Ausblick: Bücherscannen und Flatrate-Lesen

Mein eigener Lesemaschinenpark läuft keineswegs rund, E-Books sind bislang alles andere als perfekt. Viele E-Books kommen nicht mit Fußnoten klar, die kleinen Zahlen zerschießen den Zeilenfall. Auch Worttrennungen werden oft an beliebiger Stelle vorgenommen. Hin und wieder kaufe ich ein Buch, das sich als Betrug herausstellt: zusammenkopierte Satzfetzen aus der Wikipedia. Dann tausche ich es um. Vielleicht brauchen wir bald so etwas wie Virenschutzprogramme gegen Spambücher. Und gelegentlich schaltet sich mein Lesegerät einfach so ab, um übers Funknetz ein Update herunterzuladen oder es hängt sich grundlos auf. Dann starre ich ein paar Minuten lang auf den eingefrorenen Bildschirm und denke über das Gelesene nach, bis sich das Gerät wieder fängt. Eine Art meditative Zwangspause.

Manchmal stehe ich vor meinen Regalen mit den alten Büchern, ziehe einen Band heraus und denke mir: Das Werk würde ich gern auch in der Hosentasche dabei haben. Viele Bücher habe ich mir deshalb inzwischen noch einmal als digitale Ausgabe gekauft. Die Autoren und Verlage verdienen so doppelt an mir, teils sogar dreifach, weil ich beim Joggen gerne Hörbücher höre, für die ich dann noch einmal extra zahle.

Leider ist aber bislang nur ein kleiner Teil aller Bücher elektronisch verfügbar. Auch dafür gibt es eine Lösung. Neuerdings bestelle ich manchmal Bücher, die es nur auf Papier gibt, und lasse sie nach Kalifornien schicken, zum Dienstleister 1dollarscan.com. Dort hackt eine Art Guillotine den Buchrücken ab, dann rauschen die Seiten automatisch durch einen Scanner; pro 100 Seiten kostet der Service einen Dollar. Zwei Wochen nach der Bestellung kann ich das digitale Buch auf mein Lesegerät laden. Die Qualität ist ähnlich miserabel wie bei einem handgemachten Mixtape, aber ich fühle mich wie ein Pionier. Eigentlich habe ich damit den Job des Verlags erledigt, dem ich gern zehn Euro für ein E-Book bezahlt hätte. Wieso will er mein Geld nicht?

Bücher brechen auf und verflüssigen sich, und auch die Besitzverhältnisse geraten ins Fließen. Meine E-Books gehören mir nie ganz. Diese Erfahrung machten Kindle-Kunden schon vor ein paar Jahren, als ihnen Bücher wegen eines Lizenzstreits mit dem Rechteinhaber einfach so vom Lesegerät gelöscht wurden – darunter auch „1984“, George Orwells dystopischer Roman über den totalen Überwachungsstaat.

Diese Entrechtung ist ein Ärgernis. Ich darf zahlen, bin aber nicht Besitzer, sondern nur geduldeter Gast in meiner eigenen Bibliothek. Das ist die Kehrseite der befreienden Besitzlosigkeit. „Aus dem Streben nach Eigentum wird ein Streben nach Zugang, nach Zugriff auf das, was diese Netzwerke zu bieten haben“, schrieb der amerikanische Autor Jeremy Rifkin in seinem Buch „Access“ im Jahr 2000. Sein Buch erklärt vieles von dem, was ich mit digitalen Büchern erlebe. „Warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden“, heißt es im Untertitel. Eine seiner Thesen: „Der Kapitalismus von morgen ist eine Bühne, keine Fabrik“:

„Im Zeitalter des Zugriffs geht es nicht mehr darum, möglichst große Stückzahlen eines Produkts zu verkaufen. Die langfristige Kundenbeziehung steht im Zentrum aller unternehmerischen Bemühungen. Kunden werden in ihrem ‚Lifetime Value‘ (LTV) wahrgenommen, in dem wirtschaftlichen Potenzial ihrer ganzen Lebensspanne. Die Kontrolle über den Konsumenten ist so wichtig wie in der traditionellen Wirtschaft die Kontrolle über die Arbeitskräfte – Kundendaten werden so zu einer lebenswichtigen Ressource für Unternehmen.“

Ironie der Geschichte: Rifkins Buch ist für zwar in der deutschen Amazon-Filiale als E-Book erhältlich, nicht aber in der amerikanischen, wo ich angemeldet bin. Und bei meinem deutschen E-Book-Shop wurde es mir ja leider gesperrt, obwohl ich für die Datei 9,99 Euro bezahlt habe. Der Untertitel von Rifkins Buch beschreibt meine Situation treffend: „Vom Verschwinden des Eigentums“.

Im Netz bekomme ich die Papierausgabe von Rifkins Buch gebraucht für 1,55 Euro. Ich werde das Buch bestellen und direkt nach Kalifornien schicken lassen, zwecks Guillotinierung und digitaler Wiedergeburt.

Nicht die verkauften Stückzahlen zählen laut Rifkin in der Zugangsgesellschaft, sondern die Kundenbeziehungen. Die Melodie für dies Umdenken geben die Musikstreaming-Angebote wie Soundcloud und Spotify vor. Firmen wie Skoobe (das Wort E-Books rückwärts gelesen) versuchen, das Spotify-Modell auf den Buchmarkt zu übertragen. Sie bieten gegen eine Pauschale Zugriff auf eine Liste von E-Books. Die Auswahl war zumindest Anfang 2012 noch bescheiden und deckte nicht einmal die Bestsellerlisten ab. Das Herunterladen ist je nach Angebot auf drei, fünf oder fünfzehn Bücher gleichzeitig beschränkt, Unterstreichungen können nicht gespeichert werden. Das Buch wird flüchtig wie eine Theaterperformance, zurück bleibt nur die Erinnerung.

Das Flatrate-Lesen erinnert ein wenig an die Funktion von Bibliotheken. Die New York Public Library zum Beispiel verleiht pro Jahr über eine halbe Millionen E-Books über das System „OverDrive“. Zeitweise weigerten sich einzelne Verlagshäuser wie Simon & Schuster oder Penguin, ihre E-Books von Bibliotheken verleihen zu lassen.

Das ist verständlich – aber ist es auch gesellschaftlich akzeptabel? Man stelle sich vor, ein Verlag würde Bibliotheken verbieten wollen, die von ihnen rechtmäßig gekauften Papierbücher zu verleihen. In der digitalen Welt kommt er damit durch. Noch. Vielleicht auch deshalb, weil einige Zellulose-Nostalgiker gegen das E-Book per se polemisieren, anstatt die Details ins Auge zu fassen. Und sich, wo es notwendig erscheint, für eine Verbesserung einzusetzen.