Soziologie der E-Bibliophilie

Elektronisches Lesen bedeutet eine Neubewertung vieler kultureller Werte. Im Sommer 2012 feierte eine Freundin ihren Geburtstag. Sie ist Dozentin für Germanistik, von Freunden bekam sie einen Kindle geschenkt.

„Was, du hast das neue Kindlers bekommen?“, fragte eine Freundin, die eine anwesende Germanistikprofessorin. Sie dachte spontan an das gute alte Kindlers-Literaturlexikon in 18 Bänden.

Viele Meister in der Kulturtechnik des Lesens fühlen sich plötzlich wie ABC-Schützen, die mühsam die neuen Formate und Geräte lernen: ePub, mobi, Kobo, Kindle. Das Buch war auch immer ein soziologisches Distinktionsmerkmal. Vielleicht ist es das, was das Thema der E-Books zusätzlich emotional auflädt.

Michael Rutschky erzählte dazu anlässlich seines Rocketbook-Tests im Jahr 2000 diese Anekdote:

„Ich habe mal eine Studentin der Literaturwissenschaft kennengelernt, der – wie das früher vom Kirchenglauben immer wieder berichtet worden ist – der Glaube an die Kunst- und Bildungsreligion einfach verloren ging. Artig in das Lesen anhand von Hermann Hesse und anderen Heiligen sozialisiert, überfiel sie plötzlich ätzende Skepsis angesichts dieser Sakramente und Reliquien. Eine Bibliothek zu benutzen wurde ihr so unheimlich, fast ekelhaft, wie einem Agnostiker der Besuch einer Kirche, womöglich eines Gottesdienstes. Was soll dieser aufgespreizte nackte Mann da an dem Balken?

Die Studentin ist nicht von der Literaturwissenschaft abgefallen und etwa zur Physik konvertiert: über PC und Internet konnte sie Fühlung zur Welt der Texte behalten; bloß recherchierte sie halt dort und nicht mehr in der Staatsbibliothek. Diese Textwelt hat die sakralen und bourgeoisen Ausdruckscharaktere abgestreift, wie sie am Hardbook unlöslich haften“.

Aber es sei doch so spannend, bei einer Party in die Buchregale von Freunden anzusehen, sagen Freunde oft. Auch ich liebe es, die Buchrücken in den Regalen anderer Leute zu lesen wie einen Teil von deren Biografie. Doch diese schöne Tradition wird im Zeitalter von E-Books nicht obsolet, sondern nimmt im Gegenteil globale Ausmaße an. Die Schrankwand als Monument der eigenen Belesenheit kann man erst im Netz zur Perfektion treiben.

Manchmal erwische ich mich dabei, dass ich intellektuell wirkende Zitate unterstreichen will, um damit anzugeben. Schließlich kann jeder sie nachlesen, wenn ich sie ins Netz lade. Der einst intime Akt des Lesens kann so zur Ego-Performance werden. Ich sitze zu Hause auf dem Sofa und spüre dies leichte Kribbeln im Nacken, als würde mir ein Publikum über die Schulter schauen. „Früher haben wir Bücher gelesen“, sagt Stephan Porombka: „Heute lesen die Bücher auch uns.“ Vielleicht ändere ich bald meine Privatsphäre-Einstellungen, und lasse nur noch ausgewählte Freunde durch meine virtuellen Bücherregale stöbern.