Lesen im Schwarm

Auch Erin Kissane schwärmt für Bücher. An einem Abend im Herbst 2011 treffe ich sie in „Great Harry’s“ Bar in Brooklyn, New York. Eine elegante, rothaarige Frau, Mitte dreißig, sie hat Literatur studiert, berät Verlage. Gerade kommt sie von einer Lesung. Auf ihrem iPad hat sie immer einen Teil ihrer Bibliothek dabei. Auch das Lesen verflüssigt sich.

In der Bar trifft sich der Buchclub von Erin Kissane, auch die anderen haben nur Handys und Tablets dabei, darauf ihre elektronischen Bücher.

Erin Kissane sagt, dass sie Bücher aus Papier liebt. Aber für ihren Lesezirkel eignen die sich einfach nicht so gut. Man kann Zitate und Anmerkungen nicht einfach mit anderen teilen. „Der Text ist ein Gefangener des Papiers“, sagt sie.

Wenn man so will, ist Erin Kissane Teil einer Befreiungsbewegung, die sich zum Ziel gesetzt hat, dieser Gefangenschaft ein Ende zu setzen. Sie zählt zu einer neuen Generation von Buch-Nerds, die schwärmen vom Lesen im Schwarm.

Die Leute im Buchclub im „Great Harry’s“ kennen sich schon lange, doch persönlich sehen sich viele heute zum ersten Mal. Ihr Lesezirkel trifft sich nicht nur einmal im Monat, sondern rund um die Uhr. Es ist kein kleiner Club, sondern ein riesiges Netzwerk, bei dem sich inzwischen zehntausend Leser angemeldet haben, sie leben in den USA, aber auch in Europa oder Asien.

Das Netzwerk heißt Readmill, es ist eine Art Facebook für Buchfreunde, ein „Social Reading“-Portal. Wenn Erin Kissane ein Buch liest, lädt sie Textstellen und Kommentare auf ihre Readmill-Seite. Sie hat mehr als 700 Follower, Leute also, die sehen wollen, was Erin Kissane gerade liest und was sie von den Büchern hält.

Auch Amazon bietet rudimentäre Funktionen für soziales Lesen – bloß wissen davon nur wenige meiner Freunde. Wenn ich will, kann ich beim Lesen anzeigen lassen, was das anonyme Kollektiv aller Kindle-Leser so unterstrichen hat. Teils ist das ein zweifelhaftes Vergnügen. „Das macht soviel Spaß, wie die ausgelatschten Turnschuhe von fremden Leuten zu tragen“, bringt es mein Bruder auf den Punkt. Amazon veröffentlicht sogar eine Tabelle der am häufigsten unterstrichenen Absätze unter der Rubrik „Most Highlighted Passages of all Time“. Die Bestsellerliste der Unterstreichungen wird derzeit angeführt vom Buch „Catching Fire“ der Bestellerautorin Suzanne Collins („The Hunger Games“). Dies ist der meistunterstrichene Satz im Februar 2013: „Because sometimes things happen to people and they’re not equipped to deal with them“ – Manchmal passieren Dinge, mit denen Leute nicht umgehen können.

Noch scheint diese Weisheit auch auf die Praxis des sozialen Lesens zuzutreffen. Die meisten Portale sind noch rudimentär, halbfertig, und es fehlen die Nutzer. Ein bisschen fühlt es sich an wie das Web anno 1995. Aber das Potential ist gewaltig. Denkbar wäre eine neuartige Form der Marginalienforschung, die Erkundung von Leserreaktionen auf Texte. Was in einem Buch steht, ist das eine, was die Leser für sich daraus ziehen, steht auf einem anderen Blatt. Bislang waren Anstreichungen und Kommentare schwer auffindbar verstreut. Die Suche nach dem „impliziten Leser“ war für Denker wie Umberto Eco und Wolfgang Iser eher ein theoretische Denkansatz als ein praktisches Forschungsfeld. Nun könnten sich die digitalen Marginalien theoretisch in nie dagewesenem Umfang erschließen lassen für einen Blick in die Köpfe und Herzen der Leser. Ob das sich allerdings mit dem Datenschutz vereinbaren ließe?

Kissane jedenfalls sieht sich bei ihrer Marginalienforschung immer wieder behindert: „Amazon und viele andere beschränken künstlich das, was man mit elektronischen Büchern machen kann“, sagt sie. Sie sieht die Zukunft der E-Books im Format HTML5, mit dem auch viele Websites formatiert sind. „Books in Browsers“ heißt dieser Trend, zu dem es sogar schon eine eigene Konferenz gibt.