Kapitel 6

DAS TIMING FÜR das Vorher-Foto-Essen bei Shep war noch schlechter, als Jackson vermutet hatte. In der Nacht war die Frischhaltefolie abgegangen, die sich Flicka abends über die Augen band, um die Vaseline zu versiegeln – er hätte niemals dieses No-Name-Pflaster kaufen sollen –, und am nächsten Morgen waren ihre Augen total entzündet gewesen. Als er für ein paar Stunden aus dem Haus war, hatte sie sich offenbar … nun, »aufgeregt« wäre untertrieben gewesen.

Eine Zeit lang hatte Carol ihn ständig gedrängt, Flicka möglichst nicht in »Stresssituationen« zu bringen, wo doch der bei Weitem größte Stressfaktor ihre Krankheit selbst war. Es störte sie nicht, dass ihr Vater wie üblich maulte, dass jedes vom Gesetzgeber vorgeschlagene, vermeintlich »grüne« Gesetz, etwa die Erhebung von Steuern auf Plastiktüten oder auf den Kohlenstoffdioxidausstoß von Flugzeugen, zufällig nur noch mehr Geld in die Staatskasse brachte. Was sie sehr wohl störte, war, morgens mit verquollenen Augen aufzuwachen und schon vor dem Frühstück eine Bindehautentzündung zu haben. Es störte sie, nicht sprechen zu können, obwohl sie jede Menge zu sagen hatte. Es störte sie, ständig sabbern und schwitzen zu müssen; selbst wenn man ihren Mitschülern eingebläut hatte, sich nicht über sie lustig zu machen, wäre ihr ein wenig ganz normales Schülergefrotzel lieber gewesen als die übertriebene Höflichkeit und die abgewandten Blicke. Sie hatte es satt, alle anderthalb Stunden eine Lösung aus Wasser, Zucker und Salz in ihre PEG-Sonde schütten zu müssen, die ihr nicht annähernd die schnaufende Befriedigung verschaffte, die sie bei ihrer Schwester nach einem großen durstigen Schluck Cola beobachtete. Sie hatte es satt, jeden Morgen und jeden Abend die dicke schwarze »Atemwegsweste« anzuziehen, als müsste sie ihren Schlaf in zwei Lagen Verpackung hüllen.

Flicka hätte dankbar sein können, dass die Weste ihren Eltern ersparte, sich rittlings auf sie zu setzen und ihr mit beiden Fäusten den Rücken zu bearbeiten. Sie hätte auch dankbar sein können, dass sie die Brustraumdrainage aufgegeben hatten, mit der sie als Kind tyrannisiert worden war: der Schlauch, der ihr auf unschöne Weise durch die Nase geschoben wurde, das widerliche Gurgeln und Schlürfen der Pumpe, die groteske Ansammlung von Schleim im Müllbehälter; Jackson hatte immer staunen müssen, wie viel von dem zähen und klebrigen Zeug ihre beiden kleinen Lungenflügel produzierten, und selbst wenn Carol mit gewohnt nüchterner Pflichtschuldigkeit den Auswurf entsorgte, konnte er nicht der Einzige gewesen sein, dem beim Anblick der klumpigen Masse übel wurde. Und auch wenn er selbst dankbar für die inzwischen weniger abstoßende Sekretmobilisierung war, stellte Dankbarkeit für Flicka ein Fremdwort dar. Sie litt unter so vielen Ärgernissen, dass sie ihren Ärger von der Drainage einfach auf etwas anderes übertragen hatte: ihre chronische Verstopfung wegen der vielen Medikamente, die entwürdigenden Einläufe.

Hinzu kam, dass der größte Auslöser einer dysautonomen Krise schlicht und ergreifend die blanke Angst vor der nächsten dysautonomen Krise war.

Die ersten Anzeichen waren wohl in seiner Abwesenheit aufgetreten, während Carol damit beschäftigt war, für das Essen bei den Knackers einen Schokoladenkuchen zu backen. Wie so etwas ablief, wusste er zur Genüge. Flicka hatte mit ihren sechzehn Jahren mehr medizinische Unwürdigkeiten erdulden müssen als die meisten Leute über ein ganzes Leben hinweg, und sie war von Natur aus stoisch. Sicher, sie nörgelte viel, aber wenn sie tatsächlich anfing zu jammern, schrillten bei Carol und ihm die Alarmglocken; »Persönlichkeitsveränderung« und »emotionale Labilität« waren die typischen Anzeichen einer Krise. Das Problem war, dass die meisten Kinder mit Riley-Day-Syndrom – eine ältere Bezeichnung für familiäre Dysautonomie, die eher an ein Popduo erinnerte, das erbauliche Songs im christlichen Radio sang – schon »jammerten«, wenn ihre Schwester den Familiencomputer in Beschlag genommen hatte. Flicka jedoch hatte da eindeutig eine existenzielle Ader. Ihre Persönlichkeit veränderte sich nie allzu sehr. Wenn Flicka doch einmal »labil« wurde, dann war das wesentlich schwerer zu ertragen. Sie begann dann zu »jammern«, dass sie ihr Leben und ihren Körper hasste; dass sie nichts habe, auf das sie sich freuen könne, abgesehen von noch mehr Klinikaufenthalten und der Aussicht, irgendwann im Rollstuhl zu sitzen, und auf die Verschlimmerung ihrer Symptome – auf mal hohen, mal niedrigen Blutdruck, auf chronische Verstopfung, miserablen Gleichgewichtssinn, Hornhautentzündungen, Krampfanfälle.

Schwitzend saß sie in der Küche und »jammerte«, dass sie lieber tot wäre – wobei ihre Sprüche mit den normalen Pubertätsdramen nichts zu tun hatten. Ihr war es ernst. Sie war kein Teenager, der »keinen Begriff vom Tod« hatte; dergleichen war Jackson ohnehin noch nie untergekommen. Wie die meisten Kinder konnte sich Flicka sehr wohl etwas unter dem Tod vorstellen, und an Tagen wie diesem schien ihr das Ende nur allzu reizvoll.

Und tatsächlich, noch draußen auf der Treppe vor der Haustür konnte er das nasale Kreischen seiner Tochter aus dem hintersten Winkel des Hauses hören. (»Nein, ich hab die Scheißweste nicht angehabt, ich hasse diese Scheißweste, ich kann’s nicht mehr hören, wie toll das Leben ist, keine Ahnung, was ihr alle daran so toll findet!« Die kurzen Pausen wurden sicherlich mit Carols üblicherweise beschwichtigenden Worten gefüllt, dass sie so etwas nicht sagen dürfe, dass das Leben ein »kostbares Geschenk« sei, sentimentale Predigten, die die Wut ihrer Tochter eher noch schürten.)

Jackson war selbst noch wacklig auf den Beinen, und seine Sicht war noch leicht verschwommen; er hätte eigentlich nicht Auto fahren dürfen, und er hatte das Verbot des Arztes ignoriert. Das Beruhigungsmittel schien eine nachträglich aufputschende Wirkung zu haben, denn als er drüben auf der 4th Avenue den Wagen volltanken ließ, war ihm das Geplauder mit dem Tankwart selbst für seine Begriffe manisch vorgekommen.

»Warum lasst ihr mich nicht einfach abkratzen? Lohnt sich doch eh nicht!«, heulte Flicka aus der Küche.

Der Tumult, auf den er stieß, bestätigte ihn in seiner Überzeugung, dass er sich verdammt noch mal diese eine Sache wirklich verdient hatte. Oder? Nur diese eine Sache.

»Ich will deine Scheißrühreier nicht!«, keuchte Flicka gerade, als ihr Vater die Küche betrat. »Ich will nicht den ganzen Samstagnachmittag bei dieser Scheißlogopädin sitzen und bei dieser Beschäftigungstherapie und dieser Scheißkrankengymnastik. Ich werd sowieso sterben, also lasst mich lieber fernsehen! Ist doch egal!«

Carol hatte das Mädchen an den Haaren gepackt, um ihr wieder mal ihre künstlichen Tränen zu verabreichen. (Eines der ersten Anzeichen von FD, nämlich, dass das Baby nicht weinen konnte, hatte etwas Zynisches; jeder Säugling mit einer solchen Zukunft vor sich hätte jedes Recht dazu gehabt.) »Lass mich einfach in Ruhe! Lass mich doch einfach in Ruhe draufgehen!«, krächzte Flicka, und dann begann sie zu hyperventilieren.

Es war, zugegeben, nicht immer leicht, die FD-Symptome von den Nebenwirkungen der Medikamente zu unterscheiden; Übelkeit, Schwindel, Tinnitus, Aphthen, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Flatulenz, Ausschläge und Kurzatmigkeit kamen auf beiden Gebieten vor. Doch woran sie bei dieser Episode waren, wurde klarer, als Flicka beim Keuchen zu würgen begann. Dieses schreckliche Würgen konnte man kaum mit ansehen, und irgendwie war es schlimmer als vor der Fundoplikation, wo sie das bisschen, was sie von dem ungewollten Rührei gegessen hatte, in einem dicken Strahl wieder ausgespuckt hätte. Sich richtig zu erbrechen hatte ihr damals zumindest eine gewisse Erleichterung verschafft. Das Würgen jetzt war unaufhörlich und sinnlos, als wollte sich ein winziger Alien mit stumpfen Klauen einen Weg aus ihrem Körper nach draußen bahnen.

»Sie hat eine Krise«, sagte Carol mit grimmiger Miene zu ihrem Mann. Die meisten Ehefrauen würden diese Worte mit melodramatischem Unterton aussprechen; für Carol war es ein kühles klinisches Urteil. »Gott sei Dank bist du wieder da. Halt sie fest.«

Jackson drückte sich seine zappelnde kleine Tochter gegen die Brust. Nachdem er mühsam von hinten mit Knopf und Reißverschluss hantiert hatte, zog Carol ihr die Jeans herunter, tauchte hastig ihren Mittelfinger in Vaseline und schob ihrer Tochter eine kleine, leuchtend orangefarbene Tablette so tief wie möglich in den Anus. Ohne Messung, für die die Zeit gefehlt hatte, war es schwierig einzuschätzen, ob Flickas Blutdruck gestiegen oder gesunken war, aber Carol hatte fachkundig auf niedrig getippt – die Haut des Mädchens war klamm, blass und kalt –, und so verabreichte sie ihr auf die gleiche unhöfliche Weise noch eine rosafarbene Proamatine-Tablette. Flickas ganzes Verdauungssystem hatte sich wahrscheinlich längst ausgeschaltet, und ihr Körper würde nicht mal durch die PEG-Sonde noch Medikamente absorbieren.

»Jetzt denk dran –«, sagte Carol.

»Ja, ja, schon klar«, fuhr Jackson dazwischen. »Wir müssen zusehen, dass sie die nächsten drei Stunden aufrecht sitzen bleibt.« Anerkennung gab es von Carols Seite aus nie. Er wusste ganz genau, wenn sich Flicka nach der Einnahme von Proamatine hinlegte, konnte ihr Blutdruck von knietief bis in den Himmel schießen.

Die ganze Zeit hatte sich Heather sehnsüchtig im Hintergrund gehalten und mit neidischem Blick zugesehen; Jackson fragte sich allmählich, ob sie nicht vielleicht noch dümmer war als angenommen.

Sicherheitshalber führte Carol noch eine zweite Tablette Diazepam ein, und nach wenigen Minuten erfolgte das konvulsivische Würgen in seinen Armen in immer größeren Abständen. Zum Glück hatte Carol Flicka schnell genug mit Valium vollgestopft, um die ganz große Krise – das menschliche Äquivalent zum Computerabsturz – abzuwenden, die auf direktem Wege in die New-York-Methodist-Klinik geführt hätte. Was die Rettungsaktion allerdings kostete, war der Kuchen, der jetzt die Küche mit dem beißenden, gar nicht unangenehmen Duft von verbrannter Schokolade erfüllte.

»TUT MIR LEID, dass der Kuchen nur gekauft ist«, sagte Carol an der Tür. »Aber mit dem Selbstgebackenen gab’s ein kleines Malheur.«

Carol benutzte Flicka niemals als Vorwand, und Jackson bewunderte ihre Disziplin. Es würde auch keiner von beiden erwähnen, wie viel Geld sie der Babysitter kostete. Da Flicka noch immer labil war, hatten sie eigens Wendy Porter angerufen, die ausgebildete Krankenschwester und bezüglich FD auf dem Laufenden war. Sie hätten auch ganz abgesagt, wäre da nicht Flicka gewesen. »Ich mag Glynis«, hatte sie betont, während sie herumstanden und ein Auge darauf hatten, dass sie sich nicht hinlegte. »Sie behandelt mich nie wie einen Vollidioten. Sie fragt mich nach meiner Handysammlung und nicht immer nur nach meiner beschissenen Krankheit. Außerdem kann sie voll gut lästern, was ich immer noch tausendmal besser finde als diese Therapeutenschleimer mit ihrem überzuckerten Getue. Und jetzt ist sie krank. Noch kranker als ich, wenn das überhaupt geht. Sie freut sich doch auf den Abend, und wenn ihr jetzt plötzlich nicht auftaucht, zieht sie das bestimmt total runter. Also wenn ihr extra meinetwegen hier bleibt, dann schluck ich mit Absicht meine Milch falsch und krieg davon ’ne Lungenentzündung, das schwör ich euch.« Es war Erpressung, aber sie tat ihre Wirkung; leere Drohungen waren von Flicka nicht zu erwarten.

Jackson fuhrwerkte in der Küche mit einer Unmenge Alkohol herum – zwei Flaschen Wein und zwei weitere gute Flaschen Sekt –, die einem wenig feierlichen Anlass etwas Festliches geben sollten. Es markierte das Ende einer Ära, die letzte Zusammenkunft ihrer stets redseligen Vierergruppe, die nicht von Einschränkungen im Speiseplan, von Müdigkeit, Schmerzen und enttäuschenden Bluttests gezeichnet sein würde, wobei das Ende jeder Ära eigentlich der Anfang einer neuen war.

Shep hatte die gleiche Maßlosigkeit beim Essen walten lassen. Auf dem Tisch im Wintergarten drängten sich genug Vorspeisen für eine fünfundzwanzigköpfige Gästeschar: Humus, gegrillte Scampispieße, Spargel außerhalb der Spargelsaison und Jakobsmuscheln in Speck; die etwas aus dem Rahmen fallenden Dim-Sum waren eindeutig nur deshalb dabei, damit Glynis’ silberne Essstäbchen zum Einsatz kamen. In den Fenstern standen Teelichter. Glynis kam in einem bodenlangen Samtgewand nach unten, passend zu Carols glitzerndem Cocktailkleid; mit dem Kerzenlicht und der Kleidung der Frauen hatte die Stimmung im Wintergarten etwas von einer Séance oder einer Satansmesse. Als Jackson die Gastgeberin innig in den Arm nahm, sanken seine Finger auf beunruhigende Weise in den Samt; es war eine Menge Stoff und sehr wenig Glynis. Ihre Schulterblätter waren spitz wie Hähnchenflügel. Das war kein Körperumfang, mit dem man sich einer größeren Operation unterzog, und ihm wurde klar, was es mit dem vielen Essen auf sich hatte.

»Du siehst phantastisch aus!«, rief Jackson. Sie bedankte sich mit mädchenhafter Scheu, doch er hatte gelogen. Es war die erste von vielen kommenden Lügen und somit eine weitere Erinnerung, dass der heutige Abend eher einen Anfang markierte als ein Finale. Glynis hatte sich stärker geschminkt als sonst; das Rouge und der volle rote Lippenstift waren wenig überzeugend. Schon jetzt war ihr Gesicht von der Angst vor dem Älterwerden gezeichnet. Dennoch, sie war eine hochgewachsene, hübsche Frau, und besser als jetzt würde sie wahrscheinlich für einige Zeit nicht aussehen. Dass sie vielleicht nie wieder so gut aussehen würde, war ein Gedanke, den Jackson nicht an sich heranlassen wollte.

Sie setzten sich in die Korbstühle, während Shep die Sektgläser holte. Früher, vor sechs Wochen noch, hätte sich Glynis im Gespräch eher zurückgehalten. Ihrer Erfahrung nach hatten knappe Kommentare mehr Gewicht als übertriebene Geschwätzigkeit. Sie gehörte zu den Leuten, die anderen dabei zusahen, wie sie sich in Details verhedderten, um dann mit einer einzigen Bemerkung alles vom Tisch zu fegen und den Wortwechsel zum Abschluss zu bringen. An diesem Abend war ihre Haltung majestätisch, als hielte sie Hof.

Er und Carol waren ängstlich darum besorgt, ihr nicht ins Wort zu fallen, wenn sie den Mund aufmachte. Sie ließen sie Schritt für Schritt die vorgesehene Prozedur am Montagmorgen ausbreiten, obwohl sie dank Shep ja bereits im Bilde waren. Glynis stand im Mittelpunkt, aber es war eine Art von Mittelpunkt, auf die jeder, der nur halbwegs bei Verstand war, gern verzichtet hätte.

»Zumindest hab ich die Gespräche mit Glynis’ Familie hinter mich gebracht«, sagte Shep. »Ihre Mutter einzuweihen war ein Horrortrip.«

»Sie ist so eine Diva«, sagte Glynis. »Ich konnte sie am anderen Ende der Leitung noch hinten in der Küche heulen hören. Ich wusste, dass sie mein Drama sofort für sich vereinnahmen würde. Man könnte meinen, sie hätte Krebs. Es ist ihr sogar gelungen, mir ein schlechtes Gewissen zu machen, weil sie sich jetzt schlecht fühlt. Ist das nicht unfassbar?«

»Aber immerhin«, sagte Carol vorsichtig, »macht sie sich überhaupt Sorgen. Das ist doch schon mal was.«

»Sie macht sich vor allem um sich selbst Sorgen«, sagte Glynis. »Sie wird in ihrer Lesegruppe die Geschichte melken, bis nichts mehr kommt – ja ja, das schreckliche Unrecht, das einem widerfährt, wenn das eigene Kind noch vor den Eltern todkrank wird, und so weiter und so fort. Meine Schwestern dagegen machen alles richtig, schwören hoch und heilig, dass sie mich besuchen kommen, aber vor allem sind sie froh, dass es sie nicht erwischt hat. Wenn ich Glück habe, schickt Ruth mir ein paar Duftkerzen, die sie mal gratis von MasterCard bekommen hat.«

Selbst in den besten Zeiten hatte Glynis etwas Schroffes, und Jackson fragte sich, mit welcher Reaktion ihrer Familie sie überhaupt einverstanden gewesen wäre.

»Und wie haben es die Kinder aufgenommen?«, fragte Carol.

Glynis zuckte sichtlich zusammen.

»Schwierig«, erwiderte Shep behutsam an ihrer Stelle. »Amelia hat geweint. Zach nicht, wobei ich es ihm gewünscht hätte. Ich glaube, er hat sich’s sehr zu Herzen genommen. Ich hätte nie gedacht, dass es möglich wäre, dass sich dieser Junge noch mehr in sich zurückzieht, sich noch mehr in sein Zimmer verkriecht. Ich fürchte, es geht aber doch. Er hat einfach – dicht gemacht. Er hat nicht eine einzige Frage gestellt.«

»Er wusste es schon«, sagte Glynis. »Zumindest, dass irgendwas in der Luft lag. Weil ich so viel geschlafen habe und so verheult aussah. Weil wir so viel miteinander geflüstert haben und immer aufgehört haben zu reden, wenn er reinkam.«

»Ich wette, er hat gedacht, ihr lasst euch scheiden«, sagte Carol.

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Glynis, nahm die Hand ihres Mannes und begegnete seinem Blick. »Shepherd ist sehr lieb gewesen. Sehr offensichtlich lieb.«

»Na ja, ich hoffe doch, dass ein bisschen Zuneigung nicht so selten vorkommt, dass bei Zach gleich die Alarmglocken klingeln!«, sagte Shep und wirkte dankbar und verlegen zugleich. »Die Sache mit dem Zimmer, die der Junge da betreibt … Nanako, unsere neue Empfangsdame, hat erzählt, dass es in Japan Jugendliche gibt, die ihr Zimmer überhaupt nicht mehr verlassen. Wie sagt man noch mal dazu, haikumori? Die Eltern lassen das Essen vor der Tür stehen, sammeln die dreckige Wäsche ein, leeren manchmal die Bettpfanne. Die Kinder reden nicht und kommen nie vor die Tür. Hauptsächlich hocken sie vor ihrem Computer. Das ist da ein Riesenphänomen. Solltest du mal was drüber lesen, Jackson, das ist echt was für dich. Eine ganze Subkultur von Jugendlichen, die sagen, ihr könnt uns mal, wir interessieren uns nicht für euren Scheiß. Und das sind auch keine dysfunktionalen Achtjährigen; viele dieser Verweigerer sind mindestens zwanzig. Nanako meinte, das sei eine Reaktion auf den extremen Konkurrenzdruck in Japan. Die Kinder spielen lieber gar nicht erst mit, als eventuell zu verlieren. Auch eine Art Jenseits – nur überdacht und ohne die Kosten für den Flug.«

Indem er das Gespräch auf Japan brachte, gab Shep den anderen zu verstehen, dass man jetzt getrost auch über andere Dinge reden konnte als die Krankheit. Selbst Glynis wirkte erleichtert.

»Diese hiki-kimchi, oder wie auch immer«, sagte Jackson. »Typischer Fall von frühreifem Absahnertum. Das muss man denen schon lassen, so früh darauf zu kommen, dass man sich nur weigern muss, sich um sich selbst zu kümmern, und schon taucht jemand auf und serviert einem sein Sushi auf dem Silbertablett.«

»Aber die führen ja nun nicht gerade ein beneidenswertes Dasein«, sagte Carol. »Niemand von uns würde sich so etwas für Zach wünschen.«

Die Standhaftigkeit seiner Frau konnte manchmal anstrengend sein. »Hör mal, Shep, ich hab ein bisschen drüber nachgedacht über das Problem, dass meine Titel für meine zukünftigen Leser nicht schmeichelhaft genug sind.« Jackson tauchte ein Dreieck Pita in seinen Humus, um wenigstens den Anschein von Appetit zu erwecken. »Also, wie findest du den hier: Nur weil Sie ein Warmduscher sind und sich von gewieften Füchsen auswringen lassen, macht Sie das nicht gleich zum Charakterschwein.«

Es war eine gute Überleitung.

»Apropos auswringen«, sagte Glynis. »Vor ein paar Tagen war Beryl zu Besuch. Sie wollte doch tatsächlich, dass wir für sie die komplette Anzahlung für eine Eigentumswohnung in Manhattan leisten.«

»Wieso nicht gleich noch ’ne Luxusjacht dazu?«, sagte Jackson. »Großer Gott, die Frau ist wirklich der Mega-Absahner. Ist euch schon mal aufgefallen, wie diese Künstlertypen ständig von uns durchgefüttert werden wollen? Als müssten wir ihnen dankbar sein, dass sie uns armen unkultivierten Neandertalern was Sinnvolles und Schönes bescheren. Er und Beryl waren sich ein Mal begegnet: Öl und Wasser. Sie hielt ihn für einen eiskalten konservativen Irren, er sie für eine hohle scheißliberale Nervensäge. Wann immer das Gespräch auf Sheps Schwester kam, kannte Jackson kein Pardon.

»Aber Schatz«, sagte Carol. »Ich dachte immer, die Absahner wären ›schlauer und mutiger‹. Ich dachte, du bewunderst sie. In dem Fall müsstest du doch zu Beryl aufblicken, oder?«

»Mir sind Leute lieber, die mit einem Mord davonkommen und wissen, dass sie mit einem Mord davongekommen sind. Beryl dagegen spielt sich als Opfer auf, als wäre ihr irgendein schreckliches Unrecht widerfahren. Als bräuchte die Welt noch einen Dokumentarfilm. Die soll mal ihren Fernseher anschalten. Wir können uns kaum retten vor Dokumentarfilmen, und ehrlich gesagt, die meisten langweilen mich zu Tode.«

Als Jackson seinem Gastgeber folgte, um ihm in der Küche zur Hand zu gehen, bemerkte Shep: »Sag mal, ist alles okay mit dir? Du gehst ja so komisch.«

»Ach, Quatsch, ich hab einfach nur beim Fitness ein bisschen zu viel Gas gegeben. Ich hab mir wohl irgendwas gezerrt.« Bei Carol hatte diese Ausrede funktioniert; sie hatte nicht weiter nachgefragt.

ES WAR EIN üppiges Essen mit Braten und diversen Beilagen. Da Jackson sich wegen der Wechselwirkung sorgte, hielt er sich anfangs noch, so gut es ging, beim Wein zurück, aber jedes Mal, wenn er nach dem Glas griff, schien es schon wieder leer zu sein. Irgendwann gab er auf. Es war ein besonderer Abend, und sich auszuschließen wäre kleinlich gewesen. Alle waren jetzt ausgelassener, auch wenn eine gewisse nervöse Spannung zurückblieb: Alle lachten etwas zu bereitwillig, zu laut und zu lange. Aber immer noch besser so, als Trübsal zu blasen.

»Habt ihr den Michael-Jackson-Prozess verfolgt?«, warf Shep in die Runde.

Wieder einmal war der selbst ernannte »King of Pop« bezichtigt worden, auf seiner perversen Kinderranch mit kleinen Jungs gefummelt zu haben. »Klar, die Strafverfolgung macht ’ne Schlammschlacht aus der Sache«, sagte Jackson. »Der wird freigesprochen.«

»Die Einzelheiten habe ich nicht verfolgt«, sagte Carol. »Diese Visage lenkt mich immer derart ab – diese ganzen Gesichtsoperationen. Sein Gesicht ist für mich die eigentliche Geschichte. Er sieht aus, als wäre er unter einen Zug gekommen. Faszinierend.«

»Früher hat man seine Psychoprobleme mit sich selbst ausgemacht«, sagte Shep. »Heutzutage muss man sie der ganzen Welt auf die Nase binden.«

»Ganz meine Meinung«, sagte Glynis. »Heute geht jeder mit seinen Neurosen hausieren. Früher waren wir umgeben von relativ normal aussehenden Menschen, die nach Hause gefahren sind und missmutig in den Spiegel geguckt haben. Jetzt geht man durch die Straßen, und die Frauen haben Brüste wie Zeppeline. Hormongeschwängerte Männer laufen in Push-up-BHs durch die Gegend, und an ihren Nylonstrumpfhosen sieht man, dass sie sich ’ne künstliche Vagina haben machen lassen, total grotesk. Als müsste man in den Albträumen wildfremder Leute leben.«

»Bei Jackson – also, Michael Jackson«, sagte Carol. »Was mir wirklich an die Nieren geht, ist diese Scham. Dass man ihm irgendwie das Gefühl eingeimpft hat, seine schwarze Hautfarbe sei eine Schmach, der man sich entledigen müsse.«

»Im Moment«, sagte Glynis, »habe ich keinerlei Verständnis dafür, dass man sich freiwillig irgendeiner Operation unterzieht, egal, was für eine.«

»Der Typ hat halt Geld«, sagte Jackson. »Wenn er sich ein Gesicht wie Elizabeth Taylor kaufen will, dann soll er doch.«

Alle sahen ihn an, als wären ihm gerade drei Köpfe gewachsen. Er hielt die Hände hoch. »Ich will doch nur sagen, was ist denn dabei, wenn man versucht, irgendwas zu verwirklichen, wovon man träumt.«

»Weil es nicht geht«, sagte Shep.

»So hast du über das Jenseits aber nicht gedacht«, sagte Jackson. »Das wolltest du doch auch verwirklichen.«

»Wir reden hier über Selbstverstümmelung, nicht über einen Umzug in ein neues Haus«, sagte Carol. »Es ist doch wohl klar, dass zum Beispiel jede Operation und jede Hautbleichaktion, der sich ›Wacko-Jacko‹ unterzogen hat, den Mann nur noch mehr ins Unglück gestürzt hat. Jede enttäuschende Nasen-OP ist wieder ein Erinnerung daran, dass er nicht nur seine Hautfarbe hasst und sein Geschlecht, sondern überhaupt sich selbst.«

»Genau wie mit den sexuellen Phantasien«, sagte Glynis. »Ohne jetzt ins Detail gehen zu wollen –«

»Schade!«, sagte Jackson.

»Aber habt ihr jemals versucht, sie auszuleben? Es ist schwierig oder unangenehm und peinlich. Sobald man sie in die Realität überträgt, kriegt man keinen Kick mehr davon. Phantasien funktionieren besser, wenn sie im Kopf bleiben. Wenn man sie in die Welt hinauslässt, sind sie wie eine gruselige, deformierte Nachgeburt. Und Shepherd«, sagte Glynis und hielt inne, um mit ihrer Gabel ein paar grüne Bohnen aufzuspießen, »ich glaube nicht, dass es mit dem Jenseits anders war.«

Jackson befürchtete schon das Schlimmste, aber Shep war es gewohnt, Schläge in die Magengrube einzustecken, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. »Schon möglich« war alles, was sie ihm zu entlocken vermochte, bevor er sie fragte, ob ihr die Mandeln zu den Bohnen schmeckten. Zumindest gab sich Glynis Mühe und aß, und dieser Umstand machte den Mann so ekstatisch glücklich, dass ihn ihre Worte nicht im Geringsten kümmerten.

Erst als sie die Stühle auf den ächzenden Dielen zurückschoben, kam jemand auf Terry Schiavo zu sprechen, die hirntote Patientin aus Florida, deren schlaffes, aufgeschwemmtes Gesicht seit Wochen die Hauptmeldung in sämtlichen Nachrichtensendungen war. Ihr Ehemann wollte ihre Magensonde entfernen lassen, während ihre Eltern darauf beharrten, sie weiterhin künstlich am Leben zu erhalten.

»Diese Filmausschnitte hängen mir vielleicht zum Hals raus«, sagte Jackson. Er lockerte den Unterkiefer und ließ sich ein Rinnsal Spucke übers Kinn laufen, wobei er ein näselndes Blöken ausstieß.

»Hör auf«, sagte Carol. »Das ist respektlos.«

Zu spät ging ihm auf, dass die Imitation allzu sehr an Flicka erinnerte.

»Was mich ärgert, ist, dass die Diskussion nichts mehr mit Terry Schiavo selbst zu tun hat«, sagte Glynis. »Der Ehemann und die Schwiegereltern hassen sich, es geht nur noch darum, wer gewinnt, und das arme Mädchen geht völlig unter in dem ganzen Gerangel. Die könnten sich genauso gut um ein Stück Fleisch zanken.«

»Wenn man sich diese Videoclips von Terri ansieht«, sagte Carol, »scheint mir aber schon, dass da noch jemand zu Hause ist. Die Magensonde zu entfernen wäre Mord.«

»Großer Gott«, sagte Jackson. »Das sind doch nur Reflexe. Wie wenn du eine Seeanemone anpiekst. Nur dass eine Seeanemone noch mehr Hirn hat.«

»Was mich ja fasziniert«, sagte Shep, »an dieser ganzen Öffentlichkeit, schon seit Monaten. Ich hab noch keinen einzigen Fernsehfuzzi darüber spekulieren hören, was es gekostet hat, diese Frau fünfzehn Jahre lang künstlich beatmen zu lassen.«

»Stimmt«, sagte Jackson. »Und wenn man die Anwaltskosten dazuzählt, die Gerichtskosten, die Zeit, die im Parlament damit verschwendet wurde, den Fall zu diskutieren. Diese eine menschliche Topfpflanze in Florida muss Millionen verschluckt haben.«

»Na und?«, sagte Glynis und ließ den Blick entsetzt zwischen ihrem Mann und seinem besten Freund hin und her schweifen.

»Es geht hier um menschliches Leben, Jim!«, sagte Jackson, aber Glynis lächelte nicht.

»Ist das alles, worauf es euch beiden ankommt? Was ein Leben kostet

»Das ist nicht alles, worauf es ankommt«, sagte Shep. Jackson rechnete damit, dass sein Freund zurückrudern würde, doch erstaunlicherweise hielt er an seinem Standpunkt fest. »Aber es spielt eine Rolle. Es kostet ungefähr fünf Dollar pro Kopf, um einem Kind mit Durchfall in Afrika das Leben zu retten. Gut zwei Millionen Kinder auf dem Kontinent scheißen sich buchstäblich zu Tode. Wenn man das ganze Geld nähme, mit dem Terry Schiavo künstlich am Leben erhalten wird – oder was man so Leben nennt –, und es stattdessen nach Afrika tragen würde, dann könnte man dieses Jahr jedes Einzelne dieser Kinder retten.«

»Aber das Geld würde ja nicht nach Afrika getragen, oder?«, sagte Glynis mit wütendem Blick. »Wen würdest du denn noch draufgehen lassen, um Geld zu sparen?«

»Niemanden, Glynis.« Man musste Shep zugutehalten, dass er dem Blick seiner Frau standhielt. »Wie du schon sagtest, das Geld käme nie nach Afrika.«

Carol runzelte die Stirn. »Der Punkt ist doch, wir haben keine Ahnung, was Terry Schiavo womöglich für ein erfülltes Innenleben führt. Träume, Erinnerungen, wie sehr sie weiß, dass ihre Familie da ist, und spürt, dass sie umsorgt wird, selbst wenn sie nicht mit ihnen kommunizieren kann. Ihr Mann hat kein Recht auf so eine selbstherrliche Entscheidung, sie einfach abzuschalten, nur weil er keine Lust mehr hat, sie zu besuchen, und sich in jemand anderes verliebt hat.«

»Carol hat recht«, sagte Glynis. »Man weiß doch nie, wie sehr ein Mensch noch an seinem Leben hängt, auch wenn man der Meinung ist, man selbst würde das niemals aushalten. Vielleicht irrt man sich. Wenn die Alternative gleich null ist, wer weiß schon, was man nicht alles aushalten würde.«

Als er ihr half, den Tisch abzuräumen, staunte Jackson über die eigenartige Richtung, die das Gespräch am Ende genommen hatte. Normalerweise verteilten sich die vier mit ihren Ansichten über aktuelle Themen immer auf die gleiche Weise. Shep und Carol waren sentimental (mitfühlend, wie sie gesagt hätten). Glynis stellte sich üblicherweise auf Jacksons Seite. Sie beide dachten pragmatisch (hartherzig, hätten die anderen beiden gesagt). Wenn Glynis jetzt schon dafür war, eine Frau künstlich am Leben zu erhalten, die älteren Fotos zufolge gar nicht unansehnlich gewesen war und die – wenn sie wüsste, dass sie auf jeder Titelseite quer durch die Nation als verfettete, hirnlose, schwabbelige Schwachsinnige prangte – sich im Grabe umdrehen würde, wenn man ihr denn eines gönnte … Shep musste sich wohl geirrt haben. Krebs veränderte doch den Charakter.

ALS SIE SCHLIESSLICH in der Konditoreitorte herumstocherten, war die Stimmung ernüchtert. Alle schienen sich wieder an den Anlass des Abends zu erinnern; es war nach Mitternacht, und bis zu Glynis’ Operation waren es nur noch anderthalb Tage. Sie brauchte jetzt vermutlich ihren Schlaf. Sie sah müde aus, und Jackson wollte gerade das Abschiedswort sprechen, da ging sie zum Angriff über.

»Jackson, hast du inzwischen noch mal überlegt, mit welchen Produkten du und Shep in den frühen Achtzigern gearbeitet habt?«

»Also, ich hab wirklich darüber nachgedacht, aber …«

»Jackson und ich haben darüber gesprochen, und ich hab dir auch gesagt, dass wir darüber gesprochen haben«, sagte Shep ungewöhnlich gereizt. »Wir sollten dieses Thema lieber lassen.«

»Also, mir macht das jetzt –«

»Aber mir«, sagte Shep.

»Wenn irgendeine Firma euch das angetan hätte«, fuhr Glynis ihre Gäste an, »würdet ihr das Thema einfach lassen

»Wenn du recht hast«, sagte Shep und sprach zweifellos deshalb so ausdruckslos und monoton, um nicht laut zu werden, »dann könnte jeder an diesem Tisch den Fasern ausgesetzt gewesen sein – ich würde mir wünschen, dass wir uns alle in erster Linie darauf konzentrieren, dass du wieder gesund wirst.«

»Wenn ich hinfalle und mir den Kopf aufschlage, ist das eine Sache«, sagte Glynis. »Oder wenn ich mein ganzes Leben lang geraucht hätte und dann Krebs bekäme. Aber das hier ist mir angetan worden. Und zwar von Leuten, die bewusst medizinische Beweise unterschlagen haben. Die tödliche Produkte auf den Markt gebracht haben, um damit Geld zu machen. Diese Leute sollen dafür zahlen.«

Shep blickte seine Gäste betrübt an. Die beide waren gute Freunde von ihm, seit Jahrzehnten, doch es gehörte nicht zu seinen Angewohnheiten, sich in ihrer Gegenwart mit seiner Frau zu streiten. »Ich weiß, es ist ungerecht«, sagte er leise. »Aber am Ende bist du es, die zahlt, Gnu, selbst wenn du den Prozess gewinnst.«

»Wer so sehr auf Geld aus ist, den kann man nur dadurch bestrafen, indem man es ihm wieder wegnimmt«, sagte Glynis. Dafür, dass sie krank und der Abend lang gewesen war, legte sie erstaunlich viel Elan an den Tag, und Jackson gewann einen Einblick in den Reiz ihrer fixen Idee: Sie gab ihr Kraft. »Es gibt eine ganze Gruppe von Anwälten, die auf Mesotheliom spezialisiert sind und im Internet Werbung machen. Sie konzentrieren sich ausschließlich auf Asbest, und sie arbeiten erfolgsabhängig. Es würde uns also keine zehn Cent kosten, falls es das ist, was dir Sorgen macht.«

Jackson sah Shep nur selten mit seiner Selbstbeherrschung kämpfen. Aber er hatte die Kiefer zusammengepresst und hielt sein Besteck wie eine Heugabel. »Ich wiederhole: Die Geschäftsunterlagen aus dieser Zeit sind nicht mehr verfügbar. Ich habe mich bei Pogatchnik erkundigt. Ich habe ausgiebig recherchiert und mich über alle suspekten Materialien schlau gemacht, mit denen wir bei Allrounder gearbeitet haben könnten. Hin und wieder kommt mir ein Markenname irgendwie bekannt vor. Aber ›irgendwie bekannt vorkommen‹ wird keinem Kreuzverhör standhalten. Ich habe keine, Glynis, keine handfesten Beweise, dass ich jemals mit irgendeinem Produkt gearbeitet habe, dessen Hersteller wir vor Gericht bringen können.«

Jackson fragte sich, zum wievielten Mal Shep inzwischen diese Rede hielt. Da Glynis sie auch diesmal nicht zur Kenntnis zu nehmen schien, tippte er auf mehrmals. »Wenn man ein Produkt kauft, und vor allem, wenn man beruflich damit arbeitet, verlässt man sich darauf, dass der Hersteller ein Gewissen hat! So viel Vertrauen muss man haben, dass ein Stück Brot, das man kauft, kein Arsen enthält! Beim Silberschmieden muss ich doch davon ausgehen können, dass ich einen Klumpen Lötmetall erhitzen kann, ohne dass giftige Dämpfe entweichen, oder dass das Stück Silber, das ich in die Beize tauche, nicht explodiert! Ich –«

Und dann hielt sie inne. Ihr Gesicht nahm einen Ausdruck höchster Konzentration an. Sie neigte den Kopf, wandte den Blick ab und runzelte die Stirn.

»Wieso bin ich da eigentlich nicht gleich drauf gekommen«, sagte sie. »Auf der Kunstschule. Die Lötblöcke. Die Schmelztiegel. Die hitzebeständigen Handschuhe. Ich bin mir fast sicher, dass sie … asbesthaltig waren.«

»Fast sicher«, sagte Shep argwöhnisch. Dafür, dass seine Frau gerade im Begriff war, ihre Klage wegen fahrlässiger Tötung zurückzuziehen und ihn ungeschoren davonkommen zu lassen, wirkte er nicht gerade entzückt.

»Na ja, ziemlich sicher. Eigentlich sogar ganz sicher. Wenn ich zurückdenke, weiß ich sogar noch, wie einer meiner Lehrer nebenbei auf das Material zu sprechen kam. Aber als Studentin arbeitet man eben mit dem, was bestellt wird. Man hat eben – Vertrauen.«

»Die Schule kannst du nicht verklagen«, sagte Shep. »Du hast doch erzählt, dass die Saguaro-Kunstschule vor Jahren dichtgemacht hat.«

»Nein, aber fast alle unsere Produkte waren von derselben Firma. Ich habe sie noch genau vor Augen, das kreisförmige Logo auf der Unterseite der Lötblöcke. Die Schmelztiegel kamen in einem Pappkanister mit Metalldeckel, wie bei einer guten Whiskeyflasche, nur breiter und kürzer. Das Etikett war schwarz mit grün. Die Handschuhe: die waren cremefarben mit lila Blümchen und grünen Zweigen und pinkfarben paspeliert. Diese Produkte sind bestimmt nicht mehr auf dem Markt, oder man hat das Asbest rausgenommen, aber die Firma gibt es immer noch, weil ich da erst letztes Jahr noch was bestellt habe.« Selig blickte Glynis gen Himmel wie Maria bei der Verkündigung. »Forge Craft.«

»DAS WAR JA seltsam«, sagte Jackson auf dem Heimweg. Carol, die sich nach einem feierlichen Glas Sekt an Mineralwasser gehalten hatte, saß am Steuer. Sie war es, die sich eigentlich mal ein bisschen hätte gehen lassen sollen, und er hatte ein schlechtes Gewissen, dass seine – nun, ausufernde Art – ihr nur selten dazu die Möglichkeit gab.

»Wieso das?« Sie war deshalb so kühl, weil er ihrer Meinung nach zu viel getrunken hatte. Jetzt musste sie auch noch auf ihn aufpassen, nicht nur auf Flicka.

»Wieso hat sie so lange gebraucht, um darauf zu kommen, dass sie auf der Kunstschule mit Asbest gearbeitet hat? Das geht doch schon seit Wochen. Shep ist durch die Hölle gegangen, weil er angeblich bei Allrounder geschlampt hat.«

»Man vergisst Sachen.« Obwohl auf der I-87 kaum ein Auto unterwegs war, hielt sich Carol an die Höchstgeschwindigkeit.

»Diese Asbestgeschichte hat sich anscheinend für viele Leute als Goldgrube erwiesen.«

»Ich glaube kaum, dass es Glynis auch nur im Geringsten um das Geld geht«, sagte Carol. »Ich bin froh, dass sie jetzt nicht mehr Shep die Schuld in die Schuhe schiebt. Der wird in den nächsten Monaten genug Stress haben, auch ohne dass er sich zu allem Überfluss noch vorwerfen muss, an ihrer Krankheit schuld zu sein. Die Sache mit dem Asbest … gibt ihr einen Sinn. Sie erhebt die Krankheit zu mehr als nur persönlichem Pech; sie macht sie wichtiger als ein normales Unglück ohne jeden Zweck. Es verbindet sie mit der Welt: Geschichte, Politik, Justiz. Mir leuchtet es schon ein, warum sie sich in die Sache so verbeißt.«

Ähnlich wie Shep war Carol keine große Rednerin, aber wenn sie dann doch mal etwas sagte, war es wohlüberlegt. Er wusste auch, was sie meinte. Als sie sich alle vor der Haustür zum Abschied umarmt hatten, kam er sich vor wie an Deck eines Ozeandampfers, während das Schiffshorn geblasen wurde. Es war Zeit für die Nichtpassagiere, sich an Land zu begeben. Als sie aus der Auffahrt zurücksetzten und ihre beiden Freunde noch winkend auf der Veranda standen, sah es aus, als würde sich das Haus aus seiner Vertäuung lösen und in Richtung Horizont zurückziehen.

»Ist ein bisschen wie mit Flicka und der Sache mit dem Judentum«, sagte Jackson.

»Ja, genau.« Carol schien sich auf beunruhigende Weise zu freuen, dass sie sich mal richtig unterhielten. »Wie die Leute in unserer Selbsthilfegruppe … weil nur die Kinder von aschkenasischen Juden von FD betroffen sind, weil das Gen über Generationen weitergegeben wird, haben sie das Gefühl, dass es immer weitergeht mit der Verfolgung des auserwählten Volkes und mit Gottes Prüfungen. Als hätte FD einen tieferen Sinn.« Carol erlaubte sich, ausnahmsweise ein wenig aufs Gas zu gehen. »Was natürlich Quatsch ist.«

Ein unbeteiligter Beobachter wäre nie darauf gekommen, aber Carol war viel mehr Nihilistin als ihr Mann. Sie saß stundenlang dumpf vor dem Computer und machte Marketing für IBM, sie füllte den Luftbefeuchter in Flickas Zimmer, bevor sie eine neue Rolle Frischhaltefolie holte, um die Tochter ins Bett zu bringen, und sie war jahrelang um ein Uhr morgens aufgestanden, um die erste der beiden nächtlichen Dosen Compleat in Flickas Plastikbeutel zu füllen – und zwar ohne das geringste Sendungsbewusstsein. Sie machte einfach, was gemacht werden musste.

WÄHREND ER WENDY in bar bezahlte, sagte sich Jackson, dass sich die Krankenschwester doch gelohnt hatte, denn wundersamerweise waren beide Mädchen schon im Bett. Als er und Carol sich bettfertig machten, wartete er, bis sie sich die Zähne geputzt hatte. Erst dann huschte er selbst ins Bad, wobei er ihre verwunderte Miene sah, als er ihr die Tür vor der Nase zuzog. »Es ist nur zu deinem Besten«, erklärte er ihr durch die Tür. »Muss ganz übel furzen.«

Wie viele Male pro Tag würde er furzen müssen? Das Ganze erwies sich allmählich als unerwartet knifflig, und er fragte sich, ob er seine Strategie genügend durchdacht hatte. Er nutzte den privaten Moment, um einen Blick auf die Sache zu werfen, denn die Sache war inzwischen ein wenig schmerzhaft geworden. Anfangs war er erleichtert gewesen, dass sich die »leichten Beschwerden« in Grenzen hielten; vermutlich aber ließ erst jetzt die örtliche Betäubung nach.

Als er wieder auftauchte, war Carol im Bett, ihre nackten Brüste lagen über der Bettdecke. Für ihre schlanke Figur waren sie ungewöhnlich üppig, es war die Art von Titten, die sich Frauen kaufen wollten, aber nicht kaufen konnten. Die Lektion daraus – man musste glücklich werden mit dem, was man hatte – war keine, die er für sich selbst hätte gelten lassen.

»Was willst du denn mit den Boxershorts?«

»Ach, ich wollt’s dir vorhin schon sagen.« Er hatte es den ganzen Tag geprobt. »Dieser Termin, den ich heute hatte. Ich hab mir anscheinend irgendeine Hautkrankheit geholt, wahrscheinlich im Fitnessstudio. Irgendwelche Mikroben, hat der Hautarzt gemeint.« Den Begriff hatte er am Vorabend in einem Fernsehwerbespot aufgeschnappt. »Ich kann dich anstecken, wenn ich nicht vorsichtig bin.«

»Lass doch mal sehen!«

»Auf keinen Fall! Es sieht ein bisschen eklig aus. Am Ende hast du dann keine Lust mehr.«

Carol ließ sich in die Kissen gleiten. »Als wäre das schon mal vorgekommen.«

Herrgott, was für eine Verschwendung: ihre Brustwarzen wie Kirschen auf zwei Kugeln Eis. Er liebte sie mit offenem Haar und hatte den ganzen Abend schon die Spangen herausziehen wollen. Obwohl ihn die meisten Kerle für einen Glückspilz hielten bei so einer Frau, war Jacksons Begehren immer mit einem nagenden, quälenden Gefühl verbunden. Er fühlte sich ihr nie ganz gewachsen. Selbst nach all den Ehejahren war er immer noch nicht sicher, was sie eigentlich an ihm fand.

»Das ist die andere Sache«, sagte er. »Wir können nicht – für eine Weile. Es dauert relativ lange, bis das Problem wieder behoben ist, meinte der Arzt zumindest.«

»Aber lass mich doch trotzdem mal einen Blick drauf werfen.«

»Du hast doch schon den ganzen Tag Flicka versorgt«, sagte er und ließ sich neben sie ins Bett gleiten, nicht ohne einen diskreten Blick auf seinen Hosenschlitz zu werfen, der dank der Sicherheitsnadel tatsächlich noch geschlossen war. »Du musst jetzt nicht auch noch mich versorgen.«

Die Lüge wegen der Boxershorts machte ihm nicht den geringsten Spaß, aber wahrscheinlich hätte sie kein Verständnis gehabt – wenn er ihr erklärt hätte, dass ein großes Geschenk zunächst verpackt werden musste. Vor allem ein so großes Geschenk.