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DURCH FREMDE AUGEN
»Je mehr du dich deinem Ziel
näherst,
desto leichter kommst
du vom Weg ab.«
Paul Simon
In Portland war es Nacht geworden. Irgendwo über den scheinbar immer vorhandenen Wolken schwebte der Vollmond, und die in solchen Nächten übliche größere Patientenzahl frequentierte die Notaufnahme der OHSU. Auf der neurologischen Intensivstation im siebten Stock war es dagegen erfreulich ruhig. Hier fand nur die Routineüberwachung der Patienten statt, ein bestens einstudierter, vorhersehbarer Tanz der diensthabenden Ärzte und des Pflegepersonals.
Dr. Victoria Franklin, Chefärztin der Neurochirurgie, machte ihre abendliche Visite mit einem Kader von Studenten, die sich um sie drängten wie eine Schar Küken um die Mutterhenne. Jedes Küken hoffte, bei ihr Eindruck zu machen und sich nur ja keine Blöße zu geben. Sie war eine kleine Afroamerikanerin, die ein bisschen altbacken wirkte, aber mit ihren Augen und ihrem Auftreten mühelos die Aufmerksamkeit der Studenten und Kollegen fesselte.
Nächster Halt auf der Visite war Zimmer 17. Die Stationsärztin trat an das Bett und las die Informationen von der Patientenakte ab. »Unser Patient heißt Anthony Spencer«, begann sie. »Falls er solange durchhält, wird er in ein paar Wochen 46. Er ist Geschäftsmann und war schon ein paarmal in unserem Haus zu Gast. Einmal wegen einer gerissenen Achillessehne, ein anderes Mal, als ihm eine Lungenentzündung zu schaffen machte. Davon abgesehen war er gesund. Er wurde gestern mit einem Kopftrauma eingeliefert, einer großen Platzwunde auf der Stirn und einer Gehirnerschütterung, die er sich vermutlich zugezogen hat, als er an der Stelle, wo wir ihn gefunden haben, kollabierte. Er blutete aus dem rechten Ohr.«
»Eine Blutung, die worauf hindeutet?«, fragte Dr. Franklin streng.
»Einen Schädelbasisbruch«, antwortete die Stationsärztin. Sie fuhr fort: »Als die Sanitäter versuchten, den Patienten zu stabilisieren, erlitt er einen Herzstillstand. Er wurde sofort hierher transportiert. Die Scans ergaben eine Subarachnoidalblutung, und außerdem fanden wir ein subfalxiales Meningeom im Stirnlappen, mittig unterhalb der Falx cerebri.«
»Was also haben wir hier?«, fragte die Chefärztin.
»Ein höchst ungewöhnliches gemeinsames Auftreten dreier Prozesse. Trauma, Aneurysma und Tumor.«
»Auf welcher Seite des Gehirns befindet sich der Tumor?«
»Hm, das wissen wir nicht. Aber er trug seine Armbanduhr rechts.«
»Und das bedeutet?« Dr. Franklin wandte sich einem anderen Studenten zu.
»Hm. Dass er Linkshänder ist?«
»Und das ist wichtig, weil …?«
Während die Fragen und Antworten in Zimmer 17 noch eine kurze Zeit weitergingen, ehe die Chefärztin und ihr Gefolge ins nächste Zimmer und zur nächsten medizinischen Lagebeurteilung wechselten, fand im zehnten Stock des benachbarten Gebäudes, der Doernbecher-Kinderklinik, eine hitzige Diskussion statt.
Molly Perkins war wütend und müde. Das Leben einer alleinerziehenden Mutter war auch so schon schwierig genug, aber an Tagen wie diesem schien es eine hoffnungslose Überforderung zu sein. Man sagt von Gott, dass er uns nicht mehr austeilt, als wir bewältigen können, aber Molly hatte das Gefühl, am Ende der Fahnenstange angelangt zu sein. Berücksichtigte Gott die Last, die sie sich zusätzlich zu dem aufbürdete, was sie normalerweise schon zu bewältigen hatte? Berücksichtigte Gott das, was andere ihr aufhalsten? Sie konnte es nur hoffen.
Molly und der diensthabende Arzt führten ein Gespräch ähnlich denen, die für sie seit fast vier Monaten zum Alltag gehörten. Sie wusste, dass dieser Mann hier nicht die Ursache für ihr Leid war, aber in diesem Moment war es ihr egal. Freundlich und geduldig ließ er Mollys Ärger, zu dessen Zielscheibe er unglücklicherweise geworden war, über sich ergehen. Ihre wundervolle vierzehnjährige Tochter Lindsay lag im Sterben, nur einen Steinwurf von der Stelle entfernt, wo sie standen. Ihr Körper war nicht nur von der fortschreitenden Leukämie gezeichnet, sondern auch von den Medikamenten, die in dieser zitternden und immer schwächer werdenden Insel der Menschlichkeit gegen die Krankheit kämpften. Molly war sich sehr wohl bewusst, dass dieses Krankenhaus voll war mit anderen, die wie ihre Lindsay mit dem eigenen Körper im Krieg lagen. Aber im Moment war Molly zu erschöpft, um mehr als nur das Leid ihrer Tochter an sich heranzulassen.
In den Schützengräben der Medizin kämpften viele mitfühlende Menschen wie dieser Arzt, den Molly verbal geißelte. Auch wenn sie nach der Arbeit vielleicht wegen der Verluste, die sie nicht hatten verhindern können, in ihre Kissen weinten, behielten sie im Dienst doch die Nerven. Doch oft verfolgten Schuldgefühle sie, weil sie selbst damit fortfuhren, zu leben, zu lachen, zu spielen und zu lieben, während sie viele ihrer Patienten, oft ganz jung und unschuldig, trotz allen Bemühens nicht zu retten vermochten.
Eltern wie Molly Perkins brauchten Antworten und Hoffnung, selbst wenn es keine mehr gab. Doch die Ärzte konnten nur immer neue Fakten und Tabellen präsentieren und versuchen, das Unvermeidliche möglichst schonend zu erklären. Glücklicherweise gab es auch immer wieder Siege, aber die Verluste schienen viel schwerer zu wiegen, besonders wenn sie sich häuften.
»Wir werden morgen noch einmal eine Reihe von Tests durchführen, Ms. Perkins, die uns zeigen, wie weit wir noch vom absoluten Tiefstpunkt entfernt sind, wenn die Zahl der weißen Blutkörperchen auf null zurückgeht. Ich weiß, Sie haben all das schon viele Male gehört, also entschuldige ich mich dafür, wenn es auf Sie in irgendeiner Weise herablassend wirkt. Werden Sie dabei sein können? Es ist leichter für Lindsay, wenn Sie hier sind.«
»Ja, ich komme.« Sie strich sich die blonde Strähne aus der Stirn, die sich irgendwie nie bändigen ließ. Was würde ihr Chef diesmal sagen? Irgendwann würde es mit seiner Geduld vorbei sein. Er konnte nicht ständig ihre Kollegen bitten, für sie einzuspringen. Auch wenn sie stundenweise bezahlt wurde, also nur für die Arbeit, die sie auch tatsächlich ableistete, brachte ihr häufiges Fehlen doch die Abläufe durcheinander. Die anderen zeigten zwar Verständnis für den Wind, der Mollys Leben durchschüttelte, aber sie hatten ihr eigenes Leben, ihre eigenen Familien und wartenden Töchter.
Sie warf einen Kontrollblick hinüber zu Cabby, der in der Nähe auf einem Besucherstuhl saß. Der Sechzehnjährige blätterte in dem Fotoalbum mit Bildern der Familie und guter Freunde, das er oft mitbrachte, um sich die Zeit zu vertreiben, sanft vor und zurück schaukelnd wie zu einem unsichtbaren Wind oder Rhythmus. Er war beschäftigt, und das war gut. Man musste immer ein Auge auf ihn haben. Cabby spürte ihre Aufmerksamkeit und schaute auf, zeigte ihr sein wunderbares Lächeln und winkte liebevoll. Sie formte einen Kuss und schickte ihn durch die Luft zu ihrem erstgeborenen Kind, dem Resultat von etwas, das sie für wahre Liebe gehalten hatte. Ted hatte ihr treu zur Seite gestanden – bis zu dem Moment, als er zum ersten Mal das runde Gesicht, die mandelförmigen Augen und das kleine Kinn des Neugeborenen gesehen hatte. Plötzlich war der romantische Idealismus ihres Freundes aus dem Orbit gefallen und in die Realität tagtäglicher Verpflichtung gestürzt.
Da sie beide gesund waren, mit dem naiven Optimismus der Jugend und der Welt als gemeinsamem Feind, hatten sie die Vorteile vorgeburtlicher Arzttermine und Check-ups ignoriert, die ihr Bundesstaat im Rahmen öffentlicher Programme kostenlos anbot. Nicht dass sie sich gegen das Kind entschieden hätte, wenn sie es vorher gewusst hätte. Nach dem anfänglichen Schock über die geistige Behinderung ihres Sohnes erwachte in ihr eine glühende Liebe zu ihrem kleinen Jungen. Und den Ausdruck bitterer Enttäuschung auf Teds Gesicht würde sie niemals vergessen. Während sie sich in ihren behinderten kleinen Kerl verliebte, entliebte Ted sich von ihr. Sie weigerte sich, schwach zu werden und davonzulaufen. Ted tat genau das.
Manche Männer, die mit ihrer eigenen Sterblichkeit oder Scham konfrontiert werden, mit der ungewollten Aufmerksamkeit und dem Eindringen eines Kindes in ihr Leben, das nicht ihren Erwartungen entspricht, rechtfertigen ihre Feigheit mit edlen Worten und schleichen sich dann durch die Hintertür davon. Ted gab sich noch nicht einmal die Mühe, Lebewohl zu sagen. Drei Tage nach Cabbys Geburt kehrte Molly in ihre winzige Dreizimmerwohnung zurück, über der Bar, in der sie kellnerte, und fand keine Spur von Ted. Er hatte alles, was ihm gehörte, mitgenommen und war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. In all den Jahren, die inzwischen vergangen waren, hatte sie nie wieder etwas von ihm gehört oder gesehen.
Wenn etwas Unvorhergesehenes eintritt, zeigt sich, wie es um unser Herz wirklich bestellt ist. Eine kleine Ungewissheit, die Aufdeckung einer winzigen Lüge, ein klein bisschen mehr vom 21. Chromosom, die Kollision des imaginierten Ideals mit der Realität kann bewirken, dass die Räder des Lebens blockieren und sich hinter der sorgsam aufgebauten Fassade der wahre, arrogante Charakter eines Menschen offenbart.
Zum Glück ist für die meisten Frauen, im Gegensatz zu manchen Männern, Flucht keine Option. Molly reagierte auf ihre Verluste, indem sie sich mit Herz und Seele ganz ihrem Sohn zuwandte. Sie nannte ihn Carsten, nach ihrem Urgroßvater. Dafür gab es keinen besonderen Grund, außer dass der Name ihr immer gefallen hatte und ihr viele liebenswerte Geschichten über diesen Menschen erzählt worden waren. Den Namen Cabby hatte ihr Sohn sich selbst gegeben, weil er ihn leichter auszusprechen fand.
Ungefähr ein Jahr nachdem sie mit Cabby nach Hause gekommen war, ließ sie sich von einem Barbesucher mit sympathisch wirkendem Gesicht und faszinierenden Händen um den Finger wickeln. Sie hätte es besser wissen müssen, aber die Sehnsucht ihres Herzens nach etwas Zärtlichkeit inmitten der täglichen Belastungen bewirkte, dass sie ihre inneren Alarmglocken ignorierte. Für ihn war sie bloß eine weitere seelenlose Eroberung, ein Weg, sich für eine Nacht durch den Körper eines anderen Menschen selbst zu lieben. Für Molly wurde diese Liebschaft zu einem Katalysator für umfassende Veränderungen. Mit der Unterstützung sozialer Hilfsstellen, einiger Freunde und einer Kirche, hinter deren Steinmauern mitfühlende Herzen zu Hause waren, zog sie um, suchte sich eine andere Arbeit und brachte neun Monate später Lindsay Anne-Marie Perkins, knapp 3,5 Kilo schwere, dunkelhaarige Gesundheit, nach Hause in eine Gemeinschaft, die ihr Kommen freudig erwartete. Nun, vierzehn Jahre später, war es Mollys Tochter, die todkrank in der Klinik lag, während Cabby, ihr Sohn mit Down-Syndrom, sechzehn und mit dem Verstand eines Achtjährigen, vor Gesundheit strotzte.
»Es tut mir leid«, sagte Molly. Der Arzt nickte verständnisvoll. »Um wie viel Uhr finden die Tests denn statt?«
»Wir würden gerne gegen 14 Uhr beginnen, und es wird wohl den ganzen Nachmittag dauern. Ist das für Sie machbar?«
Er wartete auf ihre Einwilligung, während sie mental durchging, ob sie ihren Tagesplan entsprechend umändern konnte. Als sie nickte, fuhr er fort: »Wie wäre es, wenn wir uns kurz Lindsays letzte Untersuchungsergebnisse anschauen?« Er deutete auf das Arztzimmer, vor dem sie standen. »Ich kann sie Ihnen auf dem Computerschirm zeigen. Das dauert nur ein paar Minuten. Und dann geben Sie mir ein paar Unterschriften, die wir für die Tests morgen benötigen. Wenn Sie noch Fragen haben, will ich sie gerne beantworten.«
Sie warf einen kurzen Blick hinüber zu Cabby, aber er war immer noch mit dem Fotoalbum beschäftigt. Er schien nicht zu registrieren, was um ihn herum vorging. Er summte leise vor sich hin und machte mit Armen und Händen Bewegungen, als würde er ein Orchester dirigieren, das nur die besonders Hellsichtigen wahrnehmen konnten. Sie rechnete damit, dass bald eine der vielen jungen freiwilligen Krankenhaushelferinnen auftauchen und helfen würde, ein Auge auf ihn zu haben.
Die Diagramme, Unterschriften, Fragen und Erläuterungen dauerten länger, als Molly erwartet hatte, und die Zeit verging rasch. Zum Abschluss wagte sie es, die schwerste Frage zu stellen, und spannte sich dann innerlich an, um der Antwort standhalten zu können.
»Können Sie mir sagen, welche Chancen Lindsay wirklich hat? Ich meine, ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit nehmen, mir all das zu erklären … aber noch einmal: Wie stehen ihre Chancen?«
Er legte ihr die Hand auf den Arm. »Es tut mir leid, Ms. Perkins, aber wir wissen es einfach nicht. Realistischerweise liegen ihre Chancen ohne Knochenmarktransplantation bei unter 50 Prozent. Lindsay hat auf die Chemo angesprochen, aber, wie Sie wissen, war es schwer für sie. Es hat sie sehr mitgenommen. Aber sie ist eine Kämpferin, und manchmal ist das der entscheidende Punkt. Wir werden die Tests fortsetzen und dann entscheiden, wie wir weiter vorgehen.«
In diesem Moment fiel Molly ein, wie lange sie Cabby schon unbeaufsichtigt gelassen hatte. Sie schaute auf die Uhr an der Wand. Fast zwanzig Minuten. »Oh nein«, dachte sie. Das waren zwanzig Minuten zu viel. Sie verabschiedete sich rasch und versicherte dem Arzt, dass sie am nächsten Tag da sein würde.
Wie befürchtet, war Cabby verschwunden. Sein Fotoalbum hatte er mitgenommen, aber eine leere Tüte Goldfisch-Cracker zurückgelassen, die sie nicht ins Krankenhaus mitgebracht hatten. Einen Moment hoffte sie, dass Maggie noch im Krankenhaus war, aber ihre Schicht war vorüber, und sie befand sich vermutlich längst auf dem Nachhauseweg. Maggie war eine erfahrene Krankenschwester, die im Doernbecher in der Onkologie/Hämatologie arbeitete. Sie teilten sich ein Haus, und sie war Mollys beste Freundin. Erste Station: den Flur entlang zu Zimmer 9, Lindsays Zimmer. Ihre Tochter schlief fest, doch von Cabby keine Spur. Sie fragte ein paar Leute auf Lindsays Station, aber hier hatte ihn niemand gesehen. Nun gab es zwei Möglichkeiten: zurück zum Hauptgebäude der Klinik oder in die andere Richtung, zu den Aufzügen. Da sie sich gut in Cabby hineinversetzen konnte, eilte sie zu den Aufzügen. Cabby drückte gern auf Knöpfe, vorzugsweise auf die Knöpfe von Mollys Nervenkostüm. Unwillkürlich erschien ein müdes Lächeln auf ihrem Gesicht.
Versteckspielen liebte er über alles, und deshalb kannten Molly und Cabby inzwischen die örtlichen Polizisten größtenteils mit Vornamen, da Molly diese immer wieder bei der Suche nach Cabby um Hilfe bitten musste. Mehr als einmal hatte er sich aus dem Haus geschlichen und war zurückgekehrt, ohne dass Molly sein Verschwinden bemerkt hatte. Wochen oder manchmal Monate später entdeckte sie dann in seinem Zimmer einen unbekannten Gegenstand, der ihnen nicht gehörte. Cabby liebte Kameras und machte gerne Fotos, wobei er selbst allerdings scheu war und nicht fotografiert werden mochte. Bei einem seiner heimlichen Ausflüge hatte er eine unverschlossene Tür an einem Nachbarhaus entdeckt. Cabby ging hinein, ließ eine Kamera mitgehen und versteckte sie in seinem Zimmer unter dem Bett. Zwei Monate später fand Molly die Kamera. Ohne zu zögern, führte Cabby sie zum Haus des Nachbarn, wo die Kamera ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben wurde. Der Mann war gar nicht auf die Idee gekommen, dass sie ihm entwendet worden war, sondern hatte gedacht, er hätte sie verlegt. Molly hoffte, dass Cabby nicht die Röntgenabteilung fand.
Molly fragte alle möglichen Leute, und die Spur der Sichtungen führte über den Skyway, die verglaste Fußgängerbrücke, von der Kinderklinik ins Hauptgebäude, wo sie das Album mit den Familienbildern fand, und schließlich zu den Aufzügen, die hoch zur Intensivstation fuhren. Das war nun wirklich der letzte Ort, wo sie nach ihm suchen mochte. Cabby hatte keinen Sinn für Vorschriften und soziale Schranken. Sein Lebensziel bestand darin, mit jedem Menschen, ob wach oder bewusstlos, Freundschaft zu schließen, und in Anbetracht seiner Liebe für blinkende Lichter und Knöpfe war die Intensivstation der perfekte Spielplatz. Mithilfe zahlreicher Krankenschwestern und hilfsbereiter Freiwilliger gelang es Molly schließlich, die Suche auf die neurologische Intensivstation und dort speziell auf Zimmer 17 einzugrenzen. Irgendwie war es Cabby gelungen, alle Sicherheitsschranken zu umgehen. Vermutlich hatte er sich in einem günstigen Augenblick an die Fersen eines anderen Besuchers geheftet. Molly näherte sich leise. Sie wollte weder Cabby aufschrecken noch den Patienten oder potenzielle Besucher in Zimmer 17 stören.
Cabby hatte sich fast fünf Minuten in dem Zimmer aufgehalten, als Molly ihn fand. Es war nur matt beleuchtet und ruhig dort, und zu seiner Freude gab es überall Apparate, die in unterschiedlichen Rhythmen summten und piepsten. Hier gefiel es ihm. Es war kühler als draußen. Nachdem er sich ein bisschen umgeschaut hatte, bemerkte er überrascht, dass er nicht allein war. In dem Bett schlief ein Mann.
»Wach auf!«, befahl Cabby und stupste mit dem Finger gegen den Arm des Mannes. Doch der reagierte nicht.
»Schschsch«, flüsterte Cabby daraufhin, als wären noch andere Leute mit im Zimmer.
Der Mann schlief tief und fest, und Cabby sah, dass unbehaglich aussehende Schläuche in seinem Mund steckten. Er versuchte, einen davon herauszuziehen, aber sie saßen ziemlich fest, also gab er auf und wandte seine Aufmerksamkeit stattdessen den Geräten zu, an die der Mann angeschlossen war. Er beobachtete die blinkenden Lichter, fasziniert von den wechselnden Farben und den grünen Wellenlinien, die einige Geräte produzierten, während andere einfach nur vor sich hin blinkten.
»Affengeil!« Er nuschelte eines seiner Lieblingswörter. Es gab eine Menge Knöpfe und Schalter, und Cabby wusste, was man damit alles Schönes tun konnte. Er wollte gerade an einem der dicken Knöpfe drehen, doch dann, einem plötzlichen Impuls folgend, beugte er sich herunter und küsste den schlafenden Mann auf die Stirn.
Eine laute Stimme rief aus: »Was zum Teufel …?!«
Cabby erstarrte. Nur noch seine Augen bewegten sich, seine Hand schwebte Zentimeter über dem Knopf. Er schaute auf den Mann hinunter, der weiterhin reglos schlief. Es war noch jemand hier, aber obwohl seine Augen sich inzwischen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, konnte Cabby diesen Jemand nirgendwo entdecken. Langsam legte er den Finger auf die Lippen und flüsterte, so laut er konnte: »Schsch!«
In diesem Moment öffnete sich die Tür.
»Cabby!«
Sie hatte ihn gefunden. Das Spiel war erst einmal vorüber, und sie schloss ihn in die Arme. Er lächelte strahlend, während Molly sich leise bei den Leuten entschuldigte, die ihr bei der Suche und Rettung geholfen hatten.
Tony glitt davon. Es fühlte sich warm und beruhigend an. Er schwebte mit dem Kopf voraus in einer tiefschwarzen, ihn aber sanft umhüllenden Dunkelheit und hatte nichts zu tun, als das Gefühl zu genießen, getragen zu werden, nach oben zu schweben, bis er schließlich in einen Raum gelangte, wo Geräte summten und piepten und Lichter blinkten.
Er schaute nach unten, und zu seinem Schock erblickte er sich selbst. Er sah nicht gut aus.
»Was zum Teufel …?!«, rief er aus und versuchte sich zu erinnern, wie er hierher geraten war. Er war in Großmutters Lehmhütte eingeschlafen, vor einem Kaminfeuer, mit Jesus. Was hatte sie gerade gesagt? Oh ja, sie hatte gesagt: Es ist Zeit. Und nun war er hier, in einem Krankenhauszimmer, und schaute auf sich selbst herunter, sah sich an Schläuche und alle möglichen Hightech-Geräte angeschlossen.
Im Dämmerlicht schwebte ein pummeliger Finger langsam dorthin hinauf, wo Tonys Lippen sich hätten befinden müssen.
»Schsch!«, flüsterte jemand laut.
Das schien Tony ein ziemlich guter Rat zu sein, denn im nächsten Moment flog eine Tür auf, und eine Frau erschien, die ihn entnervt, aber erleichtert anschaute. Er hörte sie so etwas Ähnliches wie »Baby« oder »Kaffee« ausrufen, was überhaupt keinen Sinn ergab, aber eine Welle von etwas Wundervollem durchflutete ihn, gefolgt von einer ungeordnet hereinpurzelnden Bilderfolge. Ein Blick auf den Boden, auf Mobiliar und Apparate. Er und die fremde Frau flogen aufeinander zu, und sie schloss ihn in die Arme. Instinktiv hatte er die Arme ausgestreckt, aber er fühlte nur einen leeren Druck. Zwar hatte er ein Gefühl für den eigenen Körper, jedoch gab es nichts, was er anfassen oder woran er sich festhalten konnte. Das brauchte er auch nicht. Eine Kraft hielt ihn aufrecht und im Gleichgewicht, unabhängig von dem, was draußen geschah. Es war, als sei er in einem Gyroskop gefangen. Das einzig Beständige war das Sichtfenster, hinter dem er gewissermaßen festhing. Gelegentlich, aber nur für ganz kurze Momente, wurde es dunkel. Selbst beim Zusammenprall mit der Frau spürte er die Berührung nicht. Aber er konnte den süßen Duft ihres Parfüms riechen, vermischt mit einer schwachen Note von nervösem Angstschweiß.
»Wo, um alles in der Welt«, fragte er sich, »bin ich denn jetzt?«