wurden …«

»Empfangen!«, unterbrach ihn Jack.

»Jede Person, die auf dem Planeten ›empfangen‹ wurde, jeder, der im Leben davor, im Diesseits, existiert, ist eine Wurzel, in der eine Blume wartet? Richtig?«

Wieder nickte Jack, und nun ging Tony zu ihm, stellte sich dicht vor ihn hin, beugte sich vor und legte seine Hände auf Jacks Schultern. »Und wozu dann diese ganze Scheiße, Jack? Die Schmerzen, die Krankheiten, die Kriege, die Verluste, all der Hass, die Grausamkeit und Brutalität, die Ignoranz und Dummheit und …« Eine ganze Liste des Bösen sprudelte aus ihm heraus, und es fühlte sich schrecklich an, sie auszusprechen. »Jack, Sie wissen doch, was wir mit Wurzeln machen. Wir verbrennen sie, wir gebrauchen und missbrauchen sie, wir zerstören sie, wir verkaufen sie, wir behandeln sie wie den abstoßenden Unrat, für den wir uns selbst halten!« Er ließ Jack wieder los, der sich die Tirade freundlich, aber ohne eine Miene zu verziehen, angehört hatte.

Tony ging zum Fenster und schaute hinaus. Er entdeckte dort nichts Besonderes und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Schweigen hing zwischen ihnen wie ein trennender Vorhang, doch Jack schlug ihn beiseite.

»Das Problem des Schmerzes«, sagte er sanft, »ist ein Wurzel-Problem.«

Tony hörte die Antwort hinter sich und ließ den Kopf hängen. »Ich weiß nicht, Jack«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob ich den Mut habe, meinem ganzen Müll ins Gesicht zu sehen. Der Haufen ist schrecklich und groß.«

»Keine Sorge, mein Junge«, antwortete Jack freundlich. »Wenn es so weit ist, werden Sie diesen Weg gehen. Vergessen Sie nicht, Tony, dass nichts Gutes jemals vergessen wird oder vergeblich war, nichts, was wahr, edel, richtig und gerecht ist.«

»Und was ist mit all dem Schlechten, dem Grausamen und Falschen?«

»Ah, das ist das wahre Wunder.« Jack war offenbar von seinem Sessel aufgestanden, denn Tony spürte plötzlich eine feste, fleischige Hand auf der Schulter. »Irgendwie ist Gott in der Lage, den Schmerz, die Verluste, das Schlechte in das zu verwandeln, was es eigentlich niemals hätte sein können: Ikonen und Monumente der Gnade und Liebe. Das ist dieses tiefe Mysterium, wieso Wunden und Narben kostbar werden können oder warum ein schreckliches, furchteinflößendes Kreuz zum Symbol für unerschütterliche Zuneigung werden kann.«

»Aber ist es das wert?«, flüsterte Tony.

»Falsche Frage, Sohn. Es gibt kein ›Es‹. Die Frage ist und war es immer: ›Bist du es wert?‹ Und die Antwort lautet immer und ewig: ›Ja!‹«

Dieser Satz hing in der Luft wie die letzte Note eines Cellos und verklang nur allmählich. Tony fühlte, wie der Griff auf seiner Schulter fester wurde, ermutigend, sogar liebevoll, und Jack schlug vor: »Hätten Sie Lust auf einen Spaziergang? Sich Ihren Besitz anschauen? Ein paar Nachbarn kennenlernen? Aber dafür sollten Sie sich besser etwas anziehen.«

»Ich habe Nachbarn?«, fragte Tony.

»Nun, Nachbarn nicht direkt. Illegale Landbesetzer trifft es wohl eher. Aber ich bin hier, um Sie zu ihnen zu führen, wenn Sie möchten. Ist Ihre Entscheidung. Ich warte draußen, während Sie es sich überlegen.«

Damit ging er hinaus und überließ Tony einem Wirrwarr aus Gedanken, Gefühlen und noch mehr Fragen. Aber die Aussicht, an diesem Ort andere Menschen zu treffen, weckte seine Neugierde. Also zog er sich eilig an, spritzte sich ein bisschen Wasser ins Gesicht, lächelte sein Spiegelbild kopfschüttelnd an und ging zur Tür.

Der Morgen war frisch, mit jenem kühlen Biss, der auf eine Wetteränderung hindeutete. Am Horizont rotteten sich ein paar Wolken zusammen, noch nicht bedrohlich, aber mit Potenzial.

»Hier, ziehen Sie das über.« Als Tony ins Freie trat, reichte Jack ihm eine Jacke. Es war eine wohlvertraute gefütterte Columbia-Windjacke. Tony schlüpfte hinein, dankbar, dass es kein Tweed war. Jack war wie immer gekleidet, aber jetzt trug er einen knorrigen Wanderstock und eine alte Fischermütze aus Tweedstoff, die dringend Beachtung verdiente.

»Nette Mütze!«, sagte Tony anerkennend.

»Oh, dieses alte Ding? Na, danke für das Kompliment. Ich verliere sie ständig, aber irgendwie taucht sie immer wieder auf. Wenn das geschieht, weiß ich nichts anderes mit ihr anzufangen, als sie wieder aufzusetzen, bis sie erneut verschwindet.«

Tony stand da und ließ den Blick über das Anwesen schweifen. Zu seiner Überraschung bemerkte er ein paar Verbesserungen, so als wäre eine Brise der Ordnung durch das frühere Chaos geweht, jedoch nur so viel, dass man den Unterschied bemerkte. Allerdings bemerkte er in einigen der fernen Schutzmauern Löcher, eingestürzte Stellen, die neu zu sein schienen. Jedenfalls erinnerte er sich nicht an sie. »Aber vielleicht habe ich einfach nicht genau hingesehen«, dachte er, während Jack auf einen Pfad zeigte, der zu einem kleinen Wäldchen führte. Dahinter stiegen kaum sichtbare Rauchfahnen auf.

»Nachbarn?«, fragte Tony.

Jack lächelte und zuckte die Achseln. Er schien nicht mehr dazu sagen zu wollen.

Während sie gingen, fragte Tony: »Jack, dieser Ort, diese Zwischenwelt, die gewissermaßen meine eigene Seele zu sein scheint – bin ich hierhergebracht worden, um mit meinen Sünden und Fehlern konfrontiert zu werden?«

»Nein, mein Junge, ganz im Gegenteil«, versicherte ihm Jack, »Ihre Zwischenwelt und das Leben danach bauen auf dem auf, was Sie richtig gemacht haben, nicht auf Ihren Fehlern. Es ist nicht so, dass Ihre Fehler keine Konsequenzen haben oder einfach verschwinden. Das meiste davon ist hier ringsum für Sie deutlich sichtbar, aber das Augenmerk liegt auf dem Wiederaufbau, nicht auf der Zerstörung.«

»Ja, aber …«, begann Tony, doch Jack hob die Hand und sagte:

»Ja, das Alte muss abgerissen werden, damit Neues errichtet werden kann. Für eine Auferstehung muss es zunächst eine Kreuzigung geben, aber Gott verschwendet niemals etwas, noch nicht einmal das Falsche, dessen Existenz wir herbeiimaginiert haben. In jedem abgerissenen Gebäude gibt es vieles, das einmal wahr, richtig und gut war. Und das wird in das Neue eingewoben. Tatsächlich könnte das Neue ohne das Alte niemals sein, was es ist. Die Seele wird renoviert und instand gesetzt. Da Sie aus Oregon stammen, müssten Sie ja wissen, was Recycling ist, oder?«

Jacks Schmunzeln war ansteckend.

»Also«, sagte Tony, »das mit dem Bauen und Renovieren gefällt mir. Nur mit dem Abreißen kann ich mich nicht recht anfreunden.«

Jack seufzte. »Tja, das ist nun einmal der Haken an der Sache. Es muss etwas Altes abgerissen werden, damit das Wahre, Richtige und Gute errichtet werden kann. Es muss eine Beurteilung und Demontage stattfinden. Das ist nicht nur wichtig, sondern unvermeidlich. Doch Gott in seiner Güte wird diesen Abriss niemals ohne Ihre Mitwirkung vornehmen. Meistens muss Gott ohnehin nur wenig tun. Wir sind Meister darin, Fassaden zu errichten, die wir dann selbst wieder niederreißen. In unserem Streben nach Unabhängigkeit sind wir sehr destruktiv. Erst errichten wir Kartenhäuser, und dann bringen wir sie eigenhändig wieder zum Einsturz. Süchte jeder Art, Machtstreben, die vermeintliche Sicherheit unserer Lügen, Gier nach Ruhm, das Klammern an unseren guten Ruf, der Ausverkauf der menschlichen Seele … alle diese Kartenhäuser versuchen wir vor dem Einsturz zu bewahren, indem wir ängstlich den Atem anhalten. Aber dank der Gnade Gottes müssen wir eines Tages doch atmen, und wenn wir das tun, vereinigt sich der Atem Gottes mit unserem eigenen, und alles stürzt in sich zusammen.«

Sie gingen nun langsamer, denn der Pfad war schmal geworden, wand sich zwischen kleinen Felsbrocken und Baumwurzeln hindurch, die wild verstreut dort herumlagen, wo sich einmal ein gerader, gut begehbarer Weg befunden haben musste. Ein unangenehmer Geruch lag in der Luft und verdichtete sich, je weiter sie gingen, immer mehr zu einem bestialischen Gestank, der Tony die Nase rümpfen ließ. »Puh, was ist das? Riecht wie …«

»Müll? Ja, genau das ist es«, erwiderte Jack. »Ihre Nachbarn sind nicht gerade reinlich, und sie verschwenden keine Zeit mit Aufräumen und Saubermachen! Der Abfall ist das, was für sie abfällt. Das haben sie selbst so gewählt. Schauen Sie!«

Aus vielleicht hundert Metern Entfernung kamen zwei große Gestalten auf sie zu. Jack hob die Hand, und Tony blieb stehen.

»Wir müssen uns nun verabschieden, Anthony. Ich bin nicht sicher, ob wir uns in dieser Zwischenzeit noch einmal begegnen, aber auf jeden Fall werden wir im Jenseits reichlich Gelegenheit haben, uns zu treffen.«

»Sie verlassen mich, Jack? Aber was ist mit diesen Nachbarn? Ich dachte, Sie würden mich ihnen vorstellen.«

»Ich habe gesagt, dass ich Sie zu ihnen führen werde, sodass Sie sie treffen können. Es ist nicht nötig, dass ich Sie miteinander bekannt mache.« Seine Worte waren freundlich und sanft. Mit einem verschmitzten Lächeln fügte er hinzu: »Ich bin bei ihnen nicht sehr beliebt. Wenn sie uns beide zusammen antreffen, würde das für mehr Verwirrung sorgen als Ihre alleinige Anwesenheit.«

»Wie üblich bin ich es, der verwirrt ist«, gestand Tony. »Ich verstehe nicht.«

»Das müssen Sie auch nicht, mein Junge. Denken Sie einfach daran, dass Sie niemals allein sind. Sie haben alles, was Sie im Moment brauchen.«

Jack drückte Tony kräftig an sich, und dann küsste er ihn sanft und ganz kurz auf die Wange, wie es ein Vater mit seinem geliebten Sohn tun würde.

Tony glitt davon.