E-Books als moralische Instanz: Mit der Spielkonsole zur Schriftlichkeit.

Gern benutzen E-Book-Kritiker eine Haltung der moralischen Entrüstung über einen Werteverfall: „Wenn man ein E-Book herunter lädt, lohnt es sich, einen Augenblick innezuhalten und sich zu überlegen, wofür man sich da entscheidet und was diese Entscheidung bedeutet“, schrieb die Schriftstellerin Nicole Krauss in der „Faz“.

Hier lohnt sich ein kleiner Exkurs. Ja, überlegen wir doch wirklich einmal, was diese Entscheidung bedeutet – außer einem Verrat an den Umsätzen des stationären Buchhandels.

Für Blinde, Sehbehinderte und Legastheniker zum Beispiel bedeuten E-Books vor allem eine große Hoffnung, intensiver an der Buchkultur teilzuhaben. Mit Papierbüchern können sie wenig anfangen, digitale Formate wie „Daisy“ dagegen ermöglichen die unterschiedlichsten Ausgabeformen, von Braille-Lesegeräten bis zum automatischen Vorlesen („Digital Talking Books“). Selten verlieren Buch-Nostalgiker über das barrierefreie Lesen ein Wort.

Für einige Gehörlose könnte die Digitalisierung sogar erst ermöglichen, so etwas wie eine eigene Schriftlichkeit zu entwickeln. Diese Entwicklung geht zwar weit über das herkömmliche E-Book hinaus. Aber genau darum lohnt sich ein kleiner Ausflug in diesen eher entlegenen Arm der Gutenberg-Galaxis.

Wenn das Gespräch beginnt, kehrt Stille ein. So lebhaft sie auch plaudern an einem Abend im Jahr 2011 in Göttingen, so ist doch kein Laut zu vernehmen. Denn die, die hier miteinander reden, hören nicht.

Zur Diskussion geladen hat Susanne König vom Institut für Deutsche Gebärdensprache der Uni Hamburg. Mit einem Team von Kollegen und einem mobilen Studio reist sie kreuz und quer durchs Land, um ein kaum kartiertes Terrain zu vermessen: die Sprache der Gehörlosen.

Die Diskutanten haben die Welt um sich vergessen: das mobile Videostudio, die drei Computermonitore, die Scheinwerfer, die fünf Kameras, hochauflösend und in 3-D. Hinter dem blau ausgekleideten Verschlag sitzt ein Techniker und überwacht den Gestenschwall, der dann auf Festplatten kopiert und nach Hamburg geschafft wird – ein weiterer Baustein für ein Gebärdensprach-Wörterbuch der Zukunft namens „DGS-Korpus“.

Während König spricht, macht sie parallel die passenden Gebärden, das hat sie sich angewöhnt, seit sie mit einem Gehörlosen verheiratet ist. Wenn sie sich vorstellt, tut sie so, als setze sie sich eine Krone auf: das Zeichen für „König“. Leicht ist das lautbegleitende Gebärden nicht, denn die Deutsche Gebärdensprache (DGS) gehorcht einem anderen Satzbau als das gesprochene Deutsch. Vor allem aber kennt sie keine Schriftform; sie lässt sich weder mit Notizblock noch mit Mikrofon festhalten. Das macht das Projekt so aufwendig.

Um Gestencomputer zu füttern, müssen zunächst Daten erhoben werden. Aus den Gebärden, die sie den Informanten von den Händen ablesen, wollen König und ihre Kollegen einen Grundwortschatz von 6 000 Einträgen destillieren. Das klingt bescheiden, verglichen mit den rund 135 000 Einträgen des Duden. Und doch ist die Herausforderung immens. Denn weil sie nirgends schriftlich festgehalten ist, mutiert die Gebärdensprache schnell und bunt. Über 130 Gebärdensprachen weltweit sind bekannt, selbst Kleinstädte pflegten eigene Dialekte, sagt König. Für das Wort „Garten“ etwa gebe es allein in Deutschland mindestens 20 Gebärden: Im Osten harke man ein Beet, in Bayern lege man Samen in eine Furche, in Berlin streife ein Finger mehrmals die Nasenspitze – warum auch immer.

Oder der Name der Kanzlerin: Zwar wird er im Politikkanal Phoenix brav mit zwei Fingern an der Stirn gebärdet, der Geste für „merken“. Doch inoffiziell hat sich der mit der Hand heruntergezogene Mundwinkel durchgesetzt: Frau Flunsch. Altbundeskanzler Schröder kommt allerdings nicht besser weg. Sein Gebärdenname besteht aus einer kippelnden Handfläche: Herr Wankelmut.

Rund 80 000 Gehörlose leben in Deutschland, das ist etwa jeder tausendste Bürger. Sie leben übers ganze Land verstreut, viele haben sich daher mit Familie und Freunden ein eigenes Vokabular zusammengebastelt. Um eine möglichst große Fülle der unkartierten Gesten zu erfassen, tingelte König im um das Jahr 2011 herum mit ihrer stummen Talkshow durch insgesamt zwölf deutsche Städte, von Rostock bis München. Parallel laufen ähnliche Projekte in anderen Ländern, um Vergleiche zu ermöglichen. Die Videomitschnitte sind dabei nur der Startschuss für einen akademischen Marathon. Denn anschließend müssen Linguisten jeden kleinsten Fingerzeig am Rechner ins „Hamburger Notationssystem“ übertragen. Pro Minute Video fallen über 300 Minuten Auswertungszeit an.

Wenn alles nach Plan läuft, ist der DGS-Korpus im Jahr 2023 fertig. „15 Jahre für ein Wörterbuch, das ist eigentlich nicht viel“, meint König: „Das Projekt der Gebrüder Grimm hat über hundert Jahre gebraucht.“ In Göttingen hatten Jacob und Wilhelm Grimm die Grundüberlegungen für das „Deutsche Wörterbuch“ entwickelt, das die zersplitterte Kulturnation einen sollte. Bald fühlten sie sich geradezu „eingeschneit“ von der „masse der aus allen ecken und ritzen andringenden Wörter“.

Das Gebärden-Wörterbuch ist die Fortsetzung der Grimmschen Märchen-Sammlung mit anderen Mitteln, wieder so eine Buchmaschine, wie sie Frédéric Kaplan beschreibt. Das vielleicht komplexeste E-Book der Welt fühlt sich an wie ein Computergame. Es funktioniert mit der Spielkonsolensteuerung „Kinect“ von Microsoft, einem Raumsensor, der die Steuerung mit Körperbewegungen ermöglicht.

Ich stelle mich im Hamburger Institut für Gebärdensprache vor den Computer. Der Kinect-Sensor verfolgt meine Bewegungen, die ich mir vorher habe erklären lassen. Ich forme mit den Händen eine kleine Brücke vor der Brust. Das System versteht: „Brücke“ steht auf dem Monitor, dazu macht ein kleiner bunter Avatar die Gebärdensprach-Geste nach, wieder und wieder. Das sieht etwas albern und unbeholfen aus. Aber Gestencomputer könnten für Gehörlose so folgenreich sein wie die Einführung des phonetischen Alphabets für die Hörenden vor über 3 000 Jahren.

Noch ist das System ein Prototyp, es beherrscht nur wenige Wörter. Ziel ist ein Aufschreibsystem für Gebärden: interaktiv und vierdimensional, eine „Schrift“ in Raum und Zeit. Nie waren die Lettern so beweglich wie im interaktiven Gesten-Buch. Gutenberg und Otlet wären hellauf begeistert.