Kapitel 7

Shepherd Armstrong Knacker
Merrill Lynch Konto-Nr. 934 – 23F917
01. 02. 2005 – 28. 02. 2005
Gesamtnettowert des Portfolios: $ 664 183,22

AM SONNTAG VOR der Operation durfte Glynis keine feste Nahrung zu sich nehmen. Shep hatte aus Solidarität das Gefühl, ebenfalls nichts essen zu dürfen. Peinlicherweise bekam er aber Hunger. Der Kühlschrank war voll mit den Resten vom Abendessen mit Jackson und Carol. Zu fasten und deshalb so viel verkommen zu lassen schien ihm widersinnig. Also wartete er, bis Glynis auf der Toilette war, um dann heimlich den Zeigefinger in den Humus zu stecken.

Zach kam von der Nacht mit seinem Mit-Hikikomori zurück, säbelte sich ein dickes Stück kalten Rinderbraten ab und verschwand umstandslos in seinem Zimmer. Erschöpft und ein Unbehagen ausstrahlend, das sie nicht in Worte fassen wollte, saß Glynis im kleinen Zimmer vor dem Fernseher. Jedes Mal, wenn er nach ihr sah, erinnerte wieder ein Werbespot der Pharmaindustrie an die vielen anderen Leiden, die einen heimzusuchen drohten. Wenn man nicht sofort wegen der Krankheit draufging, so schien es, dann später wegen der Behandlung.

… NICHT FÜR ALLE Patienten gleichermaßen geeignet. Informieren Sie Ihren Arzt im Falle einer allergischen Reaktion, bei der Schwellungen des Gesichts, des Mundbereichs oder der Kehle auftreten sowie bei Atembeschwerden, Ausschlag oder Gürtelrose. Zu den möglichen Nebeneffekten zählen Infektionen der oberen Atemwege, erkältungsähnliche Atembeschwerden, Hals- und Kopfschmerzen … können zu gravierenden Magenbeschwerden und inneren Blutungen führen. Einige Patienten klagen über Übelkeit und Erbrechen, Durchfall, blaue Flecken, Schlafstörungen. Einige Patienten klagen über Muskelkrämpfe, Appetitlosigkeit, Müdigkeit … Informieren Sie Ihren Arzt, wenn Sie unter Fieber oder unerklärlichen Schwächeanfällen oder Verwirrungen leiden … größere Gefahr von Lungenentzündung … kann die Gefahr von Osteoporose und Augenleiden erhöhen … kann die Gefahr von Herzinfarkt oder Schlaganfall erhöhen und zum Tode führen.

BEGLEITET VON GITARRENGEKLIMPER und munteren Flötenkadenzen, wie er sie aus der Kindheit von den alternativen Gottesdiensten seines Vaters kannte, wurden sämtliche Warnungen mit trällernder, grenzdebiler Liebenswürdigkeit vorgetragen – es war derselbe Tonfall, in dem man kleinen Kindern Gutenachtgeschichten über neckische Bären und allzu neugierige Kätzchen erzählt. Unterdessen folgte auf eine Werbung für Pillen gegen hohen Blutdruck eine Werbung für Kartoffelchips mit Salz- und Essiggeschmack, auf eine Werbung für Pillen gegen erhöhten Cholesterinspiegel eine Werbung für Pizza im XL-Format, auf eine Werbung für Medikamente gegen Sodbrennen eine Werbung für die Schweinerippchen einer Restaurantkette. Da er nie auf den Gedanken gekommen wäre, eine Verschwörung hinter dieser Anordnung zu vermuten, nahm er lediglich eine eigentümliche Ausgewogenheit wahr.

Immer wieder versuchte er sich zu trösten. Immer wieder kämpfte er gegen den Impuls an, seiner Frau zu versichern, dass sie mit Bravour durch die Operation kommen werde. Doch von dieser Pseudohellseherei abgesehen, konnte er kaum mehr tun, als Glynis ein weiteres Glas Apfelsaft zu bringen. Das wortreiche Essen vom Vorabend hatte jetzt etwas Unwirkliches. Shep und seine Frau hatten den Tag über kaum ein Wort gewechselt. Lediglich seine warme Hand in ihrem Nacken schien etwas in ihr auszulösen. Dies war eine Zeit des Körpers. Kommunizieren hieß, mit dem Körper zu kommunizeren.

Er wollte ihr nicht sagen, was er dachte. Seine Gedanken waren selbstsüchtig. Es gab zu viel Zeit. Zu viel leeren Raum und erdrückende Stille. Er musste sich unwillkürlich fragen, ob er eine Aussicht hatte, egal wie klein, irgendetwas, auf das er sich freuen konnte.

Er hasste seine Arbeit. Er hasste den Umstand, dass er seine Arbeit hasste; die Firma, die er selbst in die Welt gesetzt hatte, sie zu verabscheuen erschien ihm wie elterlicher Verrat. Er fürchtete das Älterwerden seines Sohnes fast so sehr wie Zach selbst – wobei das alles war, was der Junge in letzter Zeit zu tun schien, er wurde einfach nur älter, nicht klüger oder vernünftiger, nicht entschlossener oder selbstsicherer. Er hatte entsetzliche Angst davor, Forge Craft auf Schadensersatz zu verklagen, wo der Schaden ja schon angerichtet war; die Zivilklage würde nur noch mehr Formulare, Prozeduren und Verzögerungen mit sich bringen, vor denen er sich durch Glynis’ medizinische Situation schon jetzt kaum noch retten konnte. Und auf die bevorstehende Ankunft von Glynis’ Familie aus Arizona freute er sich noch weniger. Er würde sich um sie kümmern, während Glynis genas. Er würde für sie kochen, sie ins Krankenhaus fahren, sie beschäftigen. Die kontrollierte Neutralität, die er jahrelang gegenüber seinen Schwiegereltern gepflegt hatte, würde nicht länger aufrechtzuerhalten sein.

Er versuchte konventionell zu denken und so etwas wie der Hochzeit seiner Tochter freudig entgegenzusehen. Aber Amelia war in der Phase, in der sie zweifellos den falschen Jungen heiraten und ihm dann schnell wieder entwachsen würde. Seinen Toast auf ihrem Hochzeitsempfang stellte er sich gezwungen vor, während er eigentlich bereits ihrer bevorstehenden Scheidung entgegentrauern würde. Er stellte sich die anderen Gäste vor, die sich zynisch an der Bar bedienten und dabei spekulierten, wie lange diese Ehe wohl halten werde. Nachdem er auf Gruppenfotos posiert hatte, sah er sich schon, wie er die Bilder verschämt in irgendeine untere Schublade schob. Die üppigen Blumen welkten vor seinem inneren Auge im Zeitraffertempo. Sie gingen auf den Brautvater nieder wie die göttliche Vision, dass in wenigen Jahren diese beiden rotwangigen und einander treu ergebenen jungen Leute nicht mal mehr in E-Mail-Kontakt stehen würden.

Dennoch, Amelia wäre der Typ, der eine Hochzeit mit allen Schikanen erwartete. Eine moderne Frau, die im Verlauf ihres Leben ohne Weiteres zwei bis drei Mal ungehemmt »bis dass der Tod uns scheidet« aussprach. Sie war ein echtes Mädchen. Kleidung. Sie übertrat jedes Modegesetz ähnlich zielstrebig, wie ihre Mutter sich darüber erhaben fühlte. Ihre aufgekratzte, hektische Feierwut war ziemlich anstrengend. Es machte ihm Sorgen, dass ihre Absicht, in den Zwanzigern so richtig auf den Putz zu hauen, schon jetzt auf einen entsprechenden Pessimismus angesichts ihres Lebens danach deutete. Ebenso, dass sie ihren eigenen Vater als Inbegriff jener bierernsten Erwachsenenwelt sah, von der sie sich unbedingt fernhalten wollte.

Natürlich war er froh, dass sie ihr Studium beendet hatte. Dennoch fragte er sich, ob der Lehrinhalt ihres 200 000 Dollar teuren BA im Fach »Medienwissenschaften« nicht auch mit einem Gratisprobeabo des Atlantic Monthly und einem Pay-TV-Paket des Kulturkanals für einen Fünfziger im Monat zu haben gewesen wäre. Der zweifelhafte Abschluss seiner Tochter allein hatte sein Erspartes aus der Zeit vor dem Verkauf von Allrounder schon erheblich dezimiert. Shep würde nicht unbedingt erwarten, dass sein Vater ihm die komplette Ausbildung finanzierte, aber heutzutage war genau das gang und gäbe; ein Kind hatte das Recht auf eine Universitätsausbildung. Also hätte er sich über die Kosten eigentlich nicht ärgern dürfen, und er ärgerte sich nicht. Doch nach Jahrzehnten der einlagigen Klopapier- und Putenburger-Knauserei nun für seine Sparsamkeit auch noch bestraft zu werden war gelinde gesagt – beunruhigend.

Natürlich sprach er nicht laut aus, dass er Amelias Kleidungsstil – die knappen bauchfreien Tops, das glitzernde Dekolleté – weniger gewagt als vulgär fand. Sie versuchte um jeden Preis als Frau aufzutreten, mit dem Ergebnis, dass sie wie ein Kind wirkte. Folglich sah er die Vision ihrer Hochzeit, wie sie sich mit ihrer klassisch eleganten Mutter in die Haare geriet, die –

Die nicht mehr da sein würde.

Was Glynis anbetraf, hatte er nichts, worauf er sich freuen konnte. Nichts. Man konnte Shep Knacker kaum als penetrant sonniges Gemüt bezeichnen, aber trotz allem war er ein Optimist. Welchem Ereignis ein Optimist allerdings ohne die geringste glaubhafte freudige Aussicht optimistisch entgegensehen sollte, war ihm unklar.

Am Spätnachmittag rief Amelia an. Er war überrascht. So demonstrativ erschüttert, wie sie die Nachricht zu Herzen genommen hatte, hätte sie eigentlich vor dem Eingriff noch mal vorbeikommen müssen. Ihr Vorwand – dass sie für die nächste Ausgabe des Kunstjournals, dessen Mitherausgeberin sie war und das weder Geld einspielte noch eine nennenswerte Auflagenzahl erreichte, das ganze Wochenende durcharbeiten müsse – klang willkürlich. Das aufmunternde Gespräch mit ihrer Mutter war kurz.

Shep nahm sich einen zweiten Scampispieß, den er verstohlen auf dem Weg nach oben aß. Er stand vor der Tür seines Sohnes. Es schien inzwischen zu einer radikalen Geste geworden zu sein, einfach über diese Schwelle zu treten. Sein erstes Klopfen war sanft, fast unhörbar ehrerbietig. Er unternahm einen zweiten Versuch, diesmal lauter. Nachdem er offiziell die Tür geöffnet hatte, stand Zach da und blockierte den Eingang, als wollte ihm sein Vater etwas verkaufen.

»Was dagegen, wenn ich reinkomme?«

Er hatte etwas dagegen. Aber vordergründig war Zach wohlerzogen. Er wich zurück und nahm wieder vor dem Computer Platz. Federnd setzte sich Shep auf die Bettkante, er kam sich ein wenig idiotisch vor mit seinem Bambusstäbchen in der Hand, und ihm war unbehaglich zumute. Weder waren es die Poster der Bands, von denen er noch nie etwas gehört hatte, noch war es die Unordnung. Es war der schlichte Umstand, nicht willkommen zu sein. Kinder schienen sich nie klarzumachen, dass »ihr« Zimmer ein großzügiges Zugeständnis vonseiten der Eltern war, die für das ganze Haus aufkamen. Es war Sheps gesetzliches, moralisches und finanzielles Recht, dieses Zimmer zu betreten, wann immer er wollte. Dann wiederum war da das vage Bewusstsein, dass Kinder kein eigenes Territorium hatten, was vielleicht den Umstand erklärte, warum sie ihre Illusion vom eigenen Territorium so erbittert verteidigten.

»Ich wollte mal hören, ob du irgendwelche Fragen hast«, sagte Shep. »Wie’s jetzt weitergeht.«

»Wieso weitergeht?« Zach machte nicht den Anschein, als hätte er die geringste Ahnung, worauf sein Vater hinauswollte.

Erst Amelia und dann das. »Mit deiner Mutter«, sagte Shep, als müsste er den Jungen daran erinnern, dass er überhaupt eine Mutter hatte.

»Sie wird operiert. Und dann kommt sie nach Hause und muss Medikamente nehmen und verliert ihre Haare und der ganze Scheiß.« Der Wortlaut des Jungen war krude, aber monoton.

»So in etwa sieht’s aus.«

»Was soll ich denn dann noch für Fragen haben«, sagte Zach, mehr Feststellung als Frage: »Läuft doch eh ständig was drüber im Fernsehen.«

»Aber nicht – über alles«, sagte sein Vater matt. Im Unterhaltungsprogramm diente Krebs meist dazu, dass eine Figur, die ihren Zweck erfüllt hatte, höflich wieder vom Bildschirm verschwinden konnte. Krebs verlieh einer Serie, die Gefahr lief, trivial zu wirken, ein wenig Gehalt. Krebs gab der Handlung einen Dreh, von dem sich die anderen Hauptdarsteller in ein bis zwei Episoden – spätestens innerhalb der Staffel – garantiert wieder erholt hatten.

»Und, was wird weggelassen?«

Die Qualen, wollte er sagen. Zeit, wollte er sagen. Geld, wollte er nicht einmal aussprechen, aber auch das. »Das werden wir wohl auf die harte Tour lernen müssen.«

Der Junge war nicht neugierig. Eigentlich hätte er Fragen stellen müssen. Dabei war es nicht so, als hätte Zach keinen Sinn für das Geheimnisvolle, als sei die Welt für ihn bis in den letzten Winkel erforscht und bekannt. Im Gegenteil, das Zubehör seines Lebens strotzte vor Geheimnissen. Der Computer zum Beispiel. Als Shep fünfzehn war, hatte er seine Hausaufgaben auf einer elektrischen Schreibmaschine getippt. Wie genau es funktionierte, dass sich nach dem Anschlagen einer Taste der Arm eines Buchstabens bewegte, hatte er vielleicht nicht vollständig verstanden. Aber immerhin konnte er sehen, wie der Arm hochging, er konnte das spiegelverkehrte dreidimensionale a auf dem Metall sehen. Er konnte den elementaren Vorgang nachvollziehen, mit dem ein in Tinte getauchtes Schreibband angeschlagen und ein schwarzer Abdruck mit einem a auf einem Blatt Papier hinterlassen wurde. Doch wenn Zach ein a tippte, war es Magie. Sein iPod war Magie. Sein Digitalfernsehen war Magie. Das Internet war Magie. Selbst das Auto seines Vaters, diejenige Maschine, durch die man als Junge zum ersten Mal Herrschaft über die Welt erlangte, unterlag inzwischen der Kontrolle eines Computers. Wenn man einer Fehlfunktion auf die Spur kommen wollte, bedeutete das nicht, dass man ölverschmiert am Motor herumschrauben musste. Nein, das Auto wurde beim Händler erneut an einen Computer angeschlossen. Wenn mit dem technischen Mobiliar in Zachs Leben etwas schiefging – und heutzutage hatten Maschinen ja nicht die Gewohnheit, zu spucken, ein komisches Zischen oder leises Quietschen zu entwickeln; entweder sie funktionierten, oder sie gaben den Geist auf –, käme es ihm nie in den Sinn, sie selbst zu reparieren. Dafür gab es Hexenmeister, wobei der Begriff der Reparatur ja selbst obskur geworden war; viel eher würde man losgehen und sich eine neue Maschine kaufen, die wiederum auf magische Weise funktionierte und dann auf magische Weise wieder nicht. Im Kollektiv gewann der Mensch immer mehr Autorität über die Mechanismen des Universums. Die Einzelerfahrung der meisten Menschen jedoch war die einer wachsenden Macht- und Verständnislosigkeit.

In diesem Moment hatte Shep eine erste Ahnung, warum Zach möglicherweise in ausschließlich temporalem Sinne älter zu werden schien. Nichts, was man dem Jungen in der Schule beigebracht hatte, hatte ihn auch nur mit der geringsten Kompetenz über die Mächte ausgestattet, die sein Leben beherrschten. Algebra im zweiten Highschooljahr informierte ihn nicht einmal ansatzweise darüber, was zu tun war, wenn der Breitbandservice ausfiel, außer bei Verizon anzurufen, den Hexenmeistern; sie gab nicht einmal darüber Aufschluss, was »Breitbandservice« überhaupt war, außer der gnadenreiche Zugang zur Magie. Dieses passive, unbeherrschbare Verhältnis zur materiellen Welt würde seinen Sohn permanent in ohnmächtiger, kindlicher Abhängigkeit halten. Also war es völlig einleuchtend, dass Zach über die Behandlung seiner Mutter nichts wissen wollte. Der Hokuspokus der modernen Medizin kam ihm bestimmt ebenso übernatürlich vor wie alles andere.

Übernatürlich? Shep hätte seinem Sohn gern die glatte Membran zwischen den Schichten einer Zwiebel vor Augen geführt. Das, hätte er gesagt, ist das Mesotheliom der Zwiebel. Es wird mühsam sein, aber sie werden nicht zimperlich sein: Sie werden sie aufschneiden wie eine Zwiebel. Und dann, Stück für Stück, alle Fetzen entfernen, die irgendwie seltsam aussehen – die zu fest oder zu schleimig sind oder nicht die richtige Farbe haben. Das Zusammennähen ist nicht viel anders, als wenn wir an Thanksgiving einen Truthahn stopfen. Das hier ist die alte Welt, hätte er am liebsten gesagt. Die Welt der Schreibmaschinen und des halb verfaulten Gemüses, und was mir und deiner Mutter so viel Angst macht, ist nicht, dass es unvorstellbar ist, sondern eben, dass wir es verstehen.

»Ich fände es ganz schön, wenn du deiner Mutter heute Gesellschaft leisten würdest«, sagte Shep. Es war genau so ein Beinahebefehl, wie er sie von seinem eigenen Vater kannte.

»Ich weiß aber nicht, wie«, sagte Zach.

Fast hätte Shep erwidert: Denkst du, ich?, und es war ihm unerklärlich, warum sie offenbar allesamt selbst die rudimentären sozialen Fähigkeiten verloren hatten.

Vermutlich hatte es schon Todkranke gegeben, noch bevor die Spezies Mensch den aufrechten Gang gelernt hatte. Es hätte einen Verhaltenskodex geben müssen, vielleicht sogar einen besonders strengen.

»Sie sitzt ja doch nur vorm Fernseher«, fügte Zach hinzu.

»Dann setz dich dazu.«

»Wir gucken nie dasselbe Zeug.«

»Setz dich dazu und guck das, was sie guckt, und tu zumindest so, als würde es dir Spaß machen.«

Missmutig fuhr sein Sohn den Computer herunter. »Sie weiß doch eh, dass du mich geschickt hast.«

Ja, sie würde es wissen. Und er konnte seinen biegbaren Sohn zwingen, an der Seite seiner Mutter Wache zu halten, aber er konnte ihn nicht zwingen, es auch zu wollen. Im Großen und Ganzen hatte Zach von beiden Eltern das Schlimmste geerbt: den Gehorsam seines Vaters und die Verbitterung seiner Mutter. Eine fatale Kombination. Rebellische Verbitterung brachte einen zumindest weiter – sie führte zur Trotzhaltung, bisweilen dazu, die herrschende Ordnung auf extravagante Weise zu verwerfen. Die gehorsame Variante dagegen brachte nur Missmut und Trägheit hervor.

Shep legte seinem Sohn die Hand auf den Arm. »Die nächsten paar Monate werden für uns alle schwer sein. Deine Mutter wird dich nicht zur Schule fahren können; du wirst mit dem Fahrrad fahren müssen. Du wirst mir beim Saubermachen ein bisschen zur Hand gehen oder auch mal ein Gästebett beziehen müssen. Du musst einfach nur daran denken, egal, wie schwer es für uns ist, für deine Mutter ist es noch viel, viel schwerer.«

Die Rede hätte er sich schenken können. Er spielte den liebenden Vater, anstatt wirklich einer zu sein. Zach war manchmal aufsässig gewesen, wenn es etwa um Dinge ging, die er haben wollte, weil »alle anderen sie auch hatten« – für Shep teurer Schnickschnack, der lediglich die Lücke zwischen dem letzten und dem nächsten Must-have füllte. Zach fand das ständige Sparen seines Vaters für ein »Jenseits« verwirrend, wenn nicht gar verrückt, und er hatte so beharrlich auf einen iPod gedrängt, dass Shep aus Langeweile nachgegeben hatte. Doch in allen anderen Dingen bat der Junge zu selten um etwas. Ein Aspekt der Krankheit seiner Mutter, den er vermutlich von Anfang an registriert hatte, war also, dass die Wichtigkeit dessen, was immer er wollte oder brauchte, soeben von gering auf null herabgestuft worden war.

NACHTS IM BETT hatte sich Glynis eingerollt und von ihm abgewandt, genau wie damals während der Schwangerschaft. Shep kuschelte sich von hinten an sie heran und merkte, dass er ihren Unterleib nicht mehr berühren wollte. Gleichzeitig spürte er, dass er diesem Instinkt widerstehen musste. Er fühlte sich ihr fremd. Es lag nicht an Pemba; es lag nicht an Forge Craft. Es lag daran, dass das, was mit ihr passieren sollte, nicht ihm passieren würde. Er rückte noch näher an sie heran, da bestimmt auch sie spürte, wie distanziert sie beide waren. Doch als er ihr behutsam die Hand auf den Bauch legte, schob sie sie ebenso behutsam wieder weg.

Er hatte das Gefühl, die ganze Nacht wach gelegen zu haben, aber da er sich am nächsten Morgen an seinen Traum erinnern konnte, musste er doch geschlafen haben. Er musste das Dach einer Veranda neu decken, und die Besitzer wollten erst die ursprüngliche Bedeckung entfernen lassen. Es war ein hübsches Dach, offenbar von »guter Bausubstanz«. Darunter lagen mehrere Schichten früherer Bedeckungen, und beim Abziehen der Schichten traten unterschiedliche Muster zutage wie auf den Tapeten, die er als Junge an einer aufgerissenen Stelle neben seinem Kinderbett von der Wand geschält hatte. Als er die letzte dünne Schicht hochzog und das helle Holz dieses stabilen Hauses erwartete, war der Raum unter der letzten Dachpappe schwarz und verfault. Das Holz war von Schimmel befallen. Käfer und Raupen huschten zurück ins Dunkel. Das Gerippe war feucht und zerfiel unter seiner Berührung. Obwohl es von außen solide gewirkt hatte, war das Dach seit Jahren leck. Während er dastand und nach seinen Bauleuten rief, gaben die Balken nach. Alles brach unter ihm zusammen.

DA GLYNIS KEINEN Kaffee trinken durfte, verzichtete auch er darauf, und so waren sie viel zu früh abreisefertig. Er fragte sich, ob er den Kaffee an anderen Tagen eigentlich um des Getränks willen gekocht hatte oder nur, um am Morgen etwas zu tun zu haben.

Es war noch so früh, dass in Richtung Nord-Manhattan wenig Verkehr herrschte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Autofahrten im morgendlichen Dunkel brachte Shep mit Aufregung in Verbindung, einem Flug nach Indien, für den man drei Stunden vorher einchecken musste. Auch jetzt war er aufgeregt, aber es war eine Aufregung, die ihn an Feueralarm, Schneesturm und den elften September erinnerte.

»Das hört sich jetzt wahrscheinlich verrückt an«, begann Glynis; er war dankbar, dass sie redete. »Aber wovor ich am meisten Angst habe, sind die Spritzen.«

Glynis hatte schon ihr Leben lang eine Aversion gegen Spritzen. Wie so viele Aversionen war auch diese dadurch schlimmer geworden, dass sie sich nicht mit ihr auseinandergesetzt hatte. Wenn sie einen Film sahen, in dem sich ein Heroinsüchtiger einen Schuss setzte, wandte sie den Kopf ab, und er musste ihr sagen, wann sie wieder hinschauen konnte. Wenn es in den Nachrichten um neue Medikamente oder Schutzimpfungen ging, verließ sie den Raum. Sie schämte sich zwar dafür, konnte sich aber nie dazu durchringen, Blut zu spenden. Die Fernreisen in Länder, für die sie Choleraimpfungen oder Typhusnachimpfungen brauchten, waren immer ein Drama gewesen. Erst nach Jahren hatte er die Größe ihrer Geste erkannt und wie entschlossen sie tatsächlich war, sich auf seinen Traum einzulassen, indem sie sich seinetwegen einer Injektionsnadel aussetzte.

»Das hab ich mir gedacht«, sagte er. »Das Kontrastmittel für die Tomografien … Wie hast du das hinbekommen?«

»Nur unter größten Mühen. Vor meinem MRI bin ich fast in Ohnmacht gefallen.«

»Aber es gab doch bestimmt auch Blutabnahmen …«

»Stimmt.« Ihr schauderte. »Und es kommen garantiert noch mehr. Bei der Chemo … sitzt man stundenlang da und hat eine Spritze im Arm. Ich darf gar nicht dran denken.«

»Aber du bist doch sonst so stoisch! Weißt du noch, damals, als du dir im Atelier in den Mittelfinger geschnitten hast?«

»Als könnte ich das vergessen. Das war damals, als ich diesen Fräser benutzt habe, der ja schon aussieht wie eine Minikreissäge. Er hatte sich im Silber verfangen und ist mir ausgerutscht. Ich hatte Glück, dass ich mir nicht den halben Finger abgeschnitten habe. Die Fingerspitze ist heute noch taub.«

»Ja, aber du bist völlig ungerührt die Treppe runtergekommen und hast mit leiser Stimme verkündet: Shepherd, allem Anschein nach muss ich ins Krankenhaus, möglicherweise muss ich genäht werden, und ich denke, es wäre keine gute Idee, einhändig zu fahren. So oder so ähnlich jedenfalls. Es klang, als wolltest du mich mal eben zum Supermarkt schicken, weil wir keine Nelken mehr im Haus haben. Deswegen habe ich erst gar nicht gemerkt, dass der Lappen, den du dir um die linke Hand gewickelt hattest, komplett blutverschmiert war. Wirklich beinhart!«

Sie lachte leise in sich hinein. »Ich wette, wenn du genauer hingeschaut hättest, wäre dir aufgefallen, dass ich leichenblass war. Diesen Fräser habe ich nie wieder angefasst. Er liegt in meinem Werkzeugkoffer, und in den Rillen sind immer noch die eingetrocketen Blutflecken.«

»Aber diese Spritzenparanoia. Die wird doch wahrscheinlich nachlassen. Wenn man so was ständig über sich ergehen lassen muss.«

»Bisher jedenfalls nicht. Aber es ist so irrational, Shepherd. Ich werde gleich ausgenommen wie ein Fisch, und alles, an was ich denken kann, ist ein kleiner Stich.«

»Vielleicht«, sagte er vorsichtig, »konzentrierst du dich ja auf die irrationale Angst, um nicht an die rationalen Ängste denken zu müssen.«

Sie legte ihm die Hand auf den Oberschenkel, und die Berührung war ihm so willkommen, dass ihm kalte Schauer über den Rücken liefen. »Du hast zwar nie studiert, mein Schatz. Aber manchmal bist du sehr klug.«

Shep setzte den Wagen in die Spur Richtung Saw Mill River Parkway und staunte, dass sie sich gestern nichts zu sagen gehabt hatten und jetzt offenbar so viel zu sagen hatten und in zu knapper Zeit. Er sah schon, wie diese leere, verschwendete Muße, gefolgt von verzweifeltem, zu spätem Aktionismus, schnell zu einem Muster für ihre Zukunft werden könnte.

»Ich glaube, ich hab dir das noch nie erzählt«, sagte er. »Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich da gesehen habe … vielleicht eine dieser gerichtsmedizinischen Sendungen wie CSI. Ein Team von Pathologen war bei einer Autopsie. Der Gerichtsmediziner sagte, man könne der Leiche ansehen, dass die Frau in ihrem Leben viele Situps gemacht hat. Keine Ahnung, ob die Szene realistisch war, aber seitdem kriege ich sie nicht mehr aus dem Kopf. Die Vorstellung, dass man nach dem Tod feststellen kann, ob jemand ins Fitnessstudio gegangen ist. Beim Fitness habe ich manchmal die Vision, dass ich einen Unfall habe und die Ärzte im Leichenschauhaus meine Bauchmuskulatur bewundern. Ich will für meine vielen Bauchpressen gewürdigt werden, selbst als Leiche.«

Glynis lachte. »Das ist ja lustig. Die meisten Leute machen sich Sorgen, ob ihre Unterwäsche sauber ist.«

»Das ist wohl normal – als Chirurg muss man ja wahrscheinlich alle möglichen Leute operieren, die katastrophal aussehen. Alte Leute, an denen alles runterhängt, dicke Leute, Patienten, die total unsportlich sind. Ich wüsste gern, ob es sie stört, ob sie sich ekeln, oder ob es ihnen egal ist. Aber dein Körper ist so schlank. Perfekt proportioniert und durchtrainiert.«

»In letzter Zeit habe ich ein paar Step-Aerobic-Stunden ausfallen lassen müssen«, sagte sie trocken.

»Nein, lebenslange Selbstachtung – das geht nicht weg. Ich will nur sagen, ich bin etwas eifersüchtig, dass dich jemand so berührt. Dich so ansieht, Teile deines Körpers sieht, die ich niemals sehen werde. Aber ich bin auch stolz. Wenn es ihnen irgendetwas bedeutet, werden diese Ärzte jedenfalls eine schöne Frau operieren, und sie werden sich privilegiert fühlen.«

Während er geradeaus auf die Straße sah, spürte er, wie sie neben ihm lächelte. Sie nahm seine Hand. »Ich glaube nicht, dass Ärzte den menschlichen Körper so sehen wie wir. Und ich weiß auch nicht, ob Organe wirklich ›schön‹ sind. Aber trotzdem lieb von dir.«

Er parkte den Wagen, begleitete sie zum Empfang und war gerührt und erleichtert, dass Glynis ihn offenbar so lange wie möglich dabeihaben wollte. Sie war keine Frau, die bereitwillig ihre Bedürfnisse eingestand. Er füllte die Formulare aus, wobei er mit Freude feststellte, dass er endlich ihre Sozialversicherungsnummer auswendig konnte. Sie unterschrieb die Einverständniserklärung. Sie warteten zusammen. Ihr Schweigen war nicht mehr leer und ohnmächtig. Es war eine dichte Stille, tief und samtig, die Luft zwischen ihnen wie warmes Wasser.

Er stand mit ihr auf, stellte sich den Schwestern vor, legte ihre Sachen zusammen, während sie sich umzog. Dann half er ihr, den Kittel zuzubinden. Dann warteten sie wieder. Er war froh über das Warten; er hätte ewig so weiterwarten können. Endlich traf Dr. Hartness ein. Er war ein drahtiger Mann, der etwas von einem Buchhalter hatte; selbst sein Haar war trocken. Shep saß auf ihrer Bettkante, während der Chirurg in einem leiernden, unbeteiligten Ton, in dem man auch die komplizierte Montageanleitung für ein Mitnahmemöbel vorlas, die Prozedur noch einmal erklärte. Da er inzwischen vertraut war mit der Denkweise à la »Teil A kommt in Schlitz B«, fühlte sich Shep nicht angegriffen, schließlich war es nicht böse gemeint. Trotz der abwertenden Dinge, die man sich über Ärzte erzählte, wirkte dieser hier sympathisch und anständig.

»Bitte«, sagte Glynis, nachdem sich Dr. Hartness verabschiedet hatte. »Wartest du noch, bis ich das Beruhigungsmittel bekommen habe?«

»Natürlich«, sagte er und drehte ihren Kopf weg. »Guck nicht hin. Denk gar nicht drüber nach. Sieh mich an. Sieh mir einfach ganz, ganz tief in die Augen.«

Shep ließ eine Hand auf ihrer Wange ruhen und hielt ihrem Blick stand, wobei er sich alle Mühe geben musste, nicht selbst zu der Anästhesistin hinzuschauen, während sie die Spritze vorbereitete. Und dann sagte er seiner Frau, dass er sie liebe. Die Wirkung der Spritze setzte fast augenblicklich ein, und es sollten die letzten Worte sein, die sie mitbekam.

Er hatte dem gewöhnlichen Satz so viel Gefühl eingehaucht, wie das bei drei Wörtern überhaupt möglich war. Und doch wünschte er, dass die Verwendung dieser Formel qua Konvention eingeschränkt wäre. Eheleute warfen sie sich allzu oft hastig und gedankenlos zum Abschied zu, oder sie wurde leichthin ausgesprochen, um ein alltägliches Telefonat abzuwickeln. Ihm wäre ein Gesetz lieb gewesen, das ein so radikales Bekenntnis auf, sagen wir, drei Mal im Leben beschränkte. Rationierung würde die Aussage vor Entwertung schützen und dafür sorgen, dass sie heilig blieb. Denn hätte er den Satz »Ich liebe dich« wie drei Wünsche zugeteilt bekommen, hätte er einen davon heute morgen ausgesprochen.

Nachdem er auf der Schwesternstation seine Handynummer hinterlassen hatte, trat Shep aus der Lobby auf den Broadway und blinzelte in das gleißend weiße Wintersonnenlicht. Er hatte keinen Gedanken daran verschwendet, wie er den Rest des Tages verbringen würde, abgesehen von der vagen Ambition, sich irgendwo eine Kaffee zu holen. Glynis würde nicht sofort in den OP kommen; nachdem das Beruhigungsmittel wirkte, musste sie unter Vollnarkose gesetzt werden, und dann würde man mindestens vier Stunden operieren. Anschließend würde sie mindestens einen Tag vom Morphium k.o. sein. Wieder sehnte er sich nach einem Verhaltenskodex. Worin lag der Nutzen einer Zivilisation, die nach strenger Etikette im Dezember Grußkarten versandte und die Gabel links neben den Teller legte, aber wenn die eigene Ehefrau unters Messer kam, war jeder auf sich gestellt.

Schon nach einem einzigen café con leche in Washington Heights ging ihm auf, dass es doch ein vorgeschriebenes Verhalten gab. Es war herrlich spezifisch und so eisern, dass man es in die Verfassung hätte meißeln können: Was tat derjenige, der in Amerika einen Job mit Krankenversicherung hatte, wenn die Ehefrau desjenigen schwer krank war? Wenn er häufig von dieser Anstellung ferngeblieben war und wahrscheinlich noch viele weitere Tage fehlen würde? Wenn er ein Arschloch zum Chef hatte? Und wenn sich dann die Ehefrau unters Messer legen musste, und auch sonst zu jeder Gelegenheit?

Er ging zur Arbeit.

JACKSON WIRKTE ÜBERRASCHT, ihn zu sehen, aber nur für einen kurzen Moment; auch Jackson kannte sich in der ungeschriebenen Verfassung gut aus. Innerhalb weniger Minuten nach Sheps Eintreffen kam Mark, der Webdesigner, der Pemba besonders sarkastisch aufgenommen hatte, zu ihm an den Schreibtisch und drückte ihm die Schulter: »Ich denk heut an euch beide, Mann.« Andere Mitarbeiter lächelten aufmunternd, vor allem diejenigen, die schon bei Allrounder dabei gewesen waren – die wenigen, die noch übrig blieben. Selbst Pogatchnik legte eine ungewohnte Sensibilität an den Tag, indem er sich immerhin rar machte. Also hatte Jackson die Belegschaft eingeweiht. Shep hätte es als Affront werten können – sein Kumpel war zu weit gegangen, Jackson hätte wissen müssen, dass sein Freund seine Privatangelegenheiten auf gar keinen Fall nach außen tragen wollte –, er stellte aber stattdessen fest, dass er dankbar war. Er fühlte sich nackt, ungeschützt, sein Inneres war an der Luft, als ob er keine Haut hätte. Aber Jackson hatte es gut gemeint, den Leuten Bescheid zu sagen. Und genauso würde Shep die Aktion auch auffassen.

Am Telefon mit den verärgerten Kunden hätte Shep wütend sein können, hätte sich über die Banalität jeder Klage ärgern können. Doch im Gegenteil, jede schlecht geklebte Linoleumfliese schien eine Rolle zu spielen, alles schien eine Rolle zu spielen. Er war an diesem Morgen dankbar für den kleinsten Akt der Rücksichtnahme vonseiten eines wildfremden Menschen: wie eine Schwester seiner Frau einen Eiswürfel an die aufgesprungene Lippe gehalten hatte. Rücksicht auf wildfremde Menschen schien der passende Ausgleich zu sein. Er ließ die Klagenden reden, zeigte sich betrübt, dass die Kollegen nicht die erwartete Leistung gebracht hatten, und versprach, sich des Problems umgehend anzunehmen. Als eine Frau aus Jackson Heights gegen Randys mexikanische Mitarbeiter wetterte und unterstellte, dass es sich um illegale Arbeiter handelte – womit sie, ehrlich gesagt, wahrscheinlich nicht unrecht hatte –, griff er sie nicht wegen ihrer Engstirnigkeit an, sondern erklärte ihr geduldig, dass die hispanischen Handwerker fleißig und kompetent seien, allein ihr Englisch sei mitunter ein wenig dürftig. Sie verstünden nicht immer, was genau zu tun sei. Er werde dafür sorgen, dass ein Muttersprachler vorbeigeschickt würde, um den Rahmen zu reparieren, bis die Verandatür mit einem anmutigen Klick schließen werde.

Einsam, wie er war, war er froh über die Gesellschaft der Kunden, den Kontakt, die menschlichen Stimmen. Kundenbetreuung als Videospiel: Fokus auf alles, nur nicht auf die Columbia-Presbyterian. Er war sich bewusst, dass er großen Einfluss auf einige Minuten im Leben dieser Kunden hatte – Leben, die sich aus Momenten zusammensetzten und nur aus Momenten. Im Alleingang war er in der Lage, vielleicht fünf Minuten ihres Tages zu retten. Und das war doch schon etwas.

Er arbeitete die Mittagspause durch und rief um zwei Uhr nachmittags im Krankenhaus an. Sie war noch immer im OP. Er rief um drei an. Sie war noch immer im OP. Genauso um vier. Er sagte sich, es sei gut, dass die Ärzte so gründlich waren. Dennoch war es eine sehr lange Zeit, um mit geöffnetem Körper dazuliegen, mit demjenigen Teil seines Körpers, über den man nie nachdachte, über den man nicht nachdenken wollte, den man in seiner Glückseligkeit für selbstverständlich hielt. Inzwischen gelang es nicht mal mehr den Kunden, ihn mit ihren Beschwerden abzulenken, und mehr als einmal musste er einen Hauseigentümer bitten, das Problem, die Anschrift, das Datum der Reparatur zu wiederholen.

Da Glynis fast doppelt so lange operiert wurde wie vorgesehen, konnte Shep einen vollen Arbeitstag einlegen – was bei der dünnen Rettungslinie zu seiner Versicherung wichtig war, auch wenn es nicht wichtig hätte sein dürfen. Als er endlich Dr. Hartness am Telefon hatte, war es fast sechs. Jackson hielt sich in der Nähe von Sheps Schreibtisch auf und hörte offensichtlich mit.

»Na ja, das ist ja schon mal was … verstehe. Und was ist das genau? … Und das bedeutet? … Nein, mir wär’s lieber, wenn Sie ehrlich sind … Hätte es denn irgendeinen Sinn, heute Abend noch …? Nein, das mach ich schon selbst. Besser, wenn ich es ihr sage … Dr. Hartness? Sie haben sehr hart gearbeitet und sehr lang. Sie sind bestimmt erschöpft. Danke, dass Sie sich solche Mühe gegeben haben, meiner Frau das Leben zu retten.«

Als Shep den Hörer auflegte, sah er an Jacksons entsetztem Gesicht, dass sein letzter Satz leicht fehlinterpretiert werden konnte. »Ihre Vitalparameter sind gut, sie schläft jetzt«, beruhigte Shep seinen Freund. »Aber …« Er musste daran denken, wie Glynis mit der Hand in diesem bluttriefenden Lappen die Treppe runtergekommen war, und an ihren ruhigen Ton. Auch jetzt war Sachlichkeit gefragt.

»Es war schlimmer, als sie erwartet haben. Sie haben eine sogenannte ›biphasische Stelle‹ gefunden. Epitheloide Zellen, aber vermischt mit sarkomatoiden. Wie marmorierte Eiscreme, hat er gesagt. Bei der Biopsie war das übersehen worden. Die sarkomatoiden Zellen sind verdammt übel, und anscheinend bringt einen die reine Chemo da nicht weiter. Sie haben alles erwischt, was sie erwischen konnten, was aber nicht heißt, dass sie alles erwischt haben und dann haben sie sie wieder zugenäht.«

»Das ist aber – schlimm«, murmelte Jackson.

»Ja, das ist schlimm.«

SHEP SOLLTE AN jenem Abend noch jede Menge Übung darin bekommen, diese Zusammenfassung zu wiederholen. Er fuhr nach Hause und sprach zuerst mit seinem Sohn. Zach hatte nur eine Frage. »Kommt drauf an, wie sie auf die Chemo reagiert«, sagte sein Vater ausweichend. Davon wollte Zach nichts hören. Er wollte eine Zahl hören. Wenn der Junge es also genau wissen wollte, bitte schön. Er nahm die Information auf wie ein Tümpel einen Stein: es machte leise Blubb, und Shep sah, wie seine Worte aus dem Blick verschwanden, zu sinken begannen und dumpf auf dem Grund aufschlugen. Der Junge wirkte nicht schockiert. Sein Vater fragte sich, in was für einer furchtbaren Welt Zach sich aufhielt, wo selbst Informationen wie diese normal oder gar vorauszusehen waren.

Zumindest würden die beiden von nun an in ein und demselben Universum leben. Es war ein Universum, das aus den Fugen geraten war. Eine Aufgabe, die Kinder erfüllen und die Shep bislang nicht zu würdigen gewusst hatte: Wenn der Ehefrau etwas Schreckliches widerfährt, widerfährt auch ihnen etwas Schreckliches. Man teilt das Schreckliche, das für den unbeteiligten Beobachter lediglich nach Pech aussieht. Dieses Ledigliche, das er manchmal bei anderen wahrnahm, war unerträglich geworden, weswegen er bis heute im Büro jedes Gespräch über Glynis’ Krankheit vermieden hatte.

Unerhörterweise aßen sie zusammen. Zach bot seinem Vater an, zusammen fernzusehen, was noch viel unerhörter war. Shep entschuldigte sich, aber er müsse ein paar Telefonate führen. Beim gemeinsamen Geschirrspülen freute er sich, dass trotz seiner gutmütigen Erlaubnis sein Sohn den Springbrunnen über der Spüle nicht abschalten wollte.

Er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Er stellte auf dem Computer eine Liste der zu benachrichtigenden Personen zusammen. Die Liste würde er noch brauchen, für andere Wendepunkte, andere Mitteilungen, und er wollte sich nicht eingestehen, gestand sich dann aber doch ein, für welche Mitteilung die Liste am Ende gut wäre. Er schrieb aus dem Adressbuch seiner Frau Handynummern und Festnetznummern ab. Er trennte die Kontakte in »Familie«, »enge Freunde« und »weniger enge Freunde«, und während er diesen und jenen in letztere Kategorie einordnete, dachte er, wie gekränkt einige dieser Leute durch die Zuordnung wären. Er war geneigt, unter »enge Freunde« nur diejenigen Weggefährten zu verbuchen, die am Samstag daran gedacht hatten, anzurufen und alles Gute zu wünschen.

Er ging bei der Auswahl systematisch vor. Zum schwersten Anruf zwang er sich zuerst: Amelia. Er war zögerlich, wenig prägnant, und immer wieder fiel sie ihm ins Wort: »Aber es ist doch alles okay mit ihr, oder? Sie hat’s doch gut überstanden, oder?« Er telefonierte länger, als er eigentlich vorgehabt hatte, er wollte sichergehen, dass sie wirklich verstanden hatte, bis ihm schließlich aufging, dass sie von Anfang an allzu gut verstanden hatte und nur darauf wartete, etwas anderes zu hören. Seine Tochter zum Auflegen zu bewegen war eine ähnliche Tortur wie das Zubettbringen früher, als sie noch ein Kind gewesen war und sich um seine Wade klammerte und er ihre kleinen Finger regelrecht von seinem Hosenbein hatte losreißen müssen.

Aber bald schon ging ihm die Bekanntgabe der Einzelheiten leichter von den Lippen: »… ›biphasisch‹, das heißt, weniger aggressive epitheloide Zellen sind vermischt mit den eher …« Seine Stimme war ruhig. Wenn der gemessene Tonfall als Mangel an echtem Gefühl fehlinterpretiert wurde, war es ihm egal. Drängte man ihn nach einer Prognose, verlegte er sich auf den Ausdruck »ein weniger optimistisches Resultat«, in dem immerhin noch das Wort optimistisch vorkam. Alle hatten Internet; wenn sie es denn wirklich wissen wollten, konnten sie denn nachsehen. Das gehörte jetzt zu seinen Aufgaben: Informationen verteilen, Besuche orchestrieren, Glynis vor Besuchen schützen. Ab jetzt würde er nebenberuflich als Eventmanager und Firmenleiter in Personalunion fungieren. Er stellte fest, dass er denjenigen instinktiv misstraute, die sich in Mitleid ergingen und anboten, dass sie »irgendwie« helfen könnten. Seiner Erfahrung nach waren Leute, die ihre Gefühle am besten zu artikulieren wussten, am wenigsten dazu geneigt, sie auch in einer anderen Form als in Worten auszudrücken. Beryl zum Beispiel war besonders eloquent und setzte zu übertriebenen und unglaubwürdigen Reminiszenzen an über die großartigen Zeiten mit den beiden. Sie besang den Charakter derjenigen Frau, die ihr so unsympathisch war. Vor lauter Verlegenheit hatte er ihr schließlich das Wort abgeschnitten und erklärt, dass er noch einige Telefonate zu führen habe. Sein Vater sagte nur, er wolle »für die ganze Familie beten«. Während Shep oft wenig Geduld hatte mit abgedroschenen christlichen Phrasen, bewunderte er diesmal die Religion, die ein Idiom für gute Wünsche lieferte und dabei sowohl aufrichtig klang als auch kurz und bündig war.

Die Grenzen des Verbalen lernte er immer mehr zu schätzen. Je schlechter es Glynis ging, desto mehr kam es nicht auf betroffenes Gerede an, sondern darauf, eine Hand auf der Schulter zu spüren, ein aufgeschütteltes Kissen, darauf , dass man die Fernbedienung vom Tisch oder eine Tasse Kamillentee gereicht bekam. Insofern rührten ihn Schweigen, Seufzer, fühlbare Unbeholfenheit am Telefon weitaus stärker an. Ebenso Leute wie Nancy, eine begeisterte Nutzerin des Amway-Versandhandels, mit der Glynis fast nichts gemein hatte, sollte man zumindest glauben. Zu der deprimierenden Entdeckung bei der OP hatte Nancy ehrlich nichts zu sagen, und sie versuchte es gar nicht erst. Zudem bot Nancy auch nicht ganz unbestimmt »Hilfe« an, die er ohnehin nie in Anspruch genommen hätte. Sie erkundigte sich, wann Glynis Besuchszeit habe, wann sie wieder feste Nahrung zu sich nehmen könne und ob Glynis selbst gebackene Buttermilchplätzchen möge. Am Wochenende brachte sie einen Broccoli-Käse-Auflauf, den er und Zach am Abend zusammen verputzt hatten. Schon jetzt hatte Shep das Gefühl, dass die Leute, die man für »enge Freunde« gehalten hatte, nicht notwendigerweise dieselben Leute waren, auf die man sich verlassen konnte.

Zu seiner eigenen Überraschung schlief Shep wie ein Stein. Er schämte sich deswegen, aber er war froh, allein im Bett zu schlafen. Die Einfachheit dessen, die anspruchslose Weite des leeren Bettzeugs. Ihm war gar nicht klar gewesen, wie anstrengend der andere Körper neben ihm gewesen war, der von innen jeden Tag etwas mehr verfaulte. Die Energie, die es ihn kostete, sie nicht beschützen zu können. Wer hätte gedacht, dass etwas, das man nicht tun konnte und deshalb auch nicht tat, überhaupt Energie kosten konnte, aber genau so war es.

AM ÜBERNÄCHSTEN MORGEN hatte Sheps Beklommenheit vor der ersten Begegnung mit seiner Frau durchaus etwas von seiner Furcht vor ihrer Rückkehr am Pemba-Abend, dieser spezielle Horror, jemandem etwas sagen zu müssen, das er nicht hören wollte. Verrückter noch war seine Nervosität, dass man sie bei dem Herumgeschnipsel verändert, ihr etwas entfernt oder etwas in sie eingeführt haben könnte, sodass er sie nicht wiedererkennen würde.

Andererseits aber war die Beklommenheit nicht völlig aus der Luft gegriffen. Er wusste nicht, was Charakter war oder wie stark die Strapazen sein mussten, bis ein Charakter in sich zusammenfiel und zu etwas Neuem wurde, das keinerlei Ähnlichkeit hatte mit derjenigen Person, die »Familie«, »enge Freunde« und selbst die »weniger engen Freunde« gekannt zu haben glaubten. Es war sogar möglich, dass der »Charakter« und seine oberflächlichere Cousine »Persönlichkeit« nur Nettigkeiten waren, eine dekorative Gefälligkeit der Gesunden, eine willkürliche Belustigung wie Bowling, die sich kranke Menschen nicht leisten konnten. Angesichts seiner eigenen robusten Konstitution war er gezwungen, sich auf lächerliche Kleinigkeiten wie Schnupfen oder Grippe rückzubeziehen. Er dachte an die bleiche Gesichtsfarbe, den lästigen blechernen Klang von Vogelgezwitscher und Musik, die beunruhigende Sinnlosigkeit jedes Unterfangens, wenn er sich krank fühlte, als ob er selbst immer noch derselbe und seine Umwelt dagegen aber krank geworden wäre. Seine Lebensgeister erschlafften, sein Appetit erschlaffte. Indem er einen minimalen toxischen Virus hinzufügte wie einen Schuss Zitrone in eine Tasse Milch, wurde aus einem vitalen, gut gelaunten Mann ein bitterer und teilnahmsloser Quälgeist. So viel zur Haltbarkeit von »Charakter«. Diesen Effekt mal tausend genommen, und dann war es kein Wunder, dass er vor dem, was ihn auf der Intensivstation der Columbia-Presbyterian erwartete, Angst bekam.

Shep war bestimmt nicht der Einzige, der Krankenhäuser hasste und selbst beim Besuch eines geliebten Menschen gegen seinen Fluchtinstinkt ankämpfen musste. Ihn störten nicht nur die Gerüche, er versuchte nicht lediglich aus einem biologischen Impuls heraus, die Krankheit zu meiden. In identischen flatternden und am Rücken aufklaffenden Kitteln wurden die Patienten auf der ganzen Etage allem beraubt, was sie von außen unterscheidbar – erfolgreich, interessant oder nützlich – machte. Indem sie Flüssigkeiten, Medikamente und Nährstoffe aufnahmen, produzierten sie im Gegenzug nichts als Ausscheidungen und waren allen gleichermaßen eine Last. Warf man in den Krankenzimmern einen Blick auf die schlafenden Klumpen, die auf die flimmernden Fernseher gerichteten, ausdruckslosen Gesichter, gewann man den Eindruck, dass diese Leute allesamt nicht gleich wichtig, sondern gleich unwichtig waren.

Nichtsdestotrotz rührte es ihn an, dass sie alle zur Behandlung zugelassen wurden, der Wachmann vom Waschsalon ebenso wie der Dirigent der Philharmonie. Er hatte Vertrauen, dass man dem Waschsalonmann, egal, wie dumpf oder griesgrämig er war, nicht weniger Sorgfalt und Zuwendung angedeihen ließ als dem Maestro. Es mussten an die fünfzehn Jahre her sein, da hatte Shep in Sheepshead Bay einen Baum gestutzt; die Kettensäge war ihm ausgerutscht und hatte ihn am unteren Nacken erwischt, ähnlich wie der Fräser, den sich Glynis in den Finger gejagt hatte, nur in größerem Ausmaß und in unmittelbarer Nähe der Halsschlagader. Es hatte wahnsinnig geblutet. Er hatte noch immer die Narbe. Woran er sich vor allem erinnerte, war seine Verblüffung. Wildfremde Menschen waren herbeigeeilt, um ihm saubere Handtücher gegen die Wunde zu pressen, andere wildfremde Menschen hatten behutsam seinen blutenden Körper auf eine Bahre gelegt. Er hatte eine pragmatische Seite, und so gesehen hätte es ihm absolut eingeleuchtet, wenn man beim Einchecken in eine Klinik nicht nur gefragt wurde, welche Medikamente man nahm und ob man gegen Penicillin allergisch sei, sondern auch nach der Höhe seines IQ und ob man in der Lage sei, ein zehnstöckiges Haus mit Eigentumswohnungen zu bauen; wie viele Sprachen man spreche und wann man das letzte Mal etwas Gutes getan habe: ob man zu etwas zu gebrauchen sei. Stattdessen wurden wunderlicherweise alle Register gezogen, damit man aufhörte zu bluten, selbst wenn man niemandem auf Erden auch nur den geringsten Nutzen brachte.

Mit diversen Schläuchen, die unter der Bettdecke hervorschauten, nahm Glynis so wenig Platz unter dem Bettzeug ein wie ein Kind. Sie sah aus wie ein Sack, wie etwas, das jemand weggeworfen hatte. Dr. Hartness zufolge hatte man in der vorigen Nacht allmählich ihre Morphiuminfusion reduziert und ihr den Schlauch aus der Nase entfernt. Der Chirurg hatte ihn vorgewarnt, dass sie beim Aufwachen groggy und desorientiert sein würde. Sie war aschfahl im Gesicht und schien zu dösen. Er betrachtete seine Frau, und zum ersten Mal blieb seine Verwunderung darüber aus, dass sie schon fünfzig war.

Shep zog einen Stuhl an ihr Bett, wobei er vorsichtig war, um nicht mit den Stuhlbeinen über den Fußboden zu quietschen. Er setzte sich auf die Stuhlkante. Nur eine Fahrstuhlfahrt vom belebten Broadway entfernt, war dies eine fremde Welt der Stasis, in der minimale Freuden in der Erwartung fast immer attraktiver waren als in der Wirklichkeit – ein Schluck Ananassaft, der Dienstagspudding mit Erdbeersoße, ein Besucher mit Blumen, deren penetrant süßer Duft einem empfindlichen Magen am Ende gar nicht guttun würde. Eine Welt, in der Vergessen das Nirwana war, wo einem die Hoffnung auf Schmerzfreiheit niemals vergönnt war, allenfalls auf ein Nachlassen des Schmerzes. Shep wollte so sehr nicht hier sein, dass es war, als wäre er tatsächlich nicht hier. Er sehnte sich danach, diese Schläuche mit einem mächtigen Schwert zu durchtrennen, ähnlich wie er in einem Verlies die Ketten seiner Geliebten durchschlagen würde, um sie mit ihrem schleppenden Gewand auf seine Arme zu heben und zurück in die helle, tosende, frenetische Welt der Taxis, Hotdogs, Junkies und dominikanischen Pfandleiher zu tragen, wo er die nackten rosa Füße seiner Dame auf den kalten Asphalt aufsetzen und sie wieder ein Mensch werden würde.

Als er ihre schlauchfreie Hand nahm und in seiner wärmte, ließ sie den Kopf von der abgewandten Seite des Kopfkissens herumrollen und sah ihn an. Ihre Augenlider bewegten sich. Schwerfällig befeuchtete sie die Lippen und schluckte. »Shepheeerd.«

Ihre Kehle war aufgeraut von der Intubation, und sie sprach seinen Namen mit einem Krächzen aus, mit einem tiefen erotischen Schnurren, das ihn immer schon angerührt hatte, selbst wenn sie mit ihm schimpfte. Jetzt erst schlug sie die Augen richtig auf, und er erkannte seine Frau.

Es war Glynis, auch wenn sie nicht richtig da war. Sie war auf einer langen Reise gewesen und war noch nicht vollständig zurückgekehrt.

»Wie fühlst du dich?«

»Schwer … und gleichzeitig leicht.« Sie klang etwas betrunken, es fiel ihr offenbar schwer, die Lippen zu bewegen. Er hätte ihr so gern ein Glas Wasser gegeben, aber er durfte nicht. Nichts durch den Mund, bis der Darm wieder funktionierte. »Wunder mich«, glaubte er sie sagen zu hören, wobei sie den Blick über die Zimmerdecke gleiten ließ. »Alles so unglaublich.«

Tja, offenbar sah das Zimmer für sie anders aus als für ihn. »Versuch mal, nicht so viel zu reden.«

»Die Träume – sind so echt. So lang und kompliziert. Irgendwas mit einer silbernen Krone. Die wurde mir geklaut, und du hast mir geholfen, mich zu rächen –«

»Schh. Kannst du mir später erzählen.« Später würde sie sich nicht erinnern. »Weißt du, wo du bist? Erinnerst du dich, was passiert ist und warum du hier bist?«

Glynis holte tief Luft, und beim Ausatmen klappte irgendetwas zusammen. Sie sank in ihre Matratze. »Schon ewig nicht mehr.« Jetzt war ihre Stimme nur noch ein Krächzen, kein Schnurren mehr. »Es war so schön, als würde die Zeit rückwärts laufen. Aber sie kam mir entgegen. Wer hätte gedacht, dass man vergessen kann, dass man Krebs hat. Aber es geht, und sofort ist alles ganz weich. Und dann kommt die Erinnerung wieder, und das ist das Schreckliche daran. Als müsste man alles noch mal von vorne durchmachen.«

»Und schon wieder allein«, sagte er. »Du hättest dir niemals allein deine Diagnose stellen lassen dürfen, Gnu. Ich hätte dabei sein müssen.«

»Egal. Man ist sowieso allein.«

»Nein, das bist du nicht.« Doch, sie war es.

»Operation. Keine Sorge, ich versteh schon, so neben der Spur bin ich nicht. Das war der eine Trost, als ich mich wieder erinnern konnte.« Noch eine schwere Schluckbewegung. »Weil ich mich auch erinnern konnte, dass sie’s rausgekratzt haben.«

Nicht alles, längst nicht alles wäre wohl keine therapeutisch sinnvolle Antwort gewesen. Dennoch war sie zurechnungsfähiger, als er gedacht hätte, nur leicht benebelt, und er hatte dem Doktor versprochen, dass er es ihr sagen würde. Der Arzt wollte am späten Vormittag vorbeikommen und selbst mit ihr sprechen. Wenn Shep ihr die Nachricht beibringen wollte – schonend war das gebräuchliche Adverb, wobei es an dieser Nachricht nichts Schonendes gab –, würde er es jetzt bei diesem Besuch tun müssen.

»Gnu, die Operation ist sehr gut verlaufen. Dein Zustand ist wieder stabil, und du kommst gerade wieder zu Kräften. Es gab keine Komplikationen. Oder, vielmehr, eine Komplikation gibt es. Das heißt, sie haben da was … gefunden.« Es war derselbe Text, den er immer wieder am Telefon geübt hatte. Ein weniger optimistisches Ergebnis. Derselbe Satz.

»Keine Ausgänge«, war alles, was sie sagte, als er geendet hatte. »Gott sei Dank. Nichts, was ich Flicka ins Gesicht gesagt hätte, aber vor diesem Plastikausgießer habe ich mich immer gegruselt. Als wäre man halb Mensch und halb … Kaffeesahnebehälter.«

Er zwinkerte. Es war, als hätte sie ihn nicht gehört. »Hast du alles verstanden, was ich dir gerade gesagt habe?«

»Ja, ja.« Sie klang verärgert. »Andere Zellen, keine Ausgänge, Chemo. Chemo wollten wir ja sowieso machen.«

Die Botschaft war überhaupt nicht angekommen. Vielleicht lag es am Morphium.

Shep hatte sich den Vormittag freigenommen und blieb noch, um auf den Arzt zu warten. Hartness verspätete sich, und Shep gab sich alle Mühe, nicht wütend zu werden auf den Mann, der sich im Namen seiner Frau so ins Zeug gelegt hatte. Dennoch, zwei Stunden mehr würden ihn einen Teil seiner Nachmittagsschicht kosten. Er konnte es sich nicht leisten, so viele ganze Tage zu fehlen. Das Gespräch aufrechtzuerhalten war schwierig, und nachdem Glynis eingenickt war, wurde ihm ein schrecklicher Kaffee gebracht, den er gar nicht haben wollte. Schließlich schlenderte der Arzt herein, und Shep konnte von außen noch einmal dasselbe Drama verfolgen, dieselbe Erwähnung der biphasischen Zellen, dieselbe fehlende Kenntnisnahme vonseiten Glynis’ – keine Enttäuschung, keine Fragen, keine Tränen.

Dr. Hartness ging rasch zum Appell über. »Aber glauben Sie ja nicht, dass wir jetzt das Handtuch werfen. Wir werden Sie sofort auf Alimta setzen. Das ist ein sehr wirksames Medikament. Wir werden alle Register ziehen. Wir haben die Absicht, gegen diese Sache aggressiv vorzugehen.« Aggressiv war ein Wort, das die Zunft gern auf den Krebs selbst bezog, und die Wahl desselben Adjektivs in Bezug auf die Gegenmaßnahme beschwor wieder einmal einen Kampf herauf – einen Kampf gegen das Wetter. Gegen einen Schneesturm, eine Sturmbö.