Kapitel 16
Aus den Umständen hätte man lernen können, dass Sex nicht alles war. Beim Verlust des Augenlichts zum Beispiel wurden doch angeblich alle anderen Sinne geschärft, sodass Blinde zur Kompensation ein übermenschliches Gehör und eine geradezu unheimliche taktile Sensibilität entwickelten. Analog dazu hätte auch die sexuelle Enthaltsamkeit das ganze phantasmagorische Füllhorn all jener anderen Freuden des Lebens nur intensivieren müssen.
Doch indem er sich in säuerlicher Stimmung den überspannten Ausdruck phantasmagorisches Füllhorn all jener anderen Freuden des Lebens ausdachte, fielen Jackson keine ein. Welche Freuden? Er hasste seinen Job. Sein vermeintlich »bester Freund« war inzwischen genau der Mann auf der Welt, dem er am dringendsten aus dem Weg gehen wollte. Der Gleichgewichtssinn seiner ältesten Tochter hatte sich so drastisch verschlechtert, dass sie bald im Rollstuhl sitzen würde. An sein jüngeres Kind kam er aufgrund von dessen Schutzbarriere aus Fett und Fast Food kaum heran, wobei er sich beim Durchdringen der stumpfen, aufgedunsenen Fassade seiner Zwölfjährigen ohnehin nur ihren Zorn zugezogen hätte, nachdem sie jahrelang mit »Cortomalaphrin« für dumm verkauft worden war und sich selbst standhaft geweigert hatte, das Wort Placebo nachzuschlagen. Und seine Frau, so nah und doch wie hinter Glas, lebte im Grunde in einem Paralleluniversum; er stellte sich vor, dass dieses Gefühl, zu winken, zu rufen und auf und ab zu springen, während man offenbar weder gesehen noch gehört wurde, so ähnlich sein musste, als wäre man tot. Er lebte nicht mehr mit einer Ehefrau zusammen; er war nur noch ihr Quälgeist. Mit der Entnervtheit einer überzeugten Rationalistin, die sich dem unsichtbaren Treiben des Paranormalen stellen musste, schien sie gelegentlich zu entdecken, dass ein Sandwich verzehrt oder ein Sockenpaar getragen worden war.
Hinzu kam, dass jedes Plakat für Haarcolorationen, jede Fernsehreklame für Schokolade, jeder nicht-jugendfreie Spätabendfilm und jede Zote im Büro dafür warben, dass, ganz im Gegenteil, Sex doch alles war. Da seine Versorgung plötzlich auf Diät gesetzt war, da er ohne leben musste, sah Jackson wirklich erst jetzt, wie ausgesprochen wichtig Sex war. Er musste nicht nur auf die Aktivität an sich verzichten, bei der der runde Stift in das runde Loch gesteckt wurde, sondern auch auf all die schattigen Blicke und versehentlichen Berührungen, das Flüstern, Lachen und Lächeln, das mädchenhafte Zurückschieben einer rötlichen Strähne hinters Ohr oder auf zwei zarte Finger auf seinem Unterarm, die ihm einst den Tag elektrisiert hatten. Also vermisste er weniger die Sache an sich als die Energie, die alles andere antrieb; Sex war nicht das Ziel, sondern der Treibstoff. Mit leerem Tank hatte Jackson keine Freude am Essen, wodurch er unweigerlich mehr aß. Alkohol löste kein Hochgefühl mehr aus, sondern machte ihn reizbar; stets hoffnungsvoll, dass ein weiteres Bier ihn in die großspurige Stimmung von einst zurückversetzen werde, trank er auch mehr. Gequält und ausgehöhlt, wie er war, dachte Jackson zu selten darüber nach, dass auch Carol auf Diät gesetzt worden war, dass auch Carol der Sprit ausgegangen war, dass Carol aufgrund einer fatalen Mischung aus seiner Dummheit und ihrem anhaltenden Unmut ja selbst ohne Sex leben musste.
Inzwischen lösten die dräuenden Kreditkartenschulden das seltsame Gefühl in ihm aus, verfolgt zu werden. Wenn er durch die Straßen ging, sah Jackson aus dem Augenwinkel eine Gestalt oder hörte hinter sich ein Rascheln im Gebüsch, fühlte sich gejagt von einer flüchtigen Gestalt, die sich, sobald er sie ins Visier nahm, als ein Zweig im Wind oder der Nachbarshund entpuppte. Dennoch war die Gestalt stets in seiner Nähe. Mit den Schulden war es weitaus schlimmer, als Carol je hätte ahnen können. In einem vorgeblich großzügigen Versuch, beim Bürokram mitzuhelfen, hatte er die Haushaltskasse übernommen, da Carol sämtliche Krankenversicherungsforderungen regelte. Um ihre Besorgnis angesichts der Unmenge Plastikkarten zu zerstreuen, ließ er sich die Rechnungen einiger Karten ins Büro schicken; drei weitere waren papierlos, und er zahlte das Minimum jeweils online. Er fragte sich, ob das damit einhergehende Gefühl der Krankhaftigkeit und drohenden Katastrophe vielleicht in irgendeiner Weise Glynis’ Erfahrung mit dem Krebs widerspiegelte. Er wollte keineswegs schmälern, was Glynis durchmachen musste, aber es schien ein Zusammenhang zu bestehen; Jackson hatte finanziellen Krebs. Das heißt, selbst wenn er an etwas ganz anderes dachte, nagte etwas Falsches und Böses auf ähnliche Weise an ihm, wie etwas Falsches und Böses an Glynis nagte, wenn sie sich gelegentlich bei ihren verflixten Kochsendungen auf eine der Speisen konzentrieren konnte, die sie niemals zubereiten würde. Eine tödliche Krankheit war die Insolvenz des Körpers. Glynis und Jackson lebten beide mit der Angst vor jenem ungenannten bevorstehenden Tag, wenn der Geldeintreiber an die Tür klopft und nach ihrem Pfund Fleisch verlangt.
Ähnlich wie man mit dem Rauchen anfängt, wenn man ohnehin die denkbar schwerste Krankheit hat … Ähnlich wie junge Mädchen jedwede Verhütung in den Wind schlagen, weil sie ohnehin schon schwanger sind … Ähnlich wie sich die krankhaft Fettleibigen sagen, was soll’s, jetzt wiege ich schon dreihundert Kilo, die ich nie wieder abnehmen werde, warum nicht noch ein Stück Kokostorte essen, wenn ich Lust drauf habe … war Jackson in ein so tiefes finanzielles Loch gefallen, dass es an keinem Punkt mehr eine Rolle zu spielen schien, ob er das Loch noch einen Teelöffel tiefer aushob. Außerdem schien er in eine Feedback-Schlaufe geraten zu sein: Die Schulden machten ihm ein schlechtes Gewissen. Und indem er seine eigene Zukunft, die Zukunft seiner Frau und die Zukunft seiner Kinder in Gefahr brachte, war es ja richtig, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, und um sich zu geißeln, ließ er seinen Schuldenberg noch mehr anwachsen. Mal beim Hunderennen, mal mit einem Zeitschriftenabonnement oder einem Oberteil von L. L. Bean, auf das er genauso gut hätte verzichten können; tatsächlich entdeckte Jackson mit großer Faszination, wie viel Geld man tatsächlich durchbringen konnte, ohne nennenswerte Verbesserungen in seinem Leben herbeizuführen oder irgendetwas Sinnvolles zu erwerben. Dieses Ersatzprassen wurde zu einem Spiel, einem kleinen Zeitvertrieb in Sachen Selbstquälerei, und er hatte eine perverse Freude an der Feststellung, dass man sein gesamtes Geld für nichts und wieder nichts verbraten konnte, ohne dass einen jemand davon abhielt. In einem halluzinatorischen Anfall fehlgeleiteter Frömmigkeit hatte er tatsächlich auf einer Website seine Kontonummer und Sozialversicherungsnummer eingeben und im Wert von vierzehntausend Dollar zehn abscheuliche Plastikleuchter kaufen können, und sie wären direkt von seinem Konto abgebucht worden.
Sicher, das Haus wollte er nicht verlieren. Nicht nur war das Hypothekendarlehen noch offen; auch die ursprüngliche Hypothek war noch nicht abbezahlt. Doch die Vorstellung einer Zwangsvollstreckung war für ihn völlig abstrakt. Sie lebten in dem Haus. Er kehrte jeden Tag in das Haus zurück. Er hatte einen Schlüssel zu dem Haus. Seine Sachen hingen in den Kleiderschränken; die Lebensmittel für ihr Frühstück waren in der Küche gebunkert; seine Post wurde jeden Tag an die entsprechende Adresse geliefert. Die schiere Dreidimensionalität des Hauses, die große haptische Qualität und das Den-Großteilseines-Ehelebens-hier-geschlafen-Habende machten ihm die Aussicht auf Enteignung unbegreiflich, und was er nicht begreifen konnte, konnte auch nicht passieren.
Gelegentlich dachte Jackson mit Bitterkeit zurück an die frühen Tage bei Allrounder, als er und Shep Seite an Seite draußen die Jobs gemacht hatten – als das Unternehmen im Grunde eine Zweimannfirma gewesen war, die zwar gelegentlich auch gelernte Klempner oder Elektriker unter Vertrag genommen hatte, aber sonst de facto eine Partnerschaft gewesen war. Beim Verkauf hätte Shep also eigentlich mit ihm Hälfte-Hälfte machen müssen. Shep hätte ihn auf dem Papier zu dem machen müssen, was er in der Praxis war. Dann wäre die Firma für diese lässige Million über den Ladentisch gegangen, und er hätte jetzt fünfhundert Mille, die ihn schmerzfrei über sein Rechnungsmeer getragen hätten. Oder aber er hätte ein Machtwort sprechen und sich weigern müssen, eine hastig aufgesetzte Übereinkunft zu unterschreiben, damit Shep sich sinnloserweise auf irgendeinen Misthaufen in der Dritten Welt absetzen konnte. Er hätte den Kerl ja unter Druck setzen können, damit er zugab, dass Pemba, genau wie die vielen willkürlichen Vorgänger, ein Hirngespinst war, das Shep im wahren Leben niemals in die Tat umsetzen würde. Dann wären sie nämlich die Chefs eines blühenden Online-Unternehmens, das viermal so viel wert war wie der Verkaufspreis von 1996, und nicht Randy Pogatchnik wäre reich, sondern Jackson Burdina.
Im Februar in seiner Wabe kauernd, nahm Jackson erbittert zur Kenntnis, dass es, ausgerechnet, Valentinstag war. Kurzzeitig kam ihm tatsächlich in den Sinn, dass er losziehen und Carol ein letztes Mal um Gnade ersuchen könnte, ähnlich wie die vielen früheren, spektakulär gescheiterten Gnadenersuche. Aber er sah sie schon vor sich: ein Dutzend Rosen, die hastig in ein Gurkenglas gestopft wurden. Eine Packung Pralinen, gedankenlos auf ein Regal geschoben, begleitet von der Bemerkung, nur ja vor Heather nichts davon zu sagen. Nicht mal ein trockener Wangenkuss, sondern ein förmliches »Ach, danke, Jackson, das ist aber lieb von dir«, in ähnlich kühlem Tonfall, in dem seine Frau unliebsame Telefonwerber abzuwimmeln pflegte. Im Grunde hatte seine Frau ihn selbst, ihren eigenen Ehemann, abgewimmelt, und somit war essbare Reizwäsche komplett aus dem Rennen.
Hatte er selbst denn gar kein Valentinsgeschenk verdient? Und warum sollte er sich lediglich ein weiteres Holzfällerhemd gönnen und sich nicht noch ein bisschen mehr verschulden, um sich etwas zu sichern, das er wirklich brauchte?
Jackson hatte so etwas noch nie getan, aber wo Pogatchnik gerade nicht im Haus war, Shep mal wieder unerlaubt freimachte und seine Leute auf die tropfenden Wasserhähne dreier New Yorker Bezirke verteilt waren, gab er die Begriffe »Escortservice« und »Brooklyn NY« in seine Suchmaschine ein.
AUCH WENN SEIN Puls raste, war es eigenartig banal, seinen neuesten Kreditkartenkauf in einem Starbucks auf der 5th Avenue zu treffen. Das Mädchen auf dem Foto, das er sich im Internet ausgesucht hatte, hatte langes rotbraunes Haar, einen üppigen Busen und einen entrückten Blick gehabt, der eigentlich ein Stimmungskiller gewesen wäre, doch er vermisste die Katz-und-Maus-Spiele, bei denen damals seine Frau nie ganz zu fassen gewesen war, und außerdem wollte er wenigstens ein bisschen was für sein Vergnügen tun müssen. Er nahm sich einen Moment, um einen Blick über die anderen Gäste zu werfen, die neben abgestandenen Cappuccinos auf ihre Laptops einhackten, und erkannte endlich sein persönliches Valentinstags-Geschenk, weil sie aus dem engen roten Top quoll, das sie ihm am Telefon beschrieben hatte. Streng genommen sah sie ihn zuerst und winkte ihm fröhlich zu; zweifellos war sein Kalte-Füße-Blick – der rasche Blick zur Tür, durch die er vielleicht noch heimlich, schnell und leise das Weite suchen könnte – ein Blick, den »Caprice« (oder wie immer sie hieß) schon aus Erfahrung kannte.
»Sorry«, sagte Jackson, zog einen Stuhl heran und bereute es sofort, da er eigentlich nichts wie raus und die Sache hinter sich bringen wollte. »Du bist nicht das Mädchen auf dem Bild.«
»Ach, Süßer, das sind wir nie«, sagte sie lachend. »Keine Ahnung, was das für Fotos sind. Und, willst du einen Kaffee?«
Eher einen doppelten Bourbon. Dennoch ließ sich Jackson einen Kaffee bestellen, damit er einen Blick auf sie werfen konnte, wobei er einen Moment brauchte, bis er begriff, dass sie deshalb mit hochgezogenen Augenbrauen neben ihm stand, weil sie Geld wollte; er hatte nur einen Zehner. Während sie in der Schlange wartete, stellte er fest, dass sie keine schlechte Figur hatte, abgesehen von dem etwas fetten Hintern. Er hatte sich eine der kostspieligeren Seiten ausgesucht, also war sie zumindest nicht aufgedonnert, sondern trug ein stilvolles, figurbetonendes schwarzes Kostüm. Er ärgerte sich zwar, dass sie nicht die war, die er sich ausgesucht hatte, aber immerhin war »Caprice« – nun – weiß. Vorgeblich war sie blond – vielleicht waren die Mädchen ja farbcodiert – wobei er gern zurückgekehrt wäre in die Zeit, als Haarefärben noch ein schändliches Geheimnis war und die Frauen sich mit einem Millimeter dunkler Haarwurzeln nicht aus dem Haus gewagt hätten; seine Eskortierdame stellte ganze zwei Zentimeter zur Schau. Auch die Brüste waren, wie er bei ihrer Rückkehr sah, nicht echt. Als Endzwanzigerin mochte die Frau vielleicht ganz passabel ausgesehen haben, doch ihre Gesichtsproportionen waren schief. An solche Anormalitäten hatte man sich bei Frauen wie der Schauspielerin Julia Roberts zwar inzwischen gewöhnt, bei einer Hure aber drängte sich die Frage auf, wovon ihr Mund wohl so breit geworden war.
Jackson schlürfte seinen mittelgroßen Coffee of the Day – nur ein paar Dollar, und sie hatte das Wechselgeld behalten –, wobei ihm aufging, dass dieses Treffen an einem öffentlichen Ort hauptsächlich deswegen stattfand, damit sie einen Blick auf ihn werfen konnte. Am normalsten wirkte man jedenfalls, indem man beruhigend langweilig war. »Und, wie lange machst du schon diesen … Job?«
»Kein Sorge, ich mach das nicht hauptberuflich«, sagte sie luftig, und Jackson hatte zu seiner Überraschung den Eindruck (wie kam es, dass man es in weniger als einer Minute immer bei allen erkennen konnte? Welcher Tupfer im Auge verriet sie?), dass sie schlau war. »Ich finanzier mir damit meinen Kurs in Personalmanagement am Brooklyn Community College. Weißt du, Personalwesen, wie man früher sagte. Da dacht ich mir, es gibt doch keinen besseren Weg, sich ein bisschen Personalmanagement-Praxis anzueignen.«
Den Spruch hatte sie vermutlich schon öfter losgelassen, aber immerhin war das Eis damit gebrochen. Als sie schließlich gingen, hatte er von seinem (beruhigend langweiligen) Job erzählt und hinzugefügt, dass er außerdem in seiner freien Zeit ein Buch schreibe. Wozu sollte eine solche Begegnung sonst gut sein, wenn nicht, um ein bisschen hochzustapeln? Zuzugeben, dass er über den Titel noch nicht hinaus war, käme nicht gut. Er probierte sogar seinen neuesten an ihr aus: Der Mythos des »gesetzestreuen Bürgers«: Wie wir gutgläubigen Gutmenschen gebrainwashed werden, damit wir uns jeden Scheiß bieten lassen (oder) Sie haben ja keine Ahnung, womit Sie alles durchkämen, wenn Sie nur Eier in der Hose hätten.«
»Es geht darum, wie wir alle zu Mitläufern manipuliert werden«, erklärte er auf dem Weg hinaus mit einer Spur seines alten Überschwangs. »Kennst du diese billigen Fernsehsendungen wie Die verrücktesten Polizeivideos der Welt? Irgendein Versager in einem Pick-up rast mit hundertsechzig als Geisterfahrer über die Autobahn und unsere tapferen Männer in Blau hinterher. Gelingt es dem Bösewicht jemals, sich glücklich aus dem Staub zu machen? Nie im Leben! Am Ende des Clips liegt der arme Wichser immer mit Handschellen im Dreck. Das ist soziale Manipulation, und zwar keine sehr subtile. Verbrechen lohnt sich nicht. Niemand kommt damit durch. Genau wie diese ganzen linientreuen Polizeisendungen, von Dragnet oder Law and Order. Das nennt man vorsätzliche Desorientierung, reine Propaganda.«
Da stand er nun draußen in der Kälte mit einer Prostituierten und schwafelte über Politik. Sie wirkte belustigt. »Gibt gar keinen Grund, so nervös zu sein, weißt du.«
»Ich bin nicht nervös«, sagte er. »Ich red immer so.«
»Kein Wunder, dass du ’ne Eskortagentur brauchst.«
Sie wollte witzig sein. Eigentlich hätte ihm das gefallen müssen. Unpersönlich konnte er so was nicht durchziehen; es lag nicht in seiner Natur. Er wollte ihre Sympathie gewinnen. Er wollte sie beeindrucken, was jämmerlich war. »Gonorrhö ist nicht das Problem«, sagte er, und dann wurde ihm klar, was er da gerade gesagt hatte und hätte sich dafür in den Hintern treten können. »Ich meine, Logorrhö. Es ist nur, meine Frau zeigt mir … die kalte Schulter.«
Sie sagte nichts, konnte sich ein kleines Lächeln aber nicht verkneifen.
»Ja, klar, hast du alles schon mal gehört. Meine Frau ist frigide. Aber sie ist nicht frigide. Und komm nicht auf die Idee, dass ich ein Hausmütterchen in Stützstrümpfen zu Hause sitzen habe. Meine Frau ist traumhaft schön.« Er konnte sich gerade noch davon abhalten, sieht besser aus als du hinzuzufügen.
»Du musst dich bei mir nicht entschuldigen, ›Jonathan‹. Und, willst du was trinken gehen, ’ne Kleinigkeit essen?«
»Ich hab nicht viel Zeit. Lass uns gleich zur Sache kommen, wenn du verstehst.« Er hatte am Nachmittag mit Carol telefoniert und ihr erzählt, dass er ein paar Stunden später nach Hause käme, weil er die Neuausrichtung einiger falsch aufgehängter Küchenschränke beaufsichtigen müsse, wodurch für den Kühlschrank gerade mal sechzig Zentimeter Platz geblieben wäre … Die Ausschmückungen hätte er sich sparen können, denn Carol hörte ihm gar nicht zu. Das Eigentümliche an dem Gespräch war, dass sich das Lügen kein bisschen anders angefühlt hatte als sonst, wenn er zu Hause anrief und die Wahrheit sagte. Details hin oder her, heutzutage logen sich die beiden zumindest auf emotionaler Ebene eigentlich ständig an. Deswegen war die wortwörtliche Lüge fast eine Erleichterung gewesen. Es war zumindest ein ehrliches Lügen.
Caprice führte ihn zu einem unschuldig wirkenden Hotel, einem umfunktionierten Brownstone in der Union Street, das seiner schmutzigen Phantasie spottete. Am Empfang war man geschäftig und gleichmütig, während er seine Brieftasche nach einer Visakarte mit Online-Rechnung durchsah, die unglaublicherweise gerade seinen Kreditrahmen erhöht hatte. Oben im Zimmer waren die Stofflampenschirme mit kitschigen Troddeln behangen; die Tagesdecke war aus heimeligem Chenille, der Druck über dem Bettgestell eine überbordende Farblithografie vom Feuerwerk über der Brooklyn Bridge bei ihrer Eröffnung im Jahr 1883. Ob man’s glaubte oder nicht, der Laden war irgendwie süß.
Jackson betrachtete den Druck, während er die zwei obersten Knöpfe seines Hemdes öffnete, aber mehr Knöpfe gingen nicht. »Übrigens, eine Woche nach der Eröffnung der Brücke da verbreitete sich das Gerücht, dass sie einsturzgefährdet sei. Bei der Massenpanik kamen zwölf Menschen ums Leben.«
Caprice trat hinter ihn und ließ die Hände in seine beiden vorderen Taschen gleiten. »Sag bloß.«
»Du lachst mich aus.«
Sie hätte es eigentlich abstreiten müssen. »Du hast recht.«
Jackson drehte sich, umfasste ihre Hüften und erschrak angesichts der ungewohnten Konturen. Dennoch, allein ihre Körperwärme durch den Stoff erregte ihn auf eine Weise, vor der er zuvor ein wenig Angst gehabt hatte. Ihr Parfüm war nicht sein Ding; Carol trug selten kommerzielle Düfte, und was ihn wirklich anmachte, war der Moschusduft ihrer Haut, nachdem sie Flicka den ganzen Nachmittag ins Auto rein- und aus dem Auto rausgehievt hatte, ein tiefer, erdiger Duft wie von morschem Holz. Wenn er wirklich hätte sichergehen wollen, dass er seinen Mann stehen würde, hätte er von Caprice verlangen müssen, ein getragenes T-Shirt von Carol überzuziehen.
»Gehörst du auch zu diesen Mädchen, die nicht küssen? Ich hab mal gelesen, dass ihr nicht gerne küsst.«
»Das hast du also mal gelesen.« Sie küsste ihn sanft, ohne Zunge. »Ich glaube, du hast zu viele Bücher gelesen, Freundchen.«
Irgendetwas war mit dem Wort Freundchen. »Du lachst mich ja immer noch aus.«
»Hast du auch irgendwo gelesen, dass das hier ’ne bierernste Veranstaltung sein muss? Du würdest dich wundern, aber manchmal hab ich ’ne Menge Spaß. Und du bist doch toll. Du bist … lustig.«
Jackson legte sich aufs Bett, während sie sich aus dem kurzen Bleistiftrock schlängelte und ihre Jacke abstreifte; die Achtsamkeit, mit der sie die Jacke über den Stuhl hängte, hatte etwas beruhigend Häusliches. Das hautenge rote Oberteil entpuppte sich als Body; wie effizient. Carols Unterwäsche war eher schlicht … er war nicht sicher, ob er jetzt eigentlich an Carol denken sollte, wobei er offenbar keine Wahl hatte.
Rückblickend war das der Zeitpunkt, an dem er das Licht hätte löschen sollen.
Noch immer in ihrem roten Body, legte sich Caprice zu ihm. Sie hatte hübsche Beine. Carols Oberschenkel fingen gerade an, ein wenig … Holla, das Mädchen ging aber ran. Carol hatte nicht die Gewohnheit … Dieses Knie zwischen seinen Beinen war köstlich … Jackson zuckte zusammen, als sie etwas zu viel Druck auf seinen Hosenschlitz ausübte, doch es gelang ihm, das Zucken zu überspielen. Es war immer noch ein bisschen empfindlich, aber vielleicht war das in Ordnung, denn empfindlich war ja nichts Schlechtes. Sie öffnete ihm den Gürtel und zog den Reißverschluss auf, und er atmete heftig ein beim plötzlichen Zusammenprall mit der kalten Luft, bei der willkommenen Befreiung aus seinen Boxershorts, und er dachte, vielleicht könnte sie ihm ja zuerst einen blasen, komm, Baby, lutsch ihn mir –
Kaum hatte Caprice ihn entblößt, da schrak sie zurück. »Was ist das denn?«
»Was meinst du denn, was es ist?«
Caprice zog ihr Knie zurück. »Was ist denn mit dir passiert, zur Hölle? Ist das ein Geburtsfehler?«
»Ich bin völlig normal auf die Welt gekommen!« Oder zumindest war es das, was Carol ihm schon seit einem Jahr predigte.
»Hör mal, tut mir leid, ich kann das nicht.« Caprice stand auf und begann wieder in ihr Kostüm zu schlüpfen.
»Warum nicht? Ist dir mein Geld nicht gut genug? Du sollst dich nicht in mich verlieben, sondern mit mir ficken.«
»Ich kann’s einfach nicht, es ist zu … Pass auf, so knapp bei Kasse bin ich nicht. Ich fürchte, das Hotel wirst du übernehmen müssen, aber ich kann’s einrichten, dass dir die Agentur die Kosten für den Begleitservice nicht in Rechnung stellt. Es gibt ein paar andere Seiten, die auf so was … Steht alles im Netz. Die auf … Behinderungen spezialisiert sind. Spezielle Bedürfnisse.«
Wütend zog Jackson seinen Reißverschluss zu. »Spezielle Bedürfnisse? Ich hab ein bisschen vernarbtes Gewebe, aber ich bin doch kein Idiot!«
»Nenn es, wie du willst, aber für mich ist das nix.« Als der Reißverschluss ihres Rockes klemmte, schien diese bislang unerschütterliche junge Frau regelrecht in Panik zu geraten, und als es ihr endlich gelang, den Reißverschluss zu bewegen, hatte sie den Ausdruck einer tüchtigen Heldin aus einem Thriller, die es soeben geschafft hat, mit einer Haarnadel das Schloss zu knacken, bevor sich der Serienkiller durchs Fenster stürzt. An der Tür erinnerte sie sich wieder an ihre guten Manieren. »Viel Glück mit dem Buch!«, sagte sie. »Ich … ich werd bestimmt danach Ausschau halten!«
AM FOLGENDEN MORGEN war Jackson schon im Büro, als Shep eintraf. Shep war zu spät – und zwar nicht zum ersten Mal. Jackson hätte ihn gern gedeckt, aber Pogatchnik lauerte schon in seiner Bürotür. Unter dem scharfen Blick seines Arbeitgebers setzte Shep sich an seinen Platz und zog seine Schaffelljacke aus, und darunter kam ein Muskelshirt mit Hawaiimusterblüten hervor; Jackson beklagte im Stillen die neue Fleischigkeit seines Freundes, normalerweise hätte das ärmellose T-Shirt eine Muskulatur zur Schau gestellt, auf die er immer neidisch gewesen war. Shep schlüpfte aus seiner Schneehose, unter der er ein paar bunte Bermudashorts trug, wie sie Pogatchnik im Sommer bevorzugte, nur dass es gerade Februar war. Zum Schluss zog er einen winzigen batteriebetriebenen Ventilator hervor, den er auf seinen Computer stellte. Das alles gehörte zum anhaltenden Temperaturkrieg (es war gerade zehn Uhr und bestimmt schon an die dreißig Grad warm hier drin), doch wenn Shep vorhatte, Pogatchnik mit dem ganzen Aufzug auf die Palme zu bringen, hätte er wenigstens pünktlich sein können. Irgendwas war los mit dem Kerl, er hatte etwas Mutwilliges und leicht Abgedrehtes, das aber auf eigentümlich stille Weise; abgesehen von seinem Zubehör verhielt Shep sich wie jemand, der, um einen gewissen noch ausstehenden Bestseller zu zitieren, sich jeden Scheiß bieten ließ. Inzwischen war die übrige Belegschaft verstummt, hatte den Blick fleißig auf den eigenen Bildschirm gerichtet und schielte heimlich zur Seite, um Shep und Pogatchnik beobachten zu können.
»Schön, dass Sie auch mal vorbeischauen, Knacker«, sagte Pogatchnik. »Ich bin richtig überwältigt, dass Sie so gnädig sind. Wie kommen wir zu dieser Ehre? Welchem Umstand verdanken wir die außergewöhnliche Sichtung des großen Faultiers, das sich ausnahmsweise mal unters Volk mischt und tatsächlich zur Arbeit kommt?«
»Meine Frau hatte gestern vierzig Grad Fieber«, sagte Shep in gleichmütigem Tonfall, schaltete seinen Computer an und rückte den Ventilator zurecht. »Eine Infektion. Ich war die ganze Nacht im Krankenhaus und habe kein Auge zugetan.«
»Sie sind sich darüber im Klaren, dass chronisches Zuspätkommen und Fehlen bei der Arbeit ein Kündigungsgrund sind – und zwar egal vor welchem Gericht, vor das sie mich schleppen?«
»Ja, Sir. Und ich verstehe, wie Sie sich zu drastischen Maßnahmen gezwungen sehen könnten, wenn es nur darum ginge, dass ein Angestellter mal verschlafen hat. Wobei das allerdings unmöglich ist, wenn besagter Angestellter gar nicht erst ins Bett gekommen ist.«
»Ich soll also nicht nur weggucken, wenn Sie hier reingeschneit kommen, wann’s Ihnen passt, jetzt soll ich auch noch Mitleid mit Ihnen haben?«
»Nein, Sir. Ich erwarte nur, dass Sie Rücksicht auf die außergewöhnlichen medizinischen Umstände in meiner Familie nehmen, wie es jeder andere vernünftige und wohlwollende Arbeitgeber tun würde.«
»Tja, dann bin ich wohl nicht vernünftig. Sie sind gefeuert, Knacker.«
Shep erstarrte. Sein Blick durchbohrte den Bildschirm. »Sir. Mr Pogatchnik. Ich kann Ihre Verärgerung nachvollziehen. Und ich verspreche Ihnen, dass ich versuchen werde, pünktlich zu sein und so viele reguläre Werktage einzulegen, wie es meine derzeitige schwierige Lage erlaubt. Mit Ihrer Erlaubnis möchte ich bemerken, dass ich meinen Verpflichtungen immer nachgekommen bin. Die vielen Beschwerden über unseren unterdurchschnittlichen Servicestandard« – hier hielt er inne, und Jackson hörte die undiplomatische Formulierung unser einst beispielhafter und mittlerweile unterdurchschnittlicher Servicestandard heraus – »haben sich nicht angehäuft. Wie Sie sehr gut wissen, hängt die medizinische Versorgung meiner Frau von der Versicherung ab, mit der mich dieses Unternehmen versorgt. Nicht meinetwegen, sondern ihretwegen bitte ich Sie nochmals um Nachsicht.«
»Verdammte Scheiße, das ist Ihr Pech. Ich habe nicht Ihre Frau eingestellt, und ich betreibe hier kein Hospiz. Wenn Sie Probleme mit dem System haben, schreiben Sie Ihrem Kongressabgeordneten. Jetzt suchen Sie Ihr Zeug zusammen, und raus hier.«
Pogatchnik hatte allerhand Drohungen ausgesprochen, aber diesmal war es anders. Abgesehen davon, dass ironischerweise zu Allrounder-Zeiten der wenig professionelle Randy selbst ein notorisch unpünktlicher Krankschreibekünstler gewesen war; das Spiel war aus.
Shep ließ die Schultern sinken, als er erkannte, dass dieser fette, sommersprossige einstmalige Angestellte nicht mit sich reden lassen würde. Er straffte den Rücken, und sein Körper richtete sich neu zu einer so entspannten, symmetrischen Haltung auf, dass er als Yogameister hätte durchgehen können.
Sein Mund verzog sich zu einem fatalistischen Lächeln. Er wirkte vollkommen gelassen. Jackson glaubte zu verstehen. Wenn man lange genug vor etwas Angst gehabt hatte und es dann geschah, war das schreckliche Ereignis wie eine Erlösung. Man heißt es willkommen. Man freut sich über das Böse. Denn im Bauch des Bösen herrscht keine Angst mehr. Bereits Geschehenes kann man nicht mehr fürchten.
Als Shep sich aus seinem Computer ausloggte und durch den Raum ging, um sich einen leeren Briefpapierkarton zu holen, hatte er wieder die Haltung jenes Mannes angenommen, den Jackson einst verehrt und den nachzuahmen er bisweilen peinlich offensichtliche Versuche unternommen hatte. Endlich bewegte sich der Kerl wieder mit lässigem Selbstbewusstsein und nicht wie ein Arschkriecher. Der Unbeugsame war zurück. Jackson war gar nicht klar gewesen, wie sehr ihm dieser Mann gefehlt hatte: mächtig, kompetent und standhaft. Ein Mann, auf den man sich verlassen konnte – der es niemals zulassen würde, dass die Haustiere verhungerten oder die Pflanzen eingingen, während man im Urlaub war, und der niemals den Ersatzschlüssel zum Haus verlegen würde. Der nicht mit der Wimper zucken würde, wenn er einem Kumpel Geld leihen sollte, seien es 5 oder 5000 Dollar. Der nicht mal mehr daran denken würde. Ein zuverlässiger, großzügiger Mann, wie er heute in diesem Land eine gefährdete Spezies war, wo alle nur noch die Hand aufhielten, und der daher natürlich Gefahr lief, von jedem ausgenutzt zu werden. Ein Mann mit einem einzigen exzentrischen Hobby, das die meisten belächelten, das Jackson aber liebenswert finden musste, denn Shep Knackers verschrobene Springbrunnen stellten ein paar blubbernde Quellen der Schrulligkeit dar in einem sonst nüchternen und pragmatischen Leben. Ein Mann, der bei all seiner Güte und harten Arbeit am Ende eigentlich nur um eines gebeten hatte: entlassen zu werden. Jetzt, wo nolens volens sein Wunsch in Erfüllung ging, war es verflucht noch mal eine Schande, dass das Timing so hundsmiserabel war.
Pogatchnik stand mit finsterer Miene in seiner Tür und wirkte seltsam unzufrieden, nachdem ihm selbst das Prinzip der erfüllten Angst aufgegangen war: Hatte man ein richtig großes Vergnügen erst mal hinter sich gebracht, konnte man sich nicht mehr darauf freuen. Unterdessen schlenderte Shep an den Waben vorbei und warf seinen Mitarbeitern wohlwollende Bemerkungen zu, schüttelte Hände, griff hier und da eine Schulter, tätschelte beschwichtigend ein paar Unterarme. Trotz des schrägen Strandgutsammler-Outfits hätte jeder Fremde beim Blick durch diesen Raum sofort angenommen, dass die energische, Respekt einflößende Gestalt im Hawaiihemd der Chef sei. Tja, war er ja auch. Das war es, was Pogatchnik nie hätte ertragen können, und das war der eigentliche Grund für Sheps Entlassung. Gesetz hin oder her, Shep war immer noch Chef und war auch immer Chef gewesen, während Pogatchnik die Seele eines Arbeitssklaven besaß, und daran würde auch Knackers Entlassung nichts ändern.
Dank Pogatchniks Verbot von jedwedem »persönlichen Mist« brauchte Shep nicht erst eine ganze Collage an Familienschnappschüssen abzunehmen, und die Räumung war schnell erledigt. Die Jacke über einem Arm, den Karton unter dem anderen, warf Shep von der Tür aus einen Blick über das Büro.
Der Webdesigner rief: »Yo, Knacker, du hast was vergessen!«
Shep zog die Augenbrauen hoch.
»Deine verdammte Firma, Mann!«
Erst zog sich unterdrücktes, dann aufrührerisches Gelächter durch die Belegschaft. Der Buchhalter rief: »Genau, nimm mich mit!«
Jackson hatte es als Kompliment aufgefasst, von Sheps Abschiedsrunde ausgenommen worden zu sein; er wäre ungern nur irgendein Mitarbeiter von vielen gewesen. »Komm, ich helf dir damit«, sagte er.
Auch wenn Shep den einen Karton auch selbst hätte tragen können, sagte er: »Danke«, und sie verließen zusammen das Haus.
SCHWEIGEND GINGEN SIE, um den Karton in Sheps Auto zu stellen. »Ich musste Glynis’ Golf verkaufen«, sagte Shep milde und klappte den Kofferraumdeckel zu. »Zum Glück hat sie noch nichts davon gemerkt.«
»Sie glaubt also immer noch, dass sie ihn eines Tages wieder fahren wird?«
»Wahrscheinlich. Oder keine Ahnung, was sie glaubt.«
»So, wie sie in ihrer eigenen Welt lebt«, sagte Jackson. »Der Realität nicht ins Auge sieht. Muss für dich doch … ein bisschen einsam sein.«
»Ja«, sagte Shep dankbar. »Das kann man wohl sagen. Hör zu, du solltest lieber wieder reingehen. Du willst schließlich nicht auch noch entlassen werden. Du weißt, er würde die Gelegenheit beim Schopf ergreifen.«
»Soll er doch. Du stellst dir doch wohl nicht vor, dass ich da noch weiter arbeite, wenn du weg bist.«
»Sei dir mal nicht so sicher. Bei den vielen Rechnungen. Du darfst nicht denken, dass du meinetwegen jetzt was Dramatisches tun musst.«
»Keine Sorge«, sagte Jackson. »Wenn ich was Dramatisches tue, dann meinetwegen.«
Seltsam, aber der Entschluss manifestierte sich nicht mit einem Mal. Es ging kein Licht an – oder aus. Weder sein Kopf noch seine Stimmung beschrieben eine scharfe Kurve nach Süden. Aber es war genau in diesem Moment, als sich Jackson nicht vorstellen konnte, noch einen einzigen Nachmittag in dieser lächerlichen Wabe zu schuften, und sich ebenso wenig vorstellen konnte, sich allen Ernstes irgendwo zu bewerben, um in irgendeiner anderen Wabe zu schuften, dass sich die theoretische Urlaubsinsel in seinem Kopf, auf die er sich seit einigen Monaten immer wieder zurückgezogen hatte – sein ganz privates Pemba –, tatsächlich zu einer Landmasse zu erhärten begann. Jackson wusste, wohin er vielleicht reisen würde. Denn diese Niete, die er gezogen hatte, rührte ja nicht von falschen Vorstellungen, ja nicht mal wie bei Glynis von einer Weigerung, der Realität ins Auge zu sehen. Es war keine Verleugnung, sondern die Erkenntnis, dass er sich nicht noch einmal durch einen sinnlosen Arbeitstag schleppen würde, als eine von vielen winterharten Pflanzen, die den Kopf aus der Erde streckten und sich vom Staat ernten ließen. Das würde er nicht wieder tun. Das war einfach nicht mehr drin.
»Ich glaube«, verkündete Jackson leichthin, »ich nehme mir heute frei.«
Shep zuckte mit den Achseln. »Na dann, wie wär’s mit einem Spaziergang? Prospect Park, wie in alten Zeiten. Da ich von jetzt an ja wohl nur noch frei haben werde.«
»Nur, wenn du dir die Jacke da überziehst. Ich frier schon beim Anblick.« Pflichtschuldig zog Shep seine Schaffelljacke über. »Die Hose auch«, sagte Jackson vorwurfsvoll.
Shep sah auf seine nackten Beine und grinste. »Ich glaube nicht. Irgendwie passt mir der Aufzug gerade ganz gut.«
»Du siehst total durchgeknallt aus.«
»Genau das meine ich.«
Also machten sie sich auf und liefen die 7th Avenue hinunter. Das war der nächste Moment, der Punkt, an dem sein bislang verschwommenes inneres Pemba ein wenig schärfer wurde, als hätte er den Sucher einer Wegwerfkamera darauf gerichtet: der Moment, an dem er mit Sicherheit erkannte, dass dies sein letzter Spaziergang sein würde. Dass sie zum letzten Mal zusammen in die 9th Street bogen.
»Und – wie geht’s dir?«, fragte Shep in dem gleichen emphatischen Tonfall wie Ruby damals in der Klinik am Krankenbett ihrer Schwester.
Jackson nahm sich einen Moment Zeit und spielte ernsthaft mit dem Gedanken auszupacken – die Schulden, dass er allein schon mit der Mindestmonatsrate für eine Visa- und eine Discoverkarte schon im Zahlungsrückstand war. Die Operation, die unsäglichen Rekonstruktionen, die alles nur schlimmer gemacht hatten. Die Erkenntnis in der Union Street, dass er offenbar eine Frau nicht mal mehr für Geld dazu bringen konnte, mit ihm ins Bett zu gehen. Aber er hatte das Gefühl, es war zu spät und würde zu lange dauern. Treffender noch, nachdem er sein Herz ausgeschüttet hatte, wäre alles noch immer genau wie vorher. Es war natürlich anzunehmen, dass am Ende ohnehin alles rauskäme, aber das konnte er akzeptieren. Dann könnten sie sich alle das Maul zerreißen, und ein Gesprächsthema würden sie brauchen. Die Erklärung wäre eine saubere Sache, und sie würden sich daran festhalten. Den echten Grund auszuformulieren hatte Jackson gar keine Lust, denn zu den vielen ihm merklich entgleitenden Gelüsten gehörte auch der Wunsch, verstanden zu werden; wunderbarerweise erlöste ihn die heutige »Du kommst aus der Therapie frei«-Karte auch von der Verpflichtung, sich selbst zu verstehen.
Nichtsdestotrotz wollte er Shep nicht weiter so grausam ausgrenzen, also zog er ihn aus Nettigkeit ins Vertrauen. »Flicka geht den Bach runter. Dass das unvermeidlich ist, hilft einem nicht weiter. Meine Ehe geht den Bach runter, was nicht unvermeidlich ist. Aber die Vermeidlichkeit – ist das ein Wort? – hilft einem auch nicht weiter.«
»Das tut mir leid. Was ist denn passiert?«
Jackson gab sich alle Mühe, ehrlich zu sein, sich dabei aber kurzzufassen. Shep war derjenige, der im Moment die Probleme hatte, und er wollte nicht egoistisch sein. Da ihm ein ähnlicher Dauerurlaub bevorstand, wie ihn Shep jahrelang geplant hatte, und da er sein eigenes Pemba nicht mehr nur aus der Ferne betrachtete, sondern immer deutlicher schon die verkürzte Gegenwart aus der Inselperspektive sah, kam sich Jackson vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben wahrhaftig und zutiefst selbstlos vor. »In Wahrheit hatte ich immer das Gefühl, dass ich sie nicht verdient habe. Sie ist so attraktiv und wirklich fähig, egal, was sie anpackt, ob Landschaftsgärtnerei oder IBM. Sie lebt perfekt angepasst an den Fluch eines Kindes mit einer Krankheit, die so selten ist, dass nur noch dreihundertfünfzig andere Menschen auf der Welt daran leiden. Und sie ist so, na ja, gut. Aber ich denke, sie hat sich jetzt endlich damit abgefunden, wie ich die Dinge sehe. Sie stimmt mir zu und findet jetzt auch, dass ich sie nicht verdient habe.«
Vielleicht war es der ruhige, philosophische Tonfall, den Jackson angenommen hatte, die Leichtigkeit des letzten Satzes, aber Shep wandte sich zu seinem Freund, sah ihm forschend ins Gesicht und wirkte verstört von dem, was er sah, oder verstört von dem, was er nicht erkennen konnte, und er schwieg.
Als sie zum Park kamen, musste Jackson an das Gespräch bei ihrem frostigen Spaziergang auf dieser Runde vor etwa einem Jahr denken, als Shep geschworen hatte, Glynis keine »Putenburger-Krankenversorgung« zu kaufen; war der Kerl also losgezogen und hatte eine gut abgehangene Premium-Angus-Hochrippensteak-Versorgung gekauft, und Glynis würde trotzdem ins Gras beißen. Ein weiteres freudiges Ereignis, auf das Jackson nun zu verzichten gedachte. Aussteigen erschien ihm nicht feige, sondern vernünftig. Denn die Kümmernisse, denen er in Kürze zu entkommen plante, passten auf keine Kuhhaut: Flickas Abgang; vielleicht würde auch Carol an Krebs erkranken; Heather, die immer mehr aus dem Leim gehen und keinen Freund finden würde; die unschöne Szene, wenn er Carol seine Schulden gestehen musste, weil vor ihrem Haus gerade ein Schild mit den Worten »Zu verkaufen« aufgestellt wurde; ganz zu schweigen von den Hurrikans, Missernten, Börsenkrächen und Bürgerkriegen und was einem der Rest der Welt sonst noch so ans Bein pinkelte, nur weil man morgens aufgestanden war. Glück bestand meist daraus, dem Unglück auszuweichen, und demnach musste er wohl im Moment zu den glücklichsten Männern auf der Welt gehören.
Jackson wartete, dass Shep die Frage seiner von grober Hand gekündigten Krankenversicherung zur Sprache brachte. Statt dessen erzählte er von seinem Vater.
»Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn nicht besucht habe«, sagte er. »Mit dieser CDiff-Geschichte konnte ich nicht in seine Nähe, wegen Glynis. Irgendwie schaffen sie’s nicht, der Sache Herr zu werden. Trotz immer wieder der nächsten Runde Antibiotika. Vor ein paar Wochen ist dann wohl irgendwas mit mir durchgegangen, als ich mit einer der Schwestern telefoniert habe. Aber pass auf: Als ich mich beschwert habe, dass der Laden offenbar ein Hygieneproblem hat und dass sie vielleicht mal damit anfangen könnten, sich die Hände zu waschen, da hat sie gelacht. Sie meinte, in Laborversuchen, wenn man CDiff zusammen mit dem starken Desinfektionsmittel, das sie benutzen, in eine Petrischale tut, dann wächst es.«
»Diese Scheißdinger vermehren sich in dem Zeug, mit dem sie abgetötet werden sollen? Mann, so viel Entschlusskraft bei einem Organismus kann man eigentlich nur bewundern. Viele denken ja, der Mensch wird eines Tages durch irgendeine höhere Lebensform ersetzt, die in der Evolution weiter ist. Ich persönlich glaube, die Zukunft gehört den winzigen und hirnlosen Lebewesen. In ein paar Tausend Jahren wird die Erde von einer Kruste aus Rhinoviren, Kopfläusen, Schimmel und Streptokokken überzogen sein.«
»Hört sich an, als würdest du dich drauf freuen.«
»Tu ich auch«, sagte Jackson. »Und wie.«
»Mein Vater hat noch mehr abgenommen, haben sie gesagt, was gar nicht gut ist. Aber was mir bei den letzten zwei oder drei Anrufen den Rest gegeben hat, ist nicht nur, dass er so geschwächt klingt. Er sagt, er glaubt nicht mehr an Gott.«
»Gibt’s doch gar nicht«, sagte Jackson. »Der hatte nur einen schlechten Tag, oder er nimmt dich auf den Arm.«
»Es ist ihm total ernst. Er sagt, je näher das Ende rückt, desto mehr könne er erkennen – nämlich, dass es nichts zu erkennen gibt. Er sagt, er wisse nicht, warum er so lange dafür gebraucht hat, weil es so einfach ist, aber wenn man stirbt, stirbt man. Und er sagt, nachdem er all diese Jahre ein frommer presbyterianischer Pastor gewesen sei und dafür jetzt über Monate hinweg gedemütigt werde – in seinem eigenen Durchfall liegen, sich von einer gereizten, übergewichtigen Krankenschwester aus Ghana mit einem kalten nassen Schwamm die Geschlechtsteile abschrubben lassen –, da kann da oben ja wohl keiner sein. Er sagt, genau das hätte ihm seine Gemeinde zu sagen versucht, wenn wieder ein Kind gestorben war oder jemand einen Autounfall hatte und auf einmal sabbernd im Rollstuhl saß, und er habe nichts davon wissen wollen, aber jetzt sei der Groschen gefallen.«
»Wow. Eigentlich ganz schön anspruchsvoll.«
»Ich fand’s schrecklich.«
Jackson blieb stehen und wandte sich zu ihm. »Ich dachte, du glaubst nicht an diesen religiösen Quatsch.«
»Tu ich ja auch nicht wirklich. Ich meine, tu ich nicht. Die Story ist gut, aber zu ausgefallen für meinen Geschmack – die ganze Sache mit dem Sohn Gottes und der unbefleckten Empfängnis. Und jede Religion, die behauptet, dass unsere Spezies, auf diesem einen Planeten, der diesen einen Stern umkreist, zufälligerweise den Sinn des Universums ausmachen soll – da kann man doch nur stutzig werden. Wenn man nach oben in den Himmel guckt, mit allem, was sonst noch so da draußen ist, ist das statistisch gesehen schlichtweg unwahrscheinlich. Und ein paar Sachen, die ich in diesen wirklich armen Ländern gesehen habe, in die ich mit Glynis gereist bin: offene Gullys, eiternde Wunden, kleine Kinder, die von den Parasiten im Wasser blind werden … da kommt man nicht auf den Gedanken, dass da oben jemand sitzt, der alles in der Hand hat – zumindest niemand, der es gut mit uns meint. Trotzdem, Papas Glaube hat mich auch immer ein bisschen beruhigt. Wenn ich glaube, dass es nichts gibt und er auch denkt, dass es nichts gibt … ich weiß nicht. Plötzlich ist das alles ein bisschen unheimlich. Ich überlege, was ich wirklich tun sollte, wenn mir ernsthaft was an ihm liegt. Und ich glaube, ich sollte versuchen, ihm einzureden, dass er wieder an irgendwas glauben soll, woran ich nicht glaube. Ich sollte ihm aus dem Buch Hiob vorlesen. Sollte ihm am Telefon ›Alles, was Odem hat‹ vorschmettern. Diese atheistischen Gespräche neuerdings finde ich wahnsinnig deprimierend. Großer Gott, ich dachte, die Leute würden zum Glauben finden, wenn sie Angst vor dem Tod haben.«
»Hat Glynis doch auch nicht.«
»Sie ist zu verkorkst. Selbst wenn sie die Erleuchtung hätte, würde sie’s nicht zugeben, und sei es nur, um ihrer Schwester eins auszuwischen. Außerdem ist sie so überzeugt, dass sie nicht stirbt, dass sie sich sogar weigert, Angst davor zu haben.«
»Wenn es auch nur irgendwas mit Willenskraft zu tun hat, wird Glynis noch hundert Jahre alt.«
»Glaubst du an ein Jenseits? Also, das normale Jenseits.«
»Ach was«, sagte Jackson. »Außerdem will ich das gar nicht. Mal ehrlich, wer will denn noch mehr von dem hier?«
»Ich glaube, es geht darum, dass es da kein Mesotheliom oder Allrounder-dot-com gibt.«
»Trotzdem. Ich hab’s langsam satt, Kumpel.«
»Was denn?«
»Alles. Den ganzen verdammten Scheiß.«
Shep warf ihm wieder so einen Blick zu.
Sie kamen am Gehege vorbei, wo eine junge Frau ein Pferd herumführte, das aussah, als wäre ihm kalt. Sie warf dem seltsamen Kerl in Schaffelljacke und Bermudashorts einen Seitenblick zu, aber mochte vielleicht dadurch beruhigt gewesen sein, dass immerhin der stämmige Typ, der ihn begleitete, halbwegs normal aussah. Der Prospect Park war fast menschenleer, die Äste wie ausgefahrene Krallen, der breiartige Himmel klumpig und erstarrt. Die asphaltierte Straße, die rings um den Park führte, war salzfleckig, während die harten schwarzen Eisklumpen am Straßenrand allmählich tauten und gefrorene Hundehaufen zum Vorschein kamen. Parks hatten im Winter in der Stadt eigentlich nichts verloren. Sie waren einfach fehl am Platz.
Sheps Ansage war so grau und karg wie die Landschaft: »Möglicherweise muss ich mich für bankrott erklären.«
Bis jetzt hatte sich Jackson in eine hübsche elegische Apathie gleiten lassen, ein so narkotisiertes Schweben über den Dingen, dass er von oben sehen konnte, wie ihre beiden Gestalten am Ausgang an der 15th Street um die Ecke bogen. Doch Sheps Enthüllung brachte ihn sehr schnell wieder mit dem Hintern voran auf den Bürgersteig. »Komm, das ist nicht dein Ernst! Bei all der Kohle, die du für den Allrounder eingesackt hast?«
»Vierzig Prozent Selbstbeteiligung. Mein Vater, Amelias Prämien … Inzwischen hab ich alles, was ging, auf Ebay verkauft: Glynis’ Auto, meine Angelausrüstung, meine Plattensammlung; fast hätte ich den Hochzeitsbrunnen verkauft, aber ich hatte Angst, dass ihn jemand wegen des Silbers einschmilzt, und am Ende hab ich’s doch nicht übers Herz gebracht. Hätte dafür sowie nur Kleckerbeträge gegeben; gerade genug für einen Bluttest und einen PET-Scan. Vor allem nach der Kapitalgewinnsteuer hattest du am Ende nämlich doch recht. Ich war nicht reich. Eine Million Dollar ist nicht so viel Geld.«
»Würde es denn irgendeinen Unterschied machen, wenn Glynis – wenn Glynis …?«
Behutsam nahm ihm Shep mit einer Geste fast physischer Großzügigkeit den Gedanken ab, ähnlich wie er Jackson vor dem Auto die Kiste mit seinem Bürokram abgenommen hatte. »Wenn sie früher stirbt? Klar, das würde mich wohl entlasten. Und, klar hab ich darüber nachgedacht. Es liegt nun mal auf der Hand. Meine praktische Veranlagung, weißt du, kann auch ein Fluch sein. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schlimm solche Gedanken sind.«
»Aber wär’s für sie am Ende denn nicht auch besser?«
»Was schlägst du denn vor, soll ich sie mit dem Kopfkissen ersticken? Es ist nicht meine Aufgabe, die Sache zum Abschluss zu bringen. Sie hält ja immer noch durch. Mit einer Handvoll Pillen pro Stunde und winzigen pürierten Mahlzeiten. Also muss ich doch davon ausgehen, dass es ihr Wille ist, weiterzumachen. Aber jetzt einen Monat ganz ohne Krankenversicherung, und ich bin am Ende. Schlimmer noch: Ich stecke bis zum Hals in den Miesen, und jetzt hab ich nicht mal mehr ein Gehalt.«
»Du kriegst bestimmt eine Abfindung.«
»Die geht ja doch nur an die Gläubiger.«
»Na ja, aber dann ist es vielleicht okay, pleite zu sein. Steh die Sache mit Glynis durch, lass die Rechnungen sich anhäufen, dann reichst du die Papiere ein. Ziehst einen Schlussstrich. Fängst noch mal von vorne an. Genau dazu ist eine Bankrotterklärung doch gut.« Spaßeshalber malte sich Jackson die gleiche Lösung für seine eigenen Schulden aus, dann aber verwarf er den Gedanken. Nicht wegen der Schmach. Es war einfach zu viel Aufwand.
»Ich hab bisher immer alles auf die Reihe gekriegt«, sagte Shep. »Du hast mir immer in den Ohren gelegen, dass ich mich von Leuten wie Beryl nicht ausnutzen lassen darf, aber so was hat mich nie gekümmert. Mich kümmert es, dass ich mir meinen Stolz bewahre, dass sich andere auf mich verlassen können. Jetzt werde ich nur noch ein Versager von vielen sein.«
Jacksons anfänglicher Anfall von Wut um seines Freundes willen hatte sich schon in Langeweile gekehrt. Wäre er noch interessiert gewesen, hätte er Shepherd Knackers finanzielle Schande als Ungerechtigkeit verurteilt, aber er war nicht mehr interessiert. Seltsam, die antriebsstarke Gefühlsmischung aus Empörung, Bestürzung und Verachtung, die sein ganzes Erwachsenenleben angeheizt hatte, schien sich plötzlich geleert zu haben wie ein Benzintank. Er hätte natürlich gern in Sheps Namen losgewettert, und sei es, bei diesem traditionellen Spaziergang durch den Prospect Park, um der alten Zeiten willen. Doch selbst wenn man ihm die Pistole auf die Brust gesetzt hätte, hätte er keine vernünftige Schimpftirade mehr zustande gebracht.
Diesmal liefen sie den vollen Rundgang von vier Meilen, und auf dem letzten langen Anstieg behielt jeder seine Gedanken für sich. Als sie wieder vor Sheps Auto standen, wollte Jackson ihm etwas Weises und Erinnerungswürdiges mitgeben, aber es wollte ihm nichts einfallen, außer »Pass auf dich auf« – irgendwer musste schließlich auch vernünftig weitermachen. Dennoch, obgleich sie es nie groß mit Körperkontakt gehabt hatten, packte Jackson nach unbeholfenem Trödeln neben der Fahrertür seinen besten Freund und umarmte ihn fest und sehr lange. Nachdem sie sich voneinander gelöst und Jackson gewinkt hatte, um sich schließlich umzudrehen und mit gebeugtem Rücken die Straße hinunter zu verschwinden, glaubte er, dass die Umarmung wirklich die bessere Lösung gewesen war. Besser als irgendein schlauer Spruch.
AUF DEM HEIMWEG, am frühen Nachmittag dessen, was sein ultimativer freier Tag zu werden versprach, schlenderte Jackson mit zunehmender Behaglichkeit und Leichtigkeit dahin, von einer ähnlichen Gelassenheit beseelt wie Shep bei Handy Randy nach dem eingetretenen Supergau. Er fühlte sich geläutert – als hätte Gabe Knacker unrecht und als wäre wirklich irgendein armes Schwein für seine Sünden gestorben; als wäre er gerade aus der Dusche gekommen, zu der Zeit, bevor er sein Genital gleich in ein Duschhandtuch wickeln musste, damit es niemand sah. Jackson sorgte sich nicht mehr wegen der Kreditkartenrechnungen; er fühlte sich nicht mehr verfolgt. Er war in der Lage, die gestrige Begegnung mit »Caprice« in komischem Licht zu betrachten, und bedauerte es ein wenig, dass er diese verdammt gute Story nicht beim Bier würde zum Besten geben können. Es betrübte ihn ein wenig, dass Shep arbeitslos und pleite war, doch es war eine sanfte, tröstende Traurigkeit wie der bedeckte Himmel. Sheps Misere zeigte deutlich, dass alles sinnlos war, dass zwischen Tugendhaftigkeit und Belohnung keinerlei Zusammenhang bestand und auch nie bestanden hatte. Doch diese Wahrnehmung war ruhig und direkt und faktisch, und er war in der Lage, gleichmäßig und gelassen darüber nachzudenken, ähnlich wie er vielleicht daran gedacht hätte, Papierservietten einzukaufen.
Das Gefühl der absoluten Unbekümmertheit machte ihm bewusst, wie sehr er sich etwa das ganze letzte Jahr, wenn nicht fast sein ganzes Leben lang gequält hatte. Im Nachhinein hätte er sich diesen Inselrückzug längst gönnen sollen. Im Grunde war Shep ein psychologisches Genie. Alle Menschen sollten ein Pemba haben.
Die milde, laue Sorglosigkeit spendete ihm auf dem größten Teil des Heimwegs noch Trost. Er war natürlich müde, aber es war eine angenehme Erschöpfung, wie nach dem Gerätetraining. Versuchsweise rief er die verschiedensten Themen auf, über die er sich früher echauffiert hatte: Die Alternativsteuer, das niedrige Bildungsniveau und das abgekartete Spiel mit den Beamtenparkplätzen in Lower Manhattan regten in ihm jedoch nur freundliche Gleichgültigkeit. Übertriebene Bauvorschriften kümmerten ihn nicht, der Irak kümmerte ihn nicht. Es kümmerte ihn nicht, ob einer seiner Trupps aus Versehen nassen Zement in den Terrassenabfluss eines Kunden hatte laufen lassen, und es kümmerte ihn nicht, ob sie mit dem Druckluftnagler Mulden in einer Trockenbauwand hinterlassen hatten. Wenn er ganz ehrlich war, in diesem Moment kümmerte es ihn nicht mal, wenn Flicka eines Tages einfach für immer einschlief; das war ein guter Weg, und sie würde ohnehin sterben. Es kümmerte ihn nicht, dass er Carol mit einem Schuldenberg zurückließ, denn sie war eine attraktive, patente Frau, die im Nu einen neuen Ehemann gefunden hätte.
Und den Staat um zwanzig Jahre Steuereinnahmen zu bringen, war die gerissene kleine Aussteigeroption, die ihm vorschwebte, genial gehässig, der ultimative Steuertrick. Er würde sich selbst von der Steuer abziehen. Überhaupt würde es diesen Arschlöchern recht geschehen, wenn die gesamte arbeitende Bevölkerung seines Landes in einem Akt spontanen Widerstands gegen die Staatsgewalt über Nacht seinem Beispiel folgen würde. Wo blieben dann die Absahner? Sie säßen allesamt auf dem Trockenen, diese Wichser. Verdammt, wo sind meine Sklaven, wo bleibt mein Frühstück?
Doch dieses kurzzeitige Gefühl der Genugtuung machte sofort einer tieferen, schläfrigeren Erschöpfung Platz, die viel weitreichender war – er war wie ein Junge inmitten von Spielzeug, dem er entwachsen war, während die anderen Kinder alle noch mit Begeisterung spielten. Bei einem Neunzigjährigen wäre das Gefühl wahrscheinlich die Norm gewesen; wenn ja, sprach es immerhin von Effizienz, dass er schon nach der Hälfte der Zeit an diesem Punkt angelangt war. Es begann am Windsor Place, dessen massige, palastartige Häuser aus den 1920ern er immer bewundert hatte. Auf einmal schien ihm die Arbeit, die es erfordert haben musste, um mit der Laubsäge die Holzschnörkel an der Brüstung der großen, gemauerten Veranden anzufertigen, unbegreiflich; noch unbegreiflicher schien es ihm, dass sich jemand die Mühe machen könnte, dieses eitle architektonische Detail neu zu streichen, zu reparieren oder auszutauschen, und anstatt erneut die geometrische Spitzenverzierung zu bewundern, dachte Jackson: meinetwegen. Und dann dehnte sich in einem schwindelerregenden, wuchtigen Rausch die gleiche schmerzfreie Großzügigkeit auf alles andere aus, ähnlich dieser kleinen Schwelle, die man überschreitet, wenn man seinen Kleiderschrank ausmistet, und anstatt sich über jedes abgelaufene, aber noch tragbare Paar Stiefel den Kopf zu zerbrechen, stellt die Trennung von all dem Plunder, den man ohnehin nie mehr anziehen wird, auf einmal kein Opfer mehr dar, sondern eine Lust. Meinetwegen: nicht nur die sonntäglichen Mittagessen in Bay Ridge, bei denen er vergeblich versucht hatte, seine Eltern damit zu beeindrucken, dass ihr Sohn kein nutzloser Gammler war – er war Shep Knackers rechte Hand, und später gehörte er zum Management –, schon die traditionellen Sonntagsessen, und der Wochentag selbst. Dankesbriefe und heimliches Auftupfen von Soßenflecken; laminierte Päckchen, die man nur mit der Gartenschere aufbekam; nichtkompatible Software. Ramadan, Columbus Day und Picknicks. Nationale Selbstbestimmung, Rezepte für Bananenbrot und amazon.com. Bungeejumping, Selbstmordattentäter und Sichverlieben. Raumstationen, Parda und Geheimratsecken. Demonstrationen gegen Abtreibung, selbst abtauende Kühlschränke und Rocklängen; Wunderbäume, Attentate auf Präsidenten und Retrospektiven zum zehnjährigen Ende der Apartheid. Mikrokredite, Holzwurmbehandlung und Initiativen gegen die Vivisektion. West-Bank-Siedlungen und genmodifizierter Mais; Atomwaffensperrverträge, National Salt Awareness Week und mit Fluor versetztes Trinkwasser. Drogenstaaten, Bettröcke und Vandalismus in Wartehäuschen; Glückszahlen, Lieblingsfarben und Knopfsammlungen. Tribalnarben und die Preisverleihung für das Polka-Album des Jahres; Teezeremonien, kahl geschorene Köpfe und alternative Energie. Spielfilme, die fünfte Änderung und die Wettervorhersage; Arktis-Entdeckungsfahrten, Quotenregelung und Mobilfunkverträge. South-Beach-Diät, Missbrauch gegen ältere Menschen und die Schlacht bei Waterloo; Burkas, Bettgestelle und Familienerbstücke; Einlegesohlen und die Europäische Union. Autobomben, Bruttosozialprodukt, MP3-Spieler und Gore-Tex, Gasknappheiten und Gartentipps: Er hatte die Schnauze voll von all dem Zeug. Von der Menschheit mit ihrem ganzen Scheiß.
ALS JACKSON AN seine Haustür kam, sagte ihm das verriegelte obere Schloss, dass niemand zu Hause war. Heather war bei einem außerschulischen Antidiskriminierungsworkshop, und Carol fuhr Flicka zu ihrer Ernährungstherapeutin.
Ohne besondere Eile schlenderte er hinunter in den Keller. Er zog die Metallkiste hervor, die zwischen den drei pyramidenförmig aufgetürmten Pappkartons versteckt war, in denen sich die reichlichen Überreste von Heathers neu verlegtem Eichenfußboden befanden, die der Hersteller nicht wieder zurückgenommen hatte. Er hatte sich damals bei der Quadratmeterzahl des kleinen Kinderzimmers total verrechnet gehabt und zu viel Holz bestellt. Obwohl die Firma die ungeöffneten Kisten wirklich hätte zurücknehmen müssen, war es ihm nicht mehr begreiflich, weshalb ihn die Bezahlung von überflüssigen Holzbrettern mit Nut-und-Feder-Verbindung im Wert von 500 Dollar derart in Rage gebracht hatte; immerhin war es sein Rechenfehler gewesen. Er hatte in seinem Leben jede Menge Energie verschwendet, und wenn er nur die Klugheit besessen hätte, seinen Zorn in die Hauptleitung zu stecken, hätte er damit das ganze Haus beleuchten können.
Mit einer Drehung jenes Schlüssels, dessen leises Klimpern an seinem Schlüsselbund ihm seit gut einem Monat Auftrieb gab, öffnete er das Vorhängeschloss der Metallkiste und nahm den Inhalt heraus. Selbst Jackson musste den Hut ziehen vor einer Nation, die anstandslos den Erwerb eines solchen Gegenstands ermöglichte – ganz zu schweigen von einer Nation, die seelenruhig zusah, wie er seine Kreditkarte mit weiteren 639,95 Dollar belasten ließ, wo er bereits mehr als die Hälfte vom Wert seines Hauses schuldig war. Aber was soll’s, vielleicht war Amerika ja doch ein freies Land.
Oben in der Küche wühlte er in der Schublade mit den Küchenutensilien. Als er das Gesuchte nicht fand, stellte die aufflammende Wut eine chemische Überraschung dar; in seiner Frustration zog er die Schublade aus den Leisten, und der Inhalt fiel zu Boden. Das Klirren von Küchenspachteln, Schaumlöffeln und Schneebesen zerrte an seinen Nerven, wenngleich das dümmliche Durcheinander aus Knoblauchpresse, Eierbechern, Teeeiern und Julienneschälern zu seinen Füßen eine sinnvolle Erinnerung an sein neues Motto darstellte: meinetwegen. Er war dankbar für die Wiederkehr seiner ruhigen, systematischen Vorgehensweise, als er das Gerät eine Schublade tiefer entdeckte. Dort fand er auch den Messerschärfer. Die meisten hatten keine Ahnung, wie man damit umging, und machten sich ihre Messer kaputt. Nach mehreren Schwüngen in ein und demselben Winkel musste er daran denken, wie oft er selbst den Schliff komplett verdorben hatte, bis er den Bogen raus gehabt hatte mit diesem Ding. Aber inzwischen konnte er damit umgehen, und es war schön, die Fertigkeit rechtzeitig zum nötigen Zeitpunkt entwickelt zu haben.
Stahl: Das war es, was Burdina auf Baskisch bedeutete. Ein Metall, das seinen wahren Charakter darstellte. Auf das Werkzeug bezogen ein Name, der ihm immer zugesagt hatte. Seltsam, es wollte ihm partout nichts einfallen, was er auch nur im Geringsten vermissen könnte, bis auf das ein oder andere Wort – beschlagnahmen. Vielleicht war es eine Schande, dass er sein Buch nie geschrieben hatte. Allein die Titel! Für seine Titel wäre Jackson Burdina zur Legende geworden.
Mit der Logistik war es nicht ganz einfach, und irgendwann entdeckte er, dass er das beste Ergebnis erzielen würde (auch ein Wort, das er mochte, da es seinem pragmatischen Charakter so gut entsprach), wenn er das Schneidebrett auf den Frühstückstisch legte. Jackson schnallte sich den Gürtel auf und spielte mit dem Gedanken, seine Hose ganz auszuziehen, damit sie ihm nicht auf unwürdige Weise um die Fußgelenke hängen würde. Aber derlei Äußerlichkeiten waren nie seine Sorge gewesen. Was er zum Beispiel kochte, war männlich und derb, und er hielt nichts davon, ein Steak mit einer Kugel gefrorener Melonenbutter zu servieren oder den Fisch mit Nelken zu garnieren.
Mit einer Hand zog er und mit der anderen hielt er das Hackmesser in die Höhe, dann ließ er mit einem einzigen sauberen Schlag die Klinge niedersausen, an Hühnerschenkeln lang erprobt. Es hatte eigentlich nicht melodramatisch sein wollen; die Geste war als Versicherung gedacht, als Garantie, dass es kein Zurück gäbe. Dennoch hatte der Anblick dieses knorpeligen, schrumpeligen Gebildes auf dem Schneidebrett etwas eigentümlich Befriedigendes. Rache, dachte er, und dann steckte er sich die Pistole in den Mund und drückte ab.