3

ES WAR EINMAL

»Eines Tages werdet ihr alt genug sein,
dass ihr wieder anfangt, Märchen zu lesen.«

C. S. Lewis

Sonnenlicht?

Es war Sonnenlicht! Wie konnte das sein? Jegliche Klarheit des Denkens, auf die Tony immer solchen Wert gelegt hatte, verschwand angesichts dieser völligen Überforderung seiner Sinne. Er schloss die Augen, ließ sich das Gesicht von der fernen Strahlung wärmen und seinen durchgefrorenen Körper in die goldene Decke der Sonne hüllen. Für einen Moment vergaß er alle Sorgen. Dann, wie ein bevorstehender Tagesanbruch, riss ihn die Unmöglichkeit seiner Situation aus seiner Träumerei.

Wo war er? Und wie war er hierhergelangt?

Tony öffnete vorsichtig wieder die Augen und blickte nach unten. Er blinzelte, um seinen Augen Gelegenheit zu geben, sich an die Umgebung zu gewöhnen. Er trug eine vertraute alte Jeans und seine Wanderschuhe, mit denen er in Depoe Bay bei Ebbe über den steinigen Strand ging. In dieser Kleidung hatte Tony sich immer viel wohler gefühlt als in den Anzügen, die er in seiner täglichen Tretmühle trug. Diese Schuhe müssten doch in meinem Strandhaus im Schrank stehen, war sein erster Gedanke. Sie trugen die vertrauten Kratzer, die ihnen das uralte Lavagestein am Strand Oregons zugefügt hatte.

Als er sich umschaute, wurde sein Erstaunen noch größer. Er entdeckte keinerlei Anhaltspunkte, wo er war und welcher Tag oder welche Uhrzeit es war. Hinter ihm befand sich ein kleines schwarzes Loch. Vermutlich war das die Stelle, wo er auf ziemlich grobe Art regelrecht ausgespien worden war. Der Schacht dahinter schien kaum groß genug, dass ein Mensch hindurchpasste, und weiter als vielleicht zwanzig oder dreißig Zentimeter konnte Tonys Blick die Schwärze nicht durchdringen. Er drehte sich wieder um, schirmte seine Augen mit den Händen gegen das Sonnenlicht ab und betrachtete die Landschaft, die sich vor ihm ausbreitete. Dabei formte sich in seinem Kopf ein immer länger werdender Fragenkatalog.

Wie auch immer er an diesen Ort gelangt war, von welcher Kraft auch immer durch den dunklen Tunnel befördert, er stand jetzt mitten auf einer schmalen Bergwiese voller Blumen: orangefarbene Agoseris, lila Anemonen und das zarte Weiß von Purpurglöckchen, dazwischen eingestreut Gänseblümchen – wie gelbe Arnika. Es war eine Einladung, tief Luft zu holen, und als er es tat, konnte er die Düfte beinahe schmecken: intensiv und köstlich, im Wind ein Hauch von Salz, als läge das Meer nur eben außer Sichtweite. Die Luft selbst war frisch und klar – kein Anflug von etwas, das nicht von Natur aus hierhergehörte. Unter ihm breitete sich ein riesiges Tal aus, umgeben von einer Bergkette, die den kanadischen Rockies ähnelte – ein Postkarten-Panorama. Inmitten dieses Tals, im nachmittäglichen Licht, lag ein See, reich an leuchtenden Spiegelungen. Seine unregelmäßigen Uferlinien warfen Schatten in von Tonys Standort aus uneinsehbare Täler, deren Gebirgsbäche den See speisten. Zehn Meter vor ihm verschwand die Wiese jäh in einer Schlucht, deren Boden mindestens dreihundert Meter tiefer lag.

Dieses Paradies aus duftenden Bergblumen, in dem er stand, war nicht länger als dreißig Meter und schlief zwischen dem Abgrund vor ihm und dem steilen Berghang hinter ihm. Zu seiner Linken endete der Blütenteppich vor schroffen Felswänden, aber in der entgegengesetzten Richtung gab es einen einzelnen Pfad, der, nur schwach erkennbar, in dichten Bergwald hineinführte. Eine sanfte Brise streifte sein Gesicht und strich ihm durchs Haar, und eine Woge aus feinen Düften schwebte in der Luft, als sei eine Frau vorbeigegangen.

Tony stand völlig reglos, als könnte das helfen, den Sturm in seinem Kopf zu beruhigen. Seine Gedanken formten eine Kaskade der Verwirrung. Träumte er oder war er verrückt geworden? War er tot? Offensichtlich nicht, es sei denn … es sei denn, seine Ansichten über den Tod erwiesen sich als vollkommen falsch, ein Gedanke, den er zu beunruhigend fand, um ihn ernst zu nehmen. Er hob die Hand und berührte sein Gesicht, als könnte das etwas beweisen.

Das Letzte, woran er sich erinnerte, war …? Die Bilder waren ein Durcheinander aus geschäftlichen Meetings und Migräneattacken, und dann ein plötzlicher Alarm, ein jähes Erschrecken. Er erinnerte sich, dass er aus seiner Wohnung getaumelt war und seinen Kopf umklammerte, weil er das Gefühl hatte, der Schädel würde ihm platzen. Dann war er in die Tiefgarage gestolpert und hatte sein Auto gesucht. Seine letzte Erinnerung war, dass er auf ein Licht zuschwebte, das ihn anzog. Und nun war er hier, ohne eine Ahnung zu haben, wo sich dieses »Hier« befand.

Angenommen, er war nicht tot, dann lag er vermutlich im Krankenhaus, vollgepumpt mit Medikamenten, die den elektrischen Sturm beruhigen sollten, der in seinem Gehirn tobte. Vielleicht erlebte er nun die Nachwirkungen in Form von Halluzinationen, neuronalen Trugbildern, die sich aus unzusammenhängenden Erinnerungsfetzen seines Lebens speisten. Was, wenn er in einer Gummizelle saß, in einer Zwangsjacke, als sabberndes Häufchen Elend? Da zog er den Tod vor. Andererseits: Durch Koma oder Wahnsinn in eine solche Umgebung versetzt zu werden, fand er so schlecht nun auch wieder nicht.

Wieder strich der kühle, frische Wind über sein Gesicht, und wieder atmete er tief ein. Er fühlte eine Welle von … wovon genau? Er war sich nicht sicher. Euphorie? Nein. Es fühlte sich viel substanzieller an. Tony fand keine Worte dafür, aber es brachte etwas in ihm zum Klingen, war wie die schwache, ferne Erinnerung an den ersten Kuss, der jetzt zu etwas Ätherischem geworden war und doch eine ewige Sehnsucht weckte.

Was nun? Wie es schien, blieben ihm nur zwei Wahlmöglichkeiten, wenn er nicht einfach an diesem Ort bleiben und abwarten wollte, ob sich hier etwas ereignete. Aber vom Warten hatte er noch nie viel gehalten. Eigentlich gab es noch eine dritte Wahl, nämlich sich von der Klippe zu stürzen und zu sehen, was geschah. Als er diese Alternative ausschloss, musste er unwillkürlich grinsen. Das wäre ja ein kurzes Abenteuer gewesen: auf diese Weise herauszufinden, dass er nicht träumte und nicht tot war.

Er drehte sich zu der Höhle um und stellte verblüfft fest, dass sie verschwunden war. Die Felswand aus Granit hatte sich geschlossen, als hätte es die Öffnung nie gegeben. Nun blieb ihm nur noch eine Option: der Pfad.

Am Anfang des Weges zögerte Tony. Er gab seinen Augen Gelegenheit, sich an das dunklere, kühlere Innere des Waldes zu gewöhnen. Er drehte sich zu dem Aussichtspunkt um, den er hinter sich zurückließ. Es widerstrebte ihm, dessen angenehme Sonnenwärme gegen die kühle Unsicherheit einzutauschen, die vor ihm lag. Er schaute wieder nach vorn und sah, dass der Pfad keine zehn Meter voraus ins Unterholz hineinführte. Im Schatten der Bäume war es frischer, aber nicht unangenehm. Das Sonnenlicht fiel durch das Blätterdach, und in seinen Strahlen schwebten schimmernde Staubflocken und Insekten. Üppige Sträucher säumten den steinigen, gut erkennbaren Pfad, der geradezu so wirkte, als hätte ihn jemand frisch angelegt, ihn für Tony vorbereitet.

Er konnte diese Welt riechen, eine Mischung aus Leben und Fäulnis. Die Feuchtigkeit uralter Vegetation, modrig und doch süß. Tony atmete wieder tief ein und versuchte, den Duft festzuhalten. Er fand ihn fast berauschend, eine Erinnerung an seinen Scotch, den geliebten Balvenie Portwood, aber reicher, reiner und mit einem stärkeren Nachgeschmack. Er lächelte in sich hinein und ging entschlossen den Pfad entlang.

Nach kaum hundert Metern verzweigte sich der Weg plötzlich. Ein Pfad bog scharf nach rechts, einer führte nach links und steil bergab. Auf dem dritten ging es geradeaus weiter. Tony blieb einen Moment stehen und überlegte.

Es ist ein komisches Gefühl, eine Entscheidung treffen zu müssen, wenn nicht nur das Ergebnis unvorhersehbar ist, sondern man auch die gegenwärtige Situation nicht kennt und einschätzen kann. Er wusste nicht, woher er kam, wusste nicht, wohin er ging, und hatte bei keinem dieser drei Wege die geringste Ahnung, was ihn erwartete – oder ihm drohte.

Während er diese unbekannten Optionen abwog, kam Tony plötzlich der verblüffende Gedanke, schon einmal dort gewesen zu sein. Nicht an diesem Ort, aber in vergleichbaren Situationen. Das Leben war eine lange Kette von Entscheidungen gewesen, und er hatte dabei gerne geblufft, sich selbst und anderen vorgemacht, stets genau zu wissen, welche Resultate seine Entscheidungen bringen würden – dass sie eine logische Folge seiner überaus korrekten Analysen waren und sicher auf seinem brillanten Urteilsvermögen aufbauten.

Tony hatte sich eifrig bemüht, bei Entscheidungen auf Nummer sicher zu gehen, irgendwie die Zukunft zu kontrollieren, indem er eine Aura intelligenten Vorauswissens um sich verbreitete. In Wahrheit, das wusste er heute, ließen sich niemals alle Eventualitäten und Konsequenzen vorhersehen, und um diese Diskrepanz zu überdecken, musste man eben auf Marketing und Imagebildung zurückgreifen. Immer wieder gab es Variablen, die sich jeder Kontrolle entzogen. Um mit diesen Unwägbarkeiten fertigzuwerden, hatte er die Methode entwickelt, seiner Umgebung etwas vorzumachen und die Illusion persönlicher Allwissenheit zu erzeugen. Aber es war eine aufreibende Herausforderung, den Propheten zu spielen, wo sich doch alle Dinge immer wieder als so unvorhersehbar erwiesen.

Nun sah er sich mit drei Wahlmöglichkeiten konfrontiert, ohne die leiseste Ahnung, welche Konsequenzen jede von ihnen nach sich ziehen würde. Zu seiner Überraschung entdeckte er in diesem Nichtwissen eine neue Art von Freiheit – er erwartete nichts, und deshalb würde er sich hinterher nicht schuldig fühlen, wenn die Entscheidung sich als falsch herausstellte. Er wusste nichts und war daher frei, einfach eine der drei Richtungen zu wählen. Diese Autonomie war aufregend und erschreckend zugleich, denn alles konnte sich als Drahtseilakt zwischen Feuer und Eis erweisen.

Eine nähere Betrachtung der drei Pfade half nicht weiter. Einer wirkte vielleicht am Anfang leichter begehbar, aber das sagte nichts darüber aus, was Tony möglicherweise hinter der nächsten Biegung erwartete. Er stand da, ganz erstarrt angesichts der Freiheit dieses Augenblicks.

»Ein im Hafen liegendes Schiff kann man nicht steuern«, sagte er leise und wählte den mittleren Pfad. Er prägte sich die Umgebung genau ein, für den Fall, dass er umkehren musste. Umkehren wohin? Er wusste es nicht.

Zweihundert Meter weiter auf dem Pfad, den er gewählt hatte, stand er erneut vor einer dreifachen Gabelung. Wieder musste er überlegen und entscheiden. Er schüttelte den Kopf, zögerte nicht lange und nahm den Weg, der nach rechts und aufwärts führte. Auch diese Wendung vermerkte er in seinem mentalen Notizbuch. Auf den folgenden gefühlt etwa eineinhalb Kilometern musste Tony mehr als zwanzig solche Entscheidungen treffen, und inzwischen hatte er die mentale Gymnastik aufgegeben, sich in einem solchen Labyrinth den Weg merken zu wollen. Um sicherzugehen, hätte er vermutlich jedes Mal den mittleren Weg nehmen müssen. Stattdessen war seine Reise ein wildes Gemisch aus rechts, links, aufwärts, abwärts und geradeaus. Er hatte das Gefühl, sich hoffnungslos verirrt zu haben, wobei dies aber ja eigentlich eine klare Vorstellung von seinem Ausgangspunkt und Ziel vorausgesetzt hätte. Das völlige Fehlen dessen machte ihn nur noch verwirrter.

Was, wenn es gar nicht darum geht, irgendwo hinzugelangen?, fragte er sich. Wenn es hier gar kein Ziel gibt? Als der Druck, irgendwo »ankommen« zu müssen, nachließ, verlangsamte Tony unwillkürlich seine Schritte und fing an, der Welt um ihn herum mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Kein Ziel zu haben hatte durchaus seine Vorteile. Kein Terminstress und keine Zeitpläne, nur das Staunen über seine Umgebung. Je mehr er sich für sie öffnete, desto mehr ließ seine quälende Frustration darüber nach, sich so völlig orientierungslos zu fühlen.

Manchmal führte der Weg ihn durch alten Waldbestand, ein Wunder aus mächtigen Baumriesen, die in ihrer Pracht fast Schulter an Schulter standen, sodass ihre ineinander verschlungenen Arme in scheinbarer Solidarität den Boden unter dem gemeinsam gebildeten Dach verdunkelten. »In meinem Leben ist nicht viel Altes übrig«, dachte er. »Was ich nicht verkauft habe, habe ich verbrannt.«

Ein Pfad führte ihn durch eine steile Falte im felsigen Gesicht des Berges hindurch. Sie war fast wie eine Höhle, und unwillkürlich ging er schneller, aus Angst, diese Kluft könnte sich plötzlich schließen und ihn in ihrem steinernen Griff zermalmen. Ein anderer von ihm gewählter Weg führte ihn durch ein Gebiet, wo vor längerer Zeit ein Feuer dem Wald das Herz herausgerissen und nur die Skelette verbrannter Bäume zurückgelassen hatte. Zwischen ihnen wuchs jetzt eine neue Generation heran, die den Tod der vorherigen für das eigene Wachstum nutzte und verwertete. Ein Pfad folgte einem sandigen Flussbett, während ein anderer auf samtweichem Moos kaum erkennbar war, das jeden seiner Fußabdrücke sofort verschluckte. Aber immer kam er an einen neuen Scheideweg und musste zwischen Alternativen wählen.

Nach stundenlangem Wandern und Sichwundern schien es Tony, dass die Auswahl an Wegen immer weniger wurde. Der Pfad weitete sich allmählich zu einer schmalen Straße. Links und rechts davon standen Bäume und Sträucher dicht an dicht, bildeten eine undurchdringlich scheinende Barriere. Vielleicht gelangte er nun endlich irgendwohin. Er ging schneller. Die Straße war jetzt geteert und führte sanft bergab. Der Wald zu beiden Seiten wurde so dicht, dass Tony schließlich das Gefühl hatte, einen grün und braun tapezierten Korridor entlangzugehen, unter einer blauen, mit weißen Wolkentupfern verzierten Decke.

Die Straße machte eine Biegung, und dahinter blieb er stehen. Vielleicht einen halben Kilometer voraus wurden die smaragdfarbenen Wände zu Stein. Die Straße führte bergauf vor ein massives Tor in einer kolossalen Festungsmauer. Das Ganze erinnerte Tony an die von mächtigen Bollwerken umgebenen Festungsstädte, die er in Büchern oder als Modellnachbauten in Museen gesehen hatte, nur dass die Dimensionen hier ins Riesenhafte gesteigert waren.

Er ging weiter auf das zu, was er nun für ein imaginäres Tor in der Mauer einer imaginären Festung hielt. Die enorme Erfindungsgabe des menschlichen Geistes hatte er noch nie infrage gestellt. Er hielt sie für einen der eindrucksvollsten Unfälle der Evolution. Aber diese Kreation war einfach unglaublich, stellte alles in den Schatten, was er je für möglich gehalten hätte. Er vermutete, dass sie das Produkt einer durch stimulierende Medikamente völlig entfesselten Fantasie war, die Essenz sämtlicher Kindermärchen, in denen Ritterburgen und Bollwerke eine Rolle spielten. Aber alles machte einen ganz wirklichen, greifbaren Eindruck, wie in solchen Träumen, an die man sich nach dem Aufwachen lebhaft und in allen Einzelheiten erinnerte, Träume, die sich so echt anfühlten, dass man seine Schritte genau nachverfolgen musste, um sich davon zu überzeugen, dass sie in der Realität unmöglich waren. So war es hier auch: real und doch unmöglich. Die einzig denkbare Erklärung lautete, dass er im Chaos eines besonders lebhaften Traumes gefangen war!

Als er die Erfahrung auf diese Weise eingeordnet hatte, fühlte er sich sofort besser. Endlich hatte sein Verstand ein organisierendes Prinzip gefunden. Nun war die Sache geklärt. Dies war sein Traum. Es war die Projektion einer entfesselten Psyche, energetisiert durch die besten psychotropen Drogen, die die Medizin zu bieten hatte. Er reckte die Arme hoch und rief: »Ein Traum! Mein Traum! Unglaublich! Ich bin einfach umwerfend!« Seine Stimme hallte von den mächtigen Mauern wider.

Die Kreativität seines eigenen Geistes war inspirierend und beeindruckend. Als würde er den begleitenden Soundtrack zu diesem Kinofilm seiner eigenen Halluzinationen hören, führte Tony einen kleinen Tanz auf. Die Arme emporgereckt, schaute er nach oben und drehte sich nach links, dann nach rechts. Er war nie ein großer Tänzer gewesen, aber hier konnte ihn niemand sehen, und so bestand nicht die Gefahr, sich zu blamieren. Wenn er tanzen wollte, würde er tanzen. Das war »sein« Traum, und er hatte die Macht und Autorität, das zu tun, was immer er wollte.

Doch da befand er sich im Irrtum, wie sich zeigte.

Als gelte es, etwas zu beweisen, richtete Tony seine Handflächen auf das monströse steinerne Bauwerk in der Ferne. Wie ein Zauberlehrling befahl er: »Sesam, öffne dich!« Nichts geschah. Nun, einen Versuch war es wert gewesen. Und es bewies lediglich, dass selbst in einem so lebhaften Traum seine Kontrollmöglichkeiten begrenzt waren. Es hätte keinen Sinn gehabt, umzukehren, also setzte Tony seinen Weg fort, zutiefst fasziniert von der Großartigkeit und Gestaltungskraft seiner Imagination. Da hier sein eigener Geist am Werk war, musste all das eine tiefere Bedeutung haben.

Als Tony schließlich vor dem Tor ankam, war er zu keinem Schluss über den Sinn seiner Vision gelangt. Obgleich es im Vergleich zu dem gewaltigen Bauwerk, an dem es sich befand, fast schon banal wirkte, war das Tor massiv und ließ ihn sich winzig und unbedeutend fühlen. Er ließ sich Zeit, es näher zu untersuchen, ohne es zu berühren. Obwohl es sich zweifellos um einen Eingang handelte, gab es keinen erkennbaren Öffnungsmechanismus, keinen Knauf, kein Schlüsselloch. Es hatte den Anschein, dass man das Tor nur von innen öffnen konnte, was bedeutete, dass sich dort drinnen möglicherweise jemand befand, der dafür zuständig war.

»Na, jetzt wird es ja wirklich interessant«, sagte Tony leise zu sich und hob die Faust, um anzuklopfen. Er erstarrte! Er hörte ein Klopfen, aber es kam nicht von ihm. Seine Hand hatte sich noch nicht bewegt. Verwirrt schaute er auf seine Faust. Wieder hörte er ein Klopfen, kräftig und laut. Drei Schläge gegen das Tor, von der anderen Seite. Er schwenkte sogar seine Faust vor seinem Gesicht, um festzustellen, ob er das Klopfen irgendwie unbeabsichtigt erzeugte, aber nichts geschah.

Und dann ertönte das Klopfen ein drittes Mal, kräftig, aber nicht drängend. Tony blickte wieder auf das Tor. Dort, wo sich zuvor gar nichts befunden hatte, war nun eine Verriegelung zu sehen. Wie war es möglich, dass Tony sie zuvor nicht bemerkt hatte? Zögernd streckte er die Hand danach aus. Es war ein Stück Metall, das sich kalt anfühlte und, wenn man es drehte, über einen einfachen Hebel einen Riegel anhob, der das Tor an seinem Platz hielt. Ohne langes Nachdenken, wie auf Befehl, öffnete Tony den Riegel. Leicht und lautlos schwang das gewaltige Portal nach innen auf.

Auf der anderen Seite stand ein fremder Mann. Er lehnte an dem mächtigen Torpfosten. Auf seinem Gesicht erschien ein herzliches, einladendes Lächeln. Doch zu seinem Schrecken entdeckte Tony, dass sich hinter dem Mann genau jene Straße befand, auf der Tony selbst gerade hierhergekommen war. Tony befand sich im Inneren der Maueranlage und hatte offenbar, ohne es zu merken, die Tür von innen geöffnet. Langsam drehte er sich um, und es stimmte tatsächlich. Er stand bereits im Inneren der Festungsmauer und blickte auf ein weitläufiges, offenes Gelände, das wohl eine Fläche von um die fünfzehn Quadratkilometer bedeckte. Dieser große Grundbesitz war von einer gigantischen Mauer umgeben, als Bollwerk gegen die wilde und freie Welt draußen.

Tony streckte die Hand nach der Mauer aus, um sich abzustützen. Dabei drehte er sich um und sah, dass der Mann immer noch am Torpfosten lehnte und ihm zulächelte. Ein plötzlicher Schwindel befiel Tony. Die Welt geriet aus dem Gleichgewicht, und seine Knie gaben nach. Eine schon vertraute Dunkelheit nahm ihm die Sicht. Vielleicht endete der Traum ja nun, und Tony kehrte zu dem Ort zurück, von wo er gekommen war, wo die Dinge mehr Sinn ergaben und wo er zumindest wusste, was er nicht wusste.

Starke Arme fingen ihn auf, halfen ihm behutsam, sich hinzusetzen und sich auf der anderen Seite des Tores, das er eben geöffnet hatte, an die Mauer zu lehnen.

»Hier, trinken Sie das.« Durch trübe Benommenheit hindurch spürte er, wie ihm eine kühle Flüssigkeit in den Mund rann. Wasser! Er hatte seit Stunden nichts getrunken. Vielleicht war das der Grund für die Schwäche. Dehydration. Er war durch Wälder gewandert, Moment … das konnte nicht stimmen? Nein, er hatte in einer Tiefgarage gelegen, und jetzt befand er sich in einem Schloss? In einem Schloss mit … mit wem? Dem Prinzen?

»Das ist albern«, murmelte er, den Kopf voller wirrer Gedanken. »Ich bin doch keine Prinzessin.« Darüber musste er kichern. Er trank mehr von dem erfrischenden Nass, und der Nebel lichtete sich allmählich.

»Ich muss schon sagen«, ertönte eine Stimme mit einem ausgeprägten Akzent, der, wenn Tony sich nicht irrte, britisch oder australisch klang. »Eine Märchenprinzessin sind Sie wirklich nicht. Zu unattraktiv.«

Tony lehnte sich gegen die Wand und blickte zu einem Gentleman hoch, der sich mit einer Trinkflasche über ihn beugte. Funkelnde haselnussbraune Augen erwiderten seinen Blick. Der Mann war etwas untersetzt, wohl fünf Zentimeter kleiner als Tony, und schien Ende fünfzig zu sein, vielleicht sogar älter. Eine hohe Stirn und der gelichtete Haaransatz verliehen ihm eine Aura von Intelligenz, als bräuchte er den zusätzlichen Raum für tiefschürfende Gedanken. Seine Kleidung war altmodisch: zerknitterte graue Flanellhose und eine braune Tweedjacke, die bessere Tage gesehen hatte und ihm etwas eng geworden war. Er hatte etwas von einem Bücherwurm, mit der teigig weißen Haut eines Menschen, der viel Zeit drinnen verbrachte. Aber seine Hände waren die eines Metzgers – dick und rau. Kindlichkeit tanzte an den Rändern eines verspielten Lächelns, während er geduldig abwartete, bis Tony seine Gedanken geordnet und seine Stimme wiedergefunden hatte.

»Dann«, Tony räusperte sich, »enden also alle diese Pfade hier oben?« Die Antwort lag eigentlich auf der Hand, aber von den Myriaden Fragen war sie die erste, die ihm durch den Kopf schoss.

»Nein«, antwortete der Mann mit kräftiger, wohlklingender Stimme. »Es ist genau andersherum. Alle diese Pfade gehen von hier aus. Heutzutage werden sie aber wenig begangen.«

Das ergab für Tony keinen Sinn, und im Moment erschien es ihm zu kompliziert. Also stellte er eine einfachere Frage: »Sind Sie Engländer?«

»Hah«, sagte der Mann, warf den Kopf zurück und lachte, »Himmel, nein! Ich bin Ire! Und wir Iren sprechen das einzig wahre Englisch.« Er beugte sich wieder vor. »Allerdings habe ich lange genug bei den Engländern gelebt, um mir einige ihrer sprachlichen Unsitten anzugewöhnen. Daher ist Ihr Fehler verzeihlich.« Er lachte wieder und setzte sich neben Tony auf einen flachen Stein, mit angezogenen Knien, sodass er seine Ellbogen bequem auf ihnen abstützen konnte.

Sie schauten auf die Straße, zu deren beiden Seiten der Wald eine undurchdringliche Barriere bildete, wie eine grüne Mauer.

»Ganz unter uns gesagt«, fuhr der Ire fort, »ich muss zugeben, dass ich inzwischen zu schätzen weiß, was die Engländer für mich getan haben. Allerdings haben sie im Ersten Weltkrieg versucht, ein paar von uns durch freundliches Feuer zu töten. War aber sicher keine böse Absicht, dass sie ihren Granatbeschuss zu kurz legten. Sie hatten wohl zu wenige Mathematiker, nehme ich an. Gott sei Dank kämpften wir auf ihrer Seite.«

Als wollte er seinen Sarkasmus feiern, nahm der Mann aus der Tweedtasche über seinem Herzen eine kleine Pfeife, zog daran und blies Rauch aus wie einen erleichterten Seufzer. Der Tabakduft war angenehm und schwebte einen Moment in der Luft, ehe er von den stärkeren Gerüchen des Waldes absorbiert wurde. Ohne hinzusehen, bot er die Pfeife Tony an.

»Möchten Sie probieren? Drei Nonnen sitzen behaglich in einer Tetley’s Lightweight.«

»Drei Nonnen?«, fragte Tony, der nichts von Pfeifen und Tabak verstand.

»Three-Nuns-Tabak. Noch etwas, wofür wir den Engländern Dank schulden.«

»Oh, nein danke. Ich rauche nicht.«

»Recht so, Mr. Spencer«, erwiderte der Mann mit ironischem Unterton. »Ich habe mir sagen lassen, dass Rauchen einen umbringen kann.«

Damit ließ er die Pfeife wieder in die Brusttasche gleiten, mit dem Kopf nach unten und ohne sie auszumachen. In die Tasche war ein Flicken aus fremdem Stoff eingenäht, aus einer alten Hose vielleicht. Vermutlich war der Originalstoff glimmenden Tabakresten zum Opfer gefallen.

»Sie kennen mich?«, fragte Tony. Er kramte in seinen Erinnerungen, doch diesen Mann konnte er darin nicht finden.

»Wir alle kennen Sie, Mr. Spencer. Aber bitte entschuldigen Sie meine schlechten Manieren. Mein Name ist Jack, und es ist mir eine Ehre, Sie endlich kennenlernen zu dürfen, also, von Angesicht zu Angesicht.« Er streckte ihm die Hand entgegen, und Tony ergriff sie, eher mechanisch.

»Nun, ich heiße Tony … aber das wissen Sie ja wohl schon? Woher genau kennen Sie mich denn? Sind wir uns schon einmal begegnet?«

»Nicht persönlich. Es war Ihre Mutter, die mich Ihnen vorstellte. Es ist kein Wunder, dass wenig davon haften geblieben ist. Ich habe mich sowieso nie für besonders denkwürdig gehalten. Dennoch hinterlassen Kindheitseinflüsse tiefe Prägungen, zum Guten wie zum Schlechten.«

»Aber wie ist das möglich?«, stammelte Tony verwirrt.

»Wie ich schon sagte, wir alle kennen Sie. Das Erkennen erfolgt schichtweise. Sogar unsere eigene Seele verstehen wir erst wirklich, wenn sich der Schleier hebt und wir ins Licht treten, um erkannt zu werden.«

»Wie bitte?«, unterbrach ihn Tony und spürte Ärger in sich aufsteigen. »Was Sie da erzählen, ergibt für mich überhaupt keinen Sinn. Offen gesagt, scheint es mir völlig irrelevant. Ich habe keine Ahnung, wo ich mich befinde und wie spät es eigentlich ist, und Sie sind nicht gerade hilfreich!«

»In der Tat.« Jack nickte mit nüchterner Miene, als sei das tröstlich.

Tony vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte nachzudenken. Seine zunehmende Irritation unterdrückte er, so gut es ging.

»Anthony, Sie kennen mich, nicht gut und nicht wirklich, aber ich hatte eine Bedeutung für Sie, und deshalb haben Sie mich eingeladen.« Jacks Worte klangen sicher und wohlüberlegt, und Tony konzentrierte sich auf das, was er sagte. »Als Sie ein junger Mann waren, hatte ich einigen Einfluss auf Sie. Diese, sollen wir sagen, Führung und Perspektive sind zweifelsohne verblasst, aber ihre Wurzeln sind noch da.«

»Sie eingeladen? Ich erinnere mich nicht, irgendjemanden zu irgendetwas eingeladen zu haben! Und Sie kommen mir überhaupt nicht bekannt vor«, sagte Tony mit Nachdruck. »Ich weiß nicht, wer Sie sind! Ich kenne keinen Jack aus Irland!«

Jacks Stimme blieb ruhig. »Dass Sie mich einluden, geschah vor vielen Jahren. Heute ist das für Sie bestenfalls ein vages Gefühl oder eine Sehnsucht. Hätte ich ein Buch mitgebracht und Sie könnten den Duft der Seiten riechen, würde das gewiss helfen, aber das habe ich nicht. Wir sind uns nie persönlich begegnet, bis heute. Überrascht es Sie zu erfahren, dass ich starb, ein paar Jahre bevor Sie geboren wurden?«

»Na, das wird ja immer schöner!«, explodierte Tony. Er stand ein bisschen zu schnell auf. Seine Beine waren wie Gummi, aber sein Ärger trieb ihn ein paar Schritte zurück auf die Straße, die ihn hierhergeführt hatte. Er blieb stehen und drehte sich um. »Haben Sie eben gesagt, dass Sie ein paar Jahre vor meiner Geburt gestorben sind?«

»Genau. Am gleichen Tag, als Kennedy ermordet wurde und Huxley starb. Ich muss schon sagen, ein wirklich bemerkenswertes Trio, das da vor der ›Himmelspforte‹ erschien …« Er malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Sie hätten Aldous’ Gesicht sehen sollen! Eine schöne neue Welt, in der Tat!«

»Na, dann, Jack aus Irland, der behauptet, mich zu kennen.« Tony kam wieder näher, mit beherrschter Stimme, obwohl seine Wut und Angst ihn zu überwältigen drohten. »Wo, zur Hölle, bin ich?«

Jack baute sich dicht vor Tony auf, keine dreißig Zentimeter vor seinem Gesicht. Er schwieg einen Moment, den Kopf leicht geneigt, als lausche er einer anderen Unterhaltung, ehe er sprach. Dann, sorgfältig jedes Wort betonend, sagte er:

»Das Wort ›Hölle‹ könnte in der Tat die passende Bezeichnung für diesen Ort hier sein. Aber genauso passend ist es, ihn ›Zuhause‹ zu nennen.«

Tony trat einen Schritt zurück und versuchte, gedanklich zu verarbeiten, was Jack da gesagt hatte.

»Wollen Sie behaupten, das hier ist die Hölle, ich bin in der Hölle?«

»Nicht genau, jedenfalls nicht in dem Sinn, wie Sie sich das vorstellen. Ich bin mir sicher, dass Dante hier nirgendwo herumschleicht.«

»Dante?«

»Dante mit seinem Inferno, den Mistgabeln und alledem. Der arme Junge entschuldigt sich heute noch dafür.«

»Nicht genau, haben Sie gesagt. Was meinen Sie damit?«

»Tony, wie genau sieht Ihre Vorstellung von der Hölle aus?« Jacks Frage kam ruhig und wohlüberlegt.

»Oh, ich weiß es nicht … genau.« Noch nie hatte ihn jemand so direkt danach gefragt. Die Hölle war immer nur etwas rein Hypothetisches gewesen. So war Tonys Antwort eigentlich mehr eine Frage. »Ein Ort ewiger Qualen, mit Heulen und Zähneklappern und so weiter?«

Jack hörte aufmerksam zu, als erwarte er noch mehr.

»Hm, ein Ort, wo Gott die Menschen bestraft, auf die er wütend ist, weil sie Sünder sind«, fuhr Tony fort. »Hm, die Bösen werden von Gott dorthin geschickt, und die Guten kommen in den Himmel?«

»Und das glauben Sie?«, fragte Jack, der wieder den Kopf schief legte.

»Nein«, entgegnete Tony. »Ich glaube, wenn man tot ist, ist man tot. Man wird Nahrung für die Würmer, Staub zu Staub, kein tieferer Sinn. Der Tod ist einfach das Ende von allem.«

Jack grinste. »Für einen Mann, der noch nie gestorben ist, sind Sie sich Ihrer Sache ja sehr sicher. Ist es gestattet, Ihnen noch eine Frage zu stellen?«

Tony nickte kaum merklich, und Jack fuhr fort. »Macht Ihr Glaube, dass der Tod das Ende ist und nichts danach kommt, dies wahr?«

»Für mich ist es real«, gab Tony zurück.

»Ich habe nicht gefragt, ob es für Sie real ist. Offensichtlich ist es für Sie real. Ich habe gefragt, ob es wahr ist.«

Tony senkte den Blick und überlegte. »Das verstehe ich nicht. Wo ist da der Unterschied? Wenn es real ist, ist es doch wahr, oder etwa nicht?«

»Oh, aber keineswegs, Tony! Und um die Sache noch verworrener zu machen: Etwas könnte real sein, aber überhaupt nicht existieren, während die Wahrheit völlig unabhängig von dem existiert, was als real wahrgenommen wird.«

Tony hob die Hände und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber da kann ich nicht folgen. Ich verstehe nicht …«

»Doch, Sie verstehen sehr gut«, unterbrach ihn Jack. »Sie verstehen sehr viel mehr, als Sie realisieren. Lassen Sie es mich Ihnen an ein paar Beispielen erklären.«

»Habe ich eine Wahl?« Tony fügte sich. Er hatte noch immer keine Ahnung, worauf der andere hinauswollte, aber er war nun eher interessiert als verärgert. Irgendwo in den Worten dieses Mannes war ein Kompliment versteckt. Er begriff es zwar noch nicht, aber er konnte es spüren.

Jack lächelte. »Gute Frage, aber für die Antwort ist jetzt noch nicht der richtige Zeitpunkt. Kommen wir zur Sache zurück: Es gibt jene, die ganz ›real‹ glauben, es hätte nie einen Holocaust gegeben und auch keine Mondlandung, dass die Erde eine Scheibe ist und dass unter dem Bett Monster wohnen. Es ist für sie real, aber es ist nicht wahr. Nun zu etwas Persönlicherem: Ihre Loree glaubte …«

»Was hat meine Ex damit zu tun?« Tony reagierte mit mehr als nur ein bisschen Abwehr. »Ich nehme an, dass Sie auch sie kennen. Und nur damit Sie es wissen: Für den Fall, dass sie hier irgendwo herumschleicht – ich habe kein Interesse, mit ihr zu reden.«

Jack hob beschwichtigend die Hände. »Tony, beruhigen Sie sich. Das dient nur dazu, Ihnen etwas zu veranschaulichen. Es ist nicht als Tadel gemeint. Darf ich fortfahren?«

Tony verschränkte die Arme und nickte. »Okay. Wie Sie merken, ist das nicht gerade mein Lieblingsthema.«

»Ja, ich verstehe«, sagte Jack. »Nun zu meiner Frage: Hat Loree je geglaubt, dass Ihre Liebe zu ihr real war?«

Dieser Jack nahm sich unter den gegebenen Umständen ganz schön viel heraus! Tony fand die Frage geradezu absurd persönlich. Er zögerte einen Moment, aber dann beantwortete er sie geradeheraus. »Ja«, gab er zu. »Vermutlich gab es eine Zeit, als sie glaubte, meine Liebe zu ihr wäre real.«

»Sie denken also, Ihre Liebe war real für sie?«

»Wenn sie glaubte, dass sie real war, dann, ja, war sie für Loree real.«

»Dann stellt sich folgerichtig die Frage: War Ihre Liebe zu ihr auch für Sie real, Tony? Haben Sie Loree wirklich geliebt?«

Sofort spürte Tony, wie seine inneren Schutzwälle hochfuhren. Er fühlte sich angegriffen. Normalerweise hätte er nun schnell das Thema gewechselt, durch eine launige oder sarkastische Bemerkung von den unangenehmen Gefühlen abgelenkt und den Fluss der Worte in unbeschwertere, unwesentliche Bahnen geleitet. Aber bei diesem Gespräch hatte Tony nichts zu verlieren. Er würde diesen Mann nie wiedersehen, und er fand diesen sonderbaren Austausch faszinierend. Es war ihm schon sehr lange nicht mehr passiert, dass eine Unterhaltung so schnell so in die Tiefe ging. Und er hatte es zugelassen. So viel zur vermeintlichen Sicherheit von Träumen.

»Ehrlich?« Er schwieg kurz. »Ehrlich gesagt, wusste ich nicht wirklich, wie ich sie hätte lieben können. Ich wusste überhaupt nicht, wie man liebt, irgendeinen Menschen liebt.«

»Danke, Anthony, dass Sie das so offen zugeben. Ich bin sicher, Sie haben recht. Der Punkt ist aber, dass Loree an Ihre Liebe glaubte, und obwohl diese Liebe nicht existierte, wurde sie für Loree so real, dass sie eine ganze Welt, ein ganzes Leben darauf aufbaute … zweimal.«

»Dass Sie das jetzt zur Sprache bringen müssen!«, stöhnte Tony.

»Es ist nur eine Beobachtung, mein Sohn, kein Urteil. Nehmen wir noch eine andere Veranschaulichung, ja?« Er gab Tony einen Moment, um sich wieder zu fangen, dann sagte er: »Angenommen, rein theoretisch natürlich, es gäbe wirklich einen Gott, ein höheres Wesen, das …«

»An so etwas glaube ich nicht«, unterbrach ihn Tony.

»Ich habe nicht die Absicht, Sie zu überzeugen, Tony. Das ist nicht mein Job. Vergessen Sie nicht, dass ich tot bin, und Sie sind … verwirrt. Ich möchte Ihnen nur den Unterschied zwischen real und wahr deutlich machen. Das ist unser Thema, wenn Sie sich erinnern.« Er lächelte, und Tony lächelte unwillkürlich zurück. Die Freundlichkeit dieses Mannes hatte etwas Entwaffnendes, ging in die Tiefe.

»Nehmen wir an, dieser Gott ist immer gut, niemals ein Lügner, täuscht nie, sagt immer die Wahrheit. Eines Tages kommt dieser Gott zu Ihnen, Anthony Spencer, und sagt: ›Tony, nichts wird dich je von meiner Liebe trennen, weder Tod noch Leben, kein Bote des Himmels und kein weltlicher Herrscher, nichts, was heute geschieht oder morgen geschehen mag, keine Macht von hoch oben und keine Macht aus der Tiefe, und überhaupt gar nichts im gesamten von Gott erschaffenen Kosmos – nichts hat die Macht, dich von meiner Liebe zu trennen.‹ Nun, Sie hören Gott das alles sagen, aber Sie glauben es nicht. Es nicht zu glauben wird für Sie real. Und so erschaffen Sie eine Lebenswelt, zu deren Grundpfeilern es gehört, nicht an das Wort dieses Gottes oder überhaupt an seine Existenz zu glauben. Hier nun eine weitere Frage: ›Bewirkt Ihre Unfähigkeit, den Worten dieses Gottes zu glauben, dass das, was dieser Gott sagt, unwahr wird?‹«

»Ja«, antwortete Tony, zu schnell. Er änderte seine Meinung. »Ich … nein, warten Sie. Lassen Sie mich einen Moment darüber nachdenken.«

Jack schwieg, gab Tony Gelegenheit, seine Gedanken zu ordnen.

»Okay«, sagte Tony. »Wenn das, was Sie über diesen Gott annehmen, wahr ist … und real, dann würde mein Glaube nichts daran ändern. Ich glaube, ich verstehe allmählich, worauf Sie hinauswollen.«

»Wirklich?«, forderte ihn Jack heraus. »Dann frage ich Sie Folgendes: Wenn Sie sich entscheiden, den Worten dieses Gottes nicht zu glauben, was würden Sie dann in Ihrer Beziehung zu diesem Gott ›erleben‹?«

»Hm, ich würde …« Tony suchte nach den richtigen Worten.

»Getrenntheit würden Sie erleben«, beendete Jack den Satz für ihn. »Sie würden sich getrennt von Gott fühlen, weil diese Trennung das ist, was Sie für ›real‹ halten. Real ist das, was Sie glauben, auch wenn es gar nicht existiert. Gott sagt Ihnen, dass dieses Getrenntsein nicht wahr ist, dass nichts Sie wirklich von der Liebe Gottes trennen kann – keine Dinge, Verhaltensweisen, Erfahrungen, noch nicht einmal die Hölle, was auch immer Sie sich darunter vorstellen mögen. Aber Sie glauben, dass die Trennung real ist, und so erschaffen Sie sich Ihre eigene Realität, die auf einer Lüge beruht.«

Das war zu viel für Tony. Er wandte sich ab und raufte sich die Haare. »Wie kann man dann jemals wissen, was wahr ist? Was ist Wahrheit?«

»Aha!«, rief Jack aus und schlug Tony auf die Schulter. »Pontius Pilatus spricht aus dem Grab zu uns. Und darin, Freund, liegt die höchste Ironie! Pilatus stand am Angelpunkt der Geschichte, im Angesicht der Wahrheit, und tat, was so viele von uns zu tun gewöhnt sind: Er erklärte sie für nicht existent oder, um es genauer auszudrücken, erklärte ›Ihn‹ für nicht existent. Zum Glück für uns alle hatte Pilatus nicht die Macht, etwas Reales in etwas Unwahres zu verwandeln.« Er schwieg einen Moment und fügte hinzu: »Und, Tony, auch Sie haben diese Macht nicht.«

Der Moment erstarrte für eine Sekunde, und dann erzitterte der Boden leicht, als hätte sich tief unter ihren Füßen ein schwaches Erdbeben ereignet. Jack lächelte rätselhafter denn je und erklärte: »Nun, das bedeutet wohl, dass meine Zeit mit Ihnen zu Ende geht, jedenfalls einstweilen.«

»Warten Sie!«, protestierte Tony. »Ich habe noch Fragen. Wohin gehen Sie? Können Sie nicht bleiben? Ich weiß immer noch nicht, wo ich mich befinde. Warum bin ich hier? Wenn das hier nicht die Hölle ist, was ist es dann? Haben Sie nicht gesagt, mein Zuhause wäre es auch nicht wirklich? Was bedeutet das?«

Jack drehte sich um und schaute Tony ein letztes Mal an. »Tony, die Hölle besteht darin, etwas für real zu halten, das nicht wahr ist. Theoretisch können Sie das bis in alle Ewigkeit tun, aber ich will Ihnen etwas sagen, das wahr ist, ob Sie daran glauben und es für real halten wollen oder nicht: Was Sie auch über die Hölle glauben mögen, in Wahrheit gibt es kein Getrenntsein.«

Wieder erzitterte der Boden, diesmal so heftig, dass Tony sich an der Mauer abstützen musste. Als er sich umdrehte, war Jack verschwunden, und die Nacht war hereingebrochen.

Plötzlich fühlte sich Tony erschöpft, müde bis ins Mark. Er setzte sich wieder hin, gegen das kolossale Bollwerk gelehnt, und schaute auf die Straße und die Landschaft, deren Farben zu Grauschattierungen verblassten. Sein Mund fühlte sich trocken und klebrig an. Er tastete in der Dunkelheit umher, in der Hoffnung, Jack hätte seine Flasche zurückgelassen. Aber da war nichts. Er zog die Knie an den Körper, versuchte, sich dicht zusammengekauert vor der Kälte zu schützen, die unbarmherzig in seinen Körper eindrang, wie eine Diebin, die die letzte Wärme stiehlt.

Es war zu viel! Ein eisiger Wind war aufgekommen und wehte Tonys letzte Fragen davon wie Papierfetzen. War das nun das Ende? Hörte er bereits, wie die Leere ächzend herankroch, ein alles verschlingendes Nichts, das ihm den letzten Rest Lebenswärme aussaugen würde?

Er zitterte unkontrolliert, als ein Licht erschien, ein bläuliches Leuchten. Es umgab die schönsten dunkelbraunen Augen, die Tony jemals gesehen hatte. Das Licht erinnerte ihn an jemanden, aber er wusste nicht, an wen. Es musste jemand Wichtiges sein.

Tony kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben, und schaffte es, eine Frage zu formulieren: »Wer bin ich, nein, warte, wo bin ich?«

Ein Mann saß bei ihm und wiegte Tony in seinen Armen. Sorgsam goss er ihm eine andere, wärmere Flüssigkeit in den Mund. Tony schluckte und spürte, wie die Flüssigkeit seine halb erfrorene Mitte wärmte und sich von dort in ihm ausbreitete. Sein Zittern ließ nach, hörte dann auf, und er entspannte sich in den Armen des Mannes.

»Du bist in Sicherheit«, flüsterte der Mann und streichelte ihm über den Kopf. »Du bist in Sicherheit, Tony.«

»Sicher?« Wieder umfing ihn Dunkelheit. Seine Augen wurden schwer, sein Denken dickflüssig und langsam. »Ich war niemals in Sicherheit.«

»Schschsch.« Wieder diese Stimme. »Ruhe dich jetzt ein wenig aus. Ich bleibe bei dir. Ich werde dich immer halten, Tony.«

»Wer bist du?«

Falls der Mann antwortete, hörte Tony es nicht mehr, denn wie eine Decke umfing ihn die Nacht, hüllte ihn in eine sanfte Liebkosung. Er schlief behütet, ohne Traum und sogar ohne Wunschdenken.